Archiv Werden: Das Projekt „re.act.feminism“ als Demonstration eines Zugangs zu Performance-Geschichte
Barbara Büscher (Leipzig / Köln)
Von Dezember 2008 bis Februar 2009 fand in der Akademie der Künste Berlin die Ausstellung re.act-feminism – performancekunst der 1960er und 70er jahre heute[1]statt, womit der Zugang zu einem Videoarchiv sowie Live-Performances und einer Tagung verbunden war. Das Videoarchiv wurde anschließend in Ljubljana während des International Festival of Contemporary Arts, City of Women (März 2009) präsentiert und im Kunsthaus Erfurt (April – Mai 2009) gezeigt.[2] Die Fortsetzung als re.act.feminism#2 – a performing archive[3] fand vom Oktober 2011 bis September 2013 statt und umfasste temporäre Präsentationen in Vitoria Gasteiz, Spanien (Oktober 2011 – Januar 2012), Gdańsk, Polen (März – April 2012), Zagreb, Kroatien (Mai 2012), Roskilde, Dänemark (Juni – August 2012), Tallinn, Estland (August – September 2012), Barcelona, Spanien (November 2012 – Februar 2013) und als Abschluss in Berlin, wiederum in der Akademie der Künste (Juni – August 2013).[4]
Das Projekt re.act.feminism, von den Berliner Kuratorinnen Bettina Knaup und Beatrice E. Stammer initiiert, konzipiert und realisiert, hat über fünf Jahre in ausgreifender Weise erkundet, wie ein Anfang zu einem thematisch fokussierten Zugang zur Geschichte von Performance-Kunst gesetzt werden kann. Der thematische Fokus wie die Adressierung basieren auf einem aktuellen, neu konturierten Interesse an der Geschichte feministischer Positionen in der Kunst seit den 1960er Jahren.[5] Die Kopplung der Formate Ausstellung, Sammlung, kontextualisierende, diskursive Veranstaltungen sowie Online-Präsentation erlaubte es, eine Reihe von Zugangsmöglichkeiten für unterschiedliche Nutzer_innenkreise durchzuspielen. Als kuratorisches Projekt zielte es auf die temporäre Präsentation einer Sammlung von Artefakten/Dokumenten aus der Geschichte und aktuellen Praxis genderorientierter Performance im Kunstkontext. Es verstand sich auch, aber nicht in erster Linie, als Grundlage für ein künftiges Archiv von/für Performance-Kunst. Die Entscheidungen der Initiatorinnen sind einerseits in diesem Rahmen zu verstehen. Die genaue Beobachtung und Untersuchung der Bedingungen, Arbeitsweisen und Präsentationsformen ermöglichte uns andererseits die impliziten Setzungen des Projektes für Zugang und Nutzung der Sammlung als Modellfragen für die Konzeption eines Archivs herauszuarbeiten. Da sich die kuratorische Konzeptionierung des Projektes nicht auf eine bestehende Sammlung, die bereits geordnet und katalogisiert wäre, stützen konnte, können die Recherchen der Kuratorinnen zugleich als Vorarbeiten zu einem Prozess des nachhaltigen Sammelns verstanden werden.
Die Setzungen sollen im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden, wobei Fragen nach dem ‚Archiv Werden‘, nach dem Sammeln von (medialen) Artefakten und Spuren vergangener Aufführungen und dem Zugang zu ihnen in verschiedenen Präsentationsformen im Zentrum stehen werden.[6]
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Sammeln und Auswählen > Kuratieren
Re.act.feminism reiht sich einerseits in eine Folge von Ausstellungen ein, die sich mit performativen Kunstäußerungen beschäftigen oder sie ins Museum holen (Büscher 2009; Büscher 2013). Sie haben die wichtige Rolle von Kurator_innen und Szenograf_innen für den Zugang zur Performance-Geschichte deutlich werden lassen, die z.B. Lesarten von Dokumenten/ Zeugnissen und Spuren vergangener Ereignisse im Raum inszenieren.
Der erste Teil des Projektes, re.act-feminism – performancekunst der 1960er und 70er jahre heute, war zunächst allein als Ausstellung geplant, die feministische Positionen als Beitrag zu ‚40 Jahre 68’ präsentieren sollte. In der Vorbereitung erwies sich, so die Kuratorinnen im Gespräch[7], dass Archivprozesse zum Thema wurden. Performance-Geschichte lässt sich nur durch die Recherche in privaten Sammlungen erschließen, so ihre Erfahrung. Die Ausstellung wurde durch ein 'Videoarchiv' ergänzt, das die Ergebnisse der kuratorischen Recherchen in größerem Umfang zugänglich machte. Zahlreiche Künstlerinnen der Generation, die in die Bewegungen um 1968 involviert waren, fragen sich aktuell, wo – an welchem Ort, vom wem betrieben und wie aufbewahrt – ihr Œuvre künftig zugänglich sein wird.[8] Dies wurde im Kontext der Ausstellung nicht ausdrücklich thematisiert, aber von den Initiatorinnen im Gespräch als Motivation für die Fortführung des Projektes als a performing archive genannt. Re.act.feminism # 2 bezog nicht nur ein erweitertes Spektrum von Künstlerinnen ein, sondern mobilisierte auch regionale Kompetenzen, indem an den Ausstellungsorten jeweils weitere künstlerische Positionen kuratiert und dann in das Archiv aufgenommen wurden.
Das Curatorial Statement der beiden Kuratorinnen, als konzeptionelle Basis von re.act.feminism #2 veröffentlicht, formuliert einige grundlegende Aspekte des Projektes:
(…)
Although performance is currently in high demand, this feminist, gendercritical practice of performance, which set the tone for this medium from the beginning, has seldom been subject to thorough scrutiny. Also, a change of perspective from Western normativity to a paradigm of transcultural exchange of artistic practices is just at the beginning.
In the context of the current trends of institutionalising performance art, our goals are therefore the following:
>> To investigate feminist, gendercritical and queer strategies within performance art by taking a thematic and cross-generational approach and making this visible across geo-political borders.
>> To go beyond current strategies of canonisation and stress the diversity of performative strategies and practices and correcting blind spots.
>> To create a critical and thematic cartography (in place of a chronology) to promote a transcultural and cross-generational dialogue and an exchange of artistic strategies.
>> To highlight the complex relationship between live performances, their traces and documents, and their reception.
This project is based on the idea of a living archive. We do not stress the artefacts and documents as such, and we do not focus on the archival function of preserving and conserving which, as Derrida once said, might put documents “under house arrest”. On the contrary, we emphasize their use, re-use, appropriation and reinterpretation.[9]
Das Statement begründet die thematische Fokussierung u.a. mit der besonderen Bedeutung und großen Reichweite der feministischen und genderkritischen Praktiken innerhalb der Performance-Kunst wie auch mit den gerade dort erscheinenden Positionen, die Trennung zwischen privat und öffentlich zu befragen[10] oder Körperpolitik ins Zentrum zu stellen. Diese thematische Setzung ist zugleich eine politische Akzentuierung, die die präsentierten Künstlerinnen im kulturellen Gedächtnis verankern und gleichzeitig ihre Arbeiten, ihre Haltungen neuen Fragestellungen öffnen möchte.
Das Statement spricht eine Reihe von in den vergangenen Jahren bereits im Diskurs um die Archivierung und Geschichtsschreibung von Performance (-Kunst) aufgeworfenen Fragen an.
Es verweist u.a. auf die Kritik an verschiedenen Strategien der Auswahl und Kanonisierung.
Mit den Stichworten „cross-generational“ und „transcultural / across geo-political borders“ und dem Anspruch „to correct blind spots“ haben die Kuratorinnen allgemeine Prinzipien ihrer Auswahl benannt. Die Arbeiten verschiedener Generationen in einen Dialog zu bringen wird wiederholt erwähnt und ist Bestandteil der Idee des 'Living Archive'. Eine Zusammenstellung allein historischer Positionen, wie Knaup/Stammer für die Ausstellung Wack! Art and the Feminist Revolution (zuerst: Los Angeles 2007)[11] im o.g. Gespräch kritisch konstatierten, verhindert es, die Durchlässigkeit zu aktuellen Fragestellungen und die chronologischen Verschiebungen für unterschiedliche regionale Kontexte sichtbar zu machen.
Dass die Kuratorinnen in der Darstellung ihres Archivs bzw. der Sammlung auf einen chronologischen Zugang überhaupt verzichteten und stattdessen auf eine kritische und thematisch orientierte Kartographie verweisen, referiert implizit auf eine Diskussion, die im Kontext der Ausstellung Wack! Art and The Feminist Revolution von Marsha Meskimmon eröffnet wurde. Sie zeigte in ihrem Katalogtext an verschiedenen Beispielen, dass die Chronologie den dominanten Diskurs innerhalb der feministischen Geschichtsschreibung u.a. in Hinblick auf die Zentren der Bewegung fortschreibt und bestehende Marginalisierungen auf der Basis regionaler Unterschiede nicht in den Blick nehmen, Differenzen nicht sichtbar machen kann (Meskimmon 2007).
Für die Auswahl zu re.act.feminism #1 wird neben dem Generationendialog eine Erweiterung des Repertoires um bis dato im internationalen Ausstellungskontext kaum wahrgenommene Entwicklungen in Ost / Südosteuropa und der DDR genannt.[12] Sie entspricht einem bewussten Umgang mit dem eigenen Standort (Berlin) und ist ein in der langjährigen Tätigkeit der Kuratorin Beatrice E. Stammer[13] fundierter Zugang, der u.a. in der parallel zu diesem Projekt ebenfalls mit Bettina Knaup und anderen kuratierten Ausstellung und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR (2009, Künstlerhaus Bethanien Berlin)[14] seinen Niederschlag fand.
Als Aspekt der sehr viel umfangreicheren Auswahl für re.act.feminism # 2 werden ebenfalls regionale Erweiterungen genannt, nun im Begriff transkulturell adressiert, die darauf zielen, die Ränder der bisherigen Geschichtsschreibung in gleicher Weise zu präsentieren wie die vermeintlichen Zentren und damit auch eine transnationale Zusammenschau zu ermöglichen. Die Recherche wurde auf Entwicklungen in Lateinamerika sowie im Mittelmeerraum und dem Nahen Osten ausgedehnt. Mit ihr wurden zwei Expertinnen beauftragt, Eleonora Fabião und Kathrin Becker, die ihre Erfahrungen im Rechercheprozess und mit der Unzulänglichkeit der aus der dominanten westlichen Geschichtsschreibung entwickelten Ausgangsfragen und Chronologien im Nachhinein beschrieben und analysiert haben (Fabião 2014; Becker 2014).
Auch wenn die Auswahl im Einzelnen von den Kuratorinnen nicht kommentiert wurde und gelegentlich pragmatischen Gründen der Zugänglichkeit von Film/Foto/Videomaterial und der Finanzierbarkeit geschuldet sein dürfte, wurde diese Öffnung des Repertoires zu einer ganz wesentlichen Setzung von re.act.feminism #2, für die allerdings im Archiv selbst jeweils eine Kontextualisierung in zeitlicher und kulturell-gesellschaftlicher Hinsicht hilfreich gewesen wäre.
Jede Auswahl trägt zur Kanonbildung bei und kann zwar blinde Flecken der bisherigen kuratorischen Arbeiten korrigieren, wird aber jedenfalls neue produzieren. „To go beyond current strategies of canonisation“ wäre also in Hinblick auf den existierenden Kanon, von dem man sich absetzt, ihn erweitern oder seine Kriterien verschieben will, zu präzisieren.[15] Als Frage an die Auswahlverfahren bleibt, wie transparent und fundiert sie für nachfolgende Arbeiten mit dem Material beschrieben werden.
Das Statement setzt den Begriff des 'Living Archive' zentral, der auch in anderen, parallel stattfindenden Projekten aufgegriffen wird[16] und betont so statt der konservatorischen Aspekte eines möglichen Archivs die immer wieder neu ansetzende Aneignung. Man könnte ihn als Kritik an archivalischer Logik des Bewahrens und institutionellen Verwaltens verstehen – wie es Danbolt in seinen Überlegungen tut (Danbolt 2014: 102 f.; 242f.) –, die aber gleichzeitig mit der Glaubwürdigkeit und Evidenz operiert, wie sie die Autorität des Archiv verspricht. Das trifft insgesamt auf die Bedeutungsverschiebung zu, der der Begriff des Archivs in den letzten Jahrzehnten im kunst- und kulturwissenschaftlichen wie künstlerischen Kontext unterzogen wurde. Dass 'living' als Signalwort für aktuelle Aneignungsformen verstanden und benutzt wird, wird auch in anderen Bereichen deutlich, z.B. dem der 'Living History', die als zwischen populären Vermittlungsformen und wissenschaftlicher Methode konturiertes Feld beschrieben worden ist.[17] Auch eine archivarisch im klassischen Sinne aktive Institution wie die New York Public Library hat jüngst ein Living Archive zu John Cage online präsentiert[18] und dabei den Zugang zu Quellenmaterial verknüpft mit dem zu Videos/Filmen von Aufführungen mit/zu Cages Kompositionen und – die Möglichkeiten des Internet nutzend – der Aufforderung an den/die Benutzer_in, eigene Videos hochzuladen. Auf diese Weise kann das 'Living Archive' andauernd weiter wachsen – ein Aspekt, der auch für das Projekt re.act.feminism #2 wichtig war.
Im Sammeln, Auswählen und (An)Ordnen liegen verwandte Tätigkeiten[19] zwischen der heutigen Arbeit des Kurators wie der des Archivars. Gesellschaftliche Bedeutungsproduktion wird als zentraler Aspekt eines neuen Verständnisses von 'Curating' (siehe z.B. von Bismarck 2006; O'Neill 2012) beschrieben und auf seine Voraussetzungen hin diskutiert. Die Parallele zur Archivarbeit findet man darin, dass Aufbereitung und Bewertung der Archivalien als Quellen die Basis für eine Bedeutung produzierende Geschichtsschreibung ist.[20]
Begriffliche Unschärfen
Wenn ich in diesem Kontext von 'Archiv' spreche, so habe ich zunächst den Gebrauch dieses Begriffes, wie ihn die Kuratorinnen und Veranstalterinnen innerhalb des Projektes etabliert haben, übernommen. Er entspricht in Vielem dem Gebrauch, der sich in den Kunst- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren durchgesetzt hat, unterscheidet sich allerdings gravierend von Begriff und Bedeutung wie ihn Archivkunde oder -wissenschaft definiert. Die exakte Trennung zwischen Dokumentieren, Sammeln und Archivieren, die für diese konstitutiv ist, hat sich in der archivarischen Praxis aufgelöst; die Tätigkeiten überlappen sich, was nicht zuletzt durch die Entwicklung technischer Medien und der Digitalisierung befördert wurde. Schenk hat neuerlich darauf hingewiesen, dass die im Sinne der Archivwissenschaft zunächst als metaphorisch gesehene Verwendung des Begriffs Archiv sich inzwischen zu Modellen verdichtet hat, die auf diesen zurückwirken (Schenk 2013: 46-52). Nicht mehr die Formen archivischer Ordnung sind bestimmend, sondern die Aufgabe der Überlieferungsbildung, die Interventionen des Archivars (z.B. ergänzende Sammlung und Recherchen) einschließen (Schenk 2013: 215). Im Anschluss an den Versuch, eine auf diesen neueren Entwicklungen basierende Morphologie der historischen Archive zu formulieren, bringt Schenk den Begriff der 'Gegenüberlieferung' ins Spiel, der auf seine Sinnfälligkeit z.B. für den hier untersuchten Bereich zu diskutieren ist. Er schreibt:
Daran lassen sich einige Fragen, die in Zusammenhang mit dem hier untersuchten Projekt extrapoliert werden können, anschließen.
Wenn Archivprozesse (dieser Begriff möge die Erweiterung in der Praxis aufgreifen und gleichzeitig den Prozess ins Zentrum stellen) das Ziel haben, den Zugang zu vergangenen Ereignissen und Handlungen zu erhalten, offenzuhalten, zu bewahren, dann berührt die kuratorische Idee des Projektes re.act.feminism dieses Ziel. Es unterscheidet sich aber wesentlich von Archivprozessen durch die Tatsache, dass es sich weder auf die Ablage einer Institution bzw. deren Sammlung beziehen konnte noch auf Künstler_innenarchive, also solche, die das Handeln einer Person im Zusammenhang dokumentieren.[21]
Sowohl im ersten Teil – dem Videoarchiv, das die Ausstellung begleitete – wie im zweiten Teil – der temporären Installation mit wechselnden Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm – ist dieses 'Archiv' eine temporäre, für den Projektzweck zusammengestellte Sammlung von Artefakten, im wesentlichen Videos und Filme auf DVD, die alphabetisch nach den Namen der Künstlerinnen geordnet für die Vor-Ort-Sichtung der Nutzer_innen zugänglich gemacht worden ist.
Es unterscheidet sich also in mindestens drei wesentlichen Faktoren von dem, was man auch in der erweiterten Bedeutung, die oben angeführt wurde, als Archiv verstehen könnte:
Und auch dies sei hier angeführt: Für den Begriff des Artefaktes (im Unterschied und in Erweiterung zu ‚Dokument’) haben wir uns nicht nur entschieden, weil er den Aspekt des Hergestellten, Konstruierten sichtbar macht, sondern auch, da er im von uns gebrauchten Sinne in dreifacher Weise den Charakter des Versammelten/Gesammelten offenlässt: in Hinblick auf die funktionale Relation zwischen Ereignis und Artefakt, in Hinblick auf deren mediale Verfasstheit und bezüglich ihres auktorialen Status. Artefakte sind sowohl unterschiedliche Formate medialer Transformationen, verschiedene Zeugnisse von Aufführungen/Ereignissen und deren Herstellungsprozessen wie auch Objekte/Dinge, die als Relikte der Ereignisse bewahrt worden sind.[22]
Die anwachsende, sich verändernde Sammlung: Artefakte, An/Ordnung, Zugänge
Im Folgenden werden beide 'Archiv'-Typen, mit denen das Projekt gearbeitet hat, das kleinere 'Videoarchiv' im Kontext der Ausstellung und das größere, das als mobile Installation durch Europa tourte, unter den genannten Aspekten im Zusammenhang vorgestellt.
Das 'Videoarchiv' war in diesem Fall Bestandteil der Ausstellung und räumlich in diese integriert. Neben der alphabetisch nach Künstler_innennamen geordneten Sammlung, die frei zugänglich war, bot es an einem langen Tisch individuelle Sichtungsplätze, die stark frequentiert wurden, so dass es häufiger zu Wartelisten kam. Die Sammlung von verschiedenen Video- und Filmformaten in Form von DVDs – in ihrer Unterschiedlichkeit im obigen Zitat markiert – umfasste Arbeiten von 59 Künstlerinnen, von denen 23 auch in der Ausstellung präsent waren, allerdings mit jeweils anderen Arbeiten[24] als im Archiv vertreten waren.
Als Katalog im Nachhinein fungiert heute noch die Website von re.act.feminism #1. Unter dem Stichwort ‚Videoarchiv‘ findet man dort die Liste der im Archiv vertretenen Künstlerinnen[25]. Zu jeder Künstlerin existiert eine Unterseite mit Informationen zur Person, zu den im 'Archiv' enthaltenen und zu den ausgestellten bzw. live im Rahmen des Ausstellungsprogramms vorgeführten Arbeiten. Entsprechend der Bezeichnung 'Videoarchiv' enthält die Sammlung ausschließlich Bewegtbildformate als Artefakte. Sie bilden auch den Kern der umfangreicheren Sammlung zu re.act.feminism #2. Ohne ausdrücklich thematisiert zu werden, unterstellen die Kuratorinnen des Projekts, dass dieses Format die größtmögliche Nähe zum vergangenen Ereignis repräsentiert.
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Die Daten zu den im Videoarchiv befindlichen Arbeiten umfassen die Angaben zum Titel, eine Jahreszahl sowie eine Angabe der Dauer.
Von 21 der insgesamt 59 Künstlerinnen enthält das Archiv mehr als eine Arbeit. Der Schwerpunkt der Auswahl folgt einer Verbindung von Personen- und Ereigniszentriertheit: zunächst wird die Liste der Künstlerinnen erstellt, um dann in vielen Fällen nur eine Arbeit, vielleicht noch durch eine zweite ergänzt, in die Sammlung aufzunehmen. Es ist so weder möglich, Entwicklungslinien sichtbar zu machen, noch die performativen Arbeiten im Verhältnis zu anderen künstlerischen Strategien der jeweiligen Künstlerinnen zu positionieren. Performances erscheinen so als Einzel-Werke, die sie nicht unbedingt sein wollten.
Die Dauer der Artefakte variiert zwischen 1 Minute und 90 Minuten (ein Feature-Film von Laura Cottingham[26]). Allein aus der Tatsache, dass es derart unterschiedliche Längen gibt, lässt sich schließen, dass es sich um unterschiedliche Formate bewegter Bilder handelt. Sie sind aber nicht näher beschrieben und spezifiziert.
Damit kann generell kein Unterschied deutlich werden zwischen solchen medialen Artefakten, die von ihren Autorinnen (Kamerafrauen, Filmerinnen, also Urheberinnen der Filme werden nicht gesondert genannt!) vor allem als Dokument/Zeugnis eines vergangenen Ereignisses hergestellt wurden, und solchen, die als eigenständige Werke wiederum im Kunstkontext zirkulieren. Das, was für die Artefakte des 'Archivs' unbeschrieben bleibt, hält zunächst diesen ihren ambivalenten Charakter offen, der ebenso für die Artefakte der Ausstellung gilt.
Der eher beiläufig von den Kuratorinnen eingeführte Begriff ‚Performance-Dokumente‘ deutet allerdings darauf hin, dass die Videos/Filme vor allem als Zeugnisse/Dokumente verstanden werden (sollen).
Das große Interesse an einem breiteren Zugang zu feministischen Positionen in der Performance-Kunst und die umfangreiche Nutzung des eher als Surplus gedachten Videoarchivs zur Ausstellung hat die Kuratorinnen Bettina Knaup und Beatrice E. Stammer motiviert, im zweiten Teil dieses Projektes mit einer erheblich erweiterten Sammlung von Artefakten, einer eigens entworfenen und gebauten Archiv-Architektur (transportable Arbeitsmöbel-Einheiten) und einem Netzwerk von Kooperationspartnerinnen, die Idee der Arbeit mit und an einem stetig wachsenden und vielfältig in seinen Nutzungsmöglichkeiten sichtbar gemachten 'Archivs' ins Zentrum zu stellen.
Anhand der Kurztitel-Liste, die in der letzten Station des mobilen 'Archivs', der Akademie der Künste Berlin im Sommer 2013 auslag, haben wir 262 mit einzelnen Siglen geführte Artefakte von 183 Künstlerinnen oder -gruppen gezählt. Es ist nicht präzise nachvollziehbar, um wie viele Positionen und Artefakte die Sammlung im Reisen erweitert wurde. Wenn man aber die auf der Website genannte Ausgangszahl von mehr als 120 künstlerischen Positionen nimmt[27], dürfte das 'Archiv' im Laufe der Reisezeit und durch Unterstützung der regional engagierten Kuratorinnen[28] um ca. ein Drittel angewachsen sein. Von den 262 einzeln geführten Artefakten sind 62 nicht Bewegtbild-Formate, d.h. entweder Fotografie(n) und/oder Texte bzw. Scores. Allerdings sind sie nicht als Ergänzung zu Filmen, Videos etc. zu verstehen und unter diesem Aspekt ausgewählt worden, sondern repräsentieren nur dann künstlerische Arbeiten, wenn keine anderen Artefakte zugänglich waren. Die unterschiedlichen Bewegtbild-Formate sind wiederum – wie bei re.act.feminism # 1 – nur in digitalisierter Form als DVD vorhanden, was zwar individuelle Sichtung in diesem Umfang erst möglich macht, aber die medialen Differenzen und historischen Konnotationen verschwinden lässt.
Die a-chronologische Sichtweise, die im weiter oben schon ausgeführten Sinne die dominanten Erzählungen über die feministischen Kunstentwicklungen unterlaufen will, spiegelt sich in der Anordnung der Artefakte im Archivraum und der dort zur Verfügung stehenden Sammlung, die allein alphabetisch nach den Namen der Künstlerinnen oder -gruppen sortiert sind. Sie spiegelt sich ebenso in der Suchfunktion auf der als Katalog fungierenden Website des Projektes, die neben der alphabetischen Ordnung eine Liste von 96 Schlagworten zur Verfügung stellt, die thematisch mit Feminismus und Gender-Theorie in Verbindung stehen. Diese Schlagworte – von „a = abstraction, activism“ bis „v= voyeurism, vulnerability“ – ermöglichen der Nutzer_in eine thematische Kartografie zu beginnen (Knaup/Stammer 2014: 11).
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Eine chronologische oder regionale Zusammenschau verschiedener künstlerischen Positionen wird nicht nahegelegt. Dass die Kuratorinnen selbst das gesammelte und zu sammelnde Material nach einer thematischen Kartografie ordneten, ohne dass dies explizit in Archiv oder Ausstellung hervortrat, wird in ihrem Curatorial Statement[29] deutlich, das die thematischen Felder benennt, nach denen sie die Arbeiten für die Ausstellung, die das Archiv am ersten Ort der Reise (Montehermoso) begleitete, aussuchten und gruppierten. Es sind ähnliche Felder[30] wie die, die die Visual Essays des Katalogbuches strukturieren (Knaup/Stammer 2014: 122-192).
Beschreibung der Artefakte und (fehlende) Kontexte
Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, dient vor allem die Website des Projektes als Katalog zur Sammlung bzw. zum mobilen 'Archiv'. Sie war über verschiedene Internet-Stationen im Raum der Archiv-Installation zugänglich. Außerdem lagen dort Handbücher aus, in denen alle Arbeiten, alphabetisch nach den Namen der Künstlerinnen oder -gruppen geordnet, kurz beschrieben waren. Da die Beschreibungen der Arbeiten auf der Website ausführlicher sind, beziehen sich die folgenden Angaben auf diese.
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Folgt man der alphabetischen Ordnung und klickt auf einen Künstlerinnen-Namen, so öffnet sich eine Unterseite, auf der alle Arbeiten dieser Künstlerin, die im 'Archiv' vertreten sind, mit einem Miniaturbild, dem Namen der Künstlerin, den der Arbeit zugeordneten Schlagworten (tags) und einer Jahreszahl angezeigt werden. Geht man nun weiter zu eine der Arbeiten, öffnet sich wiederum eine Unterseite, die alle hier zugänglichen Informationen (in englischer Sprache) zu dieser Arbeit enthält: Es erscheinen neben Titel, Künstlerin und Bild weitere Informationen zur Biografie der Künstlerinnen und zum Hintergrund der im Archiv vorhandenen Arbeit. Neben Jahr (issue date), von dem nicht eindeutig beschrieben ist, ob es sich um das Jahr der ersten Aufführung der Performance oder das Jahr der Fertigstellung des medialen Artefaktes handelt, und Art des Artefakts (document media) sind weitere Schlagworte sowie die Signatur (archive signature) angegeben, unter der die Arbeit am Ausstellungsort zu finden ist. Bei Videos/Filmen existiert zudem eine Angabe zur Dauer in Minuten. Außerdem gibt es bei einigen Arbeiten eine Angabe dazu, mit welchen anderen Arbeiten/ Künstlerinnen im 'Archiv' sie in Verbindung stehen (relations).
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Die Bilder (Stills oder Fotografien), die den Einträgen quasi als pars pro toto beigefügt sind, fungieren und funktionieren als eigenständige Aufmerksamkeitsgeneratoren.[31] Die Cover dagegen, in denen die DVDs vor Ort verwahrt werden, sind einheitlich schwarz-weiß beschriftet. Bekommt man sie ausgehändigt, hat der Auswahlprozess dessen, was man sich vor Ort anschauen will, bereits stattgefunden.
Die beschriebene Setzung durch die Anordnung der Artefakte und die Organisation der Zugänge, die mit Überlegungen zu einer thematischen Kartografie einhergeht, setzt sich fort in der Entscheidung, ein großes Spektrum künstlerischer Positionen (einzelne Künstlerinnen und -gruppen) vorzustellen und dafür auf Entwicklungslinien zwischen den Arbeiten zu verzichten, Serien oder thematische und mediale Veränderungen nicht zu verfolgen. Damit rückt, wie oben schon erwähnt, das Einzelwerk in den Fokus und es tritt der Prozesscharakter, der ein wesentlicher Aspekt von Performance- und Aktionskunst war und ist, in den Hintergrund. Diese Beschränkung ist einerseits als Desiderat des Projektes festzuhalten, andererseits in seiner Doppelseitigkeit – Vielfalt der Positionen und großes Repertoire pro Position – nur in einem stetig weitergeführten Prozess des Sammelns und Auswählens realisierbar.
Ebenfalls als Resultat einer solchen Setzung muss man die Praxis verstehen, die Arbeiten möglichst als Gleiche zu präsentieren und durch keinerlei das 'Werk als solches' begleitende Informationen zu relativieren. Zu vielen Arbeiten und Künstlerinnen – gerade denjenigen, die bisher eher unbekannt geblieben sind – werden historische und soziokulturelle Spezifitäten nicht benannt, gezeigt oder erschlossen. Sie erscheinen als allzu kontextlos, was den sich oft selbst auch als politische Aktivitäten verstehenden Performances ihre Brisanz nimmt. Die so implizit behauptete Gleichheit aller Arbeiten nivelliert Differenzen, die aus kulturellen Kontexten resultieren und wichtiger Bestandteil der individuellen Handschriften der Künstlerinnen sind, ebenso wie Differenzen in den Produktions- und Aufführungsbedingungen.
Insgesamt fehlt die Kontextualisierung der Arbeiten durch ergänzende Informationen und Berichte z.B. über Entstehungskontexte, kulturelle und soziale Umgebungen, Rezeption usw., um den zunächst in der 'Archiv'-Installation angebotenen, un-vermittelten Zugang vertiefen zu können. Auch dies ist ein Aspekt, der in einer kontinuierlichen und nachhaltigen Fortführung eines solchen Projektes bearbeitet werden könnte. Vorerst kann man das re.act.feminism #2-Archiv und seine Sammlung als eine Aufforderung und Motivation für eigene weitergehende Recherchen verstehen.
Mediale Qualifizierung der Artefakte – Differenzierungen
Entsprechend der Fragestellung unseres Forschungsprojektes haben wir in den Einzelanalysen zu ausgewählten Artefakten ein besonderes Augenmerk auf die mediale Qualifizierung der Artefakte gelegt. Wir folgen dabei der Auffassung, dass es sich hier um – je nach medialer Verfasstheit – anders zu lesende Transformationen handelt, deren Charakter mit dem Begriff des Dokumentarischen / des Dokuments nur unzureichend benannt ist. Im Website-Katalog handelt es sich um die Rubrik 'document media', in der die Bewegtbild-Artefakte fast immer als 'Video' bezeichnet sind. Wir haben bei unserer eigenen Qualifizierung der exemplarisch untersuchten 35 Artefakte eine Typologie angelegt, die nicht allein den medialen Träger und den Aufnahmemodus, sondern auch unterschiedliche Formate der Gestaltung des gespeicherten Materials in Rechnung stellt. Die Hypothese ist, dass unter Beachtung dieser Aspekte sich das Verhältnis von vergangen aufgeführter und in der Aufzeichnung repräsentierter Performance jeweils anders manifestiert. Je nach dem Zweck der medialen Transformation entsteht ein jeweils andere Facetten des vergangenen Ereignisses sichtbar machendes Artefakt.[32]
Durch Kadrierung, Montage, Genre-Konventionen (z.B. beim Trailer oder Musikvideo), filmische mise-en-scène-Strategien werden neue, andere Relationen hergestellt, die sichtbar machen, was dem/der Beobachter_in / Zuschauer_in während der Aufführung nicht einsehbar war (sein konnte). Dies sollte in den Umgang mit, in das 'Lesen der Archiv-Artefakte eingehen (Büscher 2009).
Die Untersuchung der 35 Artefakte ergab, dass sich tatsächlich hinter der Kategorisierung 'Video' eine Vielzahl unterschiedlicher Formate verbergen. Insofern bleibt – bis auf wenige Ausnahmen, wo z.B. die Künstlerinnen selbst die Eigenständigkeit ihres Filmes betonen (Boudry/Lorenz Charming for the Revolution 2009)[33] – die mediale Beschreibung und Qualifizierung der Artefakte ungenau. Das Medium – seine technisch-apparativen und gestalterischen Konfigurationen – werden als transparent behandelt, in dem Sinne, wie es Medientheoretiker wie Lev Manovich (2001) und Bolter/Grusin (2000) bereits vor geraumer Zeit analysiert haben. Man kann, so die fragliche Haltung, durch das Mediale hindurch auf das 'Essentielle', auf die vorfilmische Realität sehen, in diesem Fall auf/in die vergangene Aufführung/Performance. Für diese Sicht auf die Artefakte spricht auch die generelle Rede der beiden Kuratorinnen vom Dokument, das als Fenster zur Welt, in diesem Fall zur Performance-Geschichte, behandelt wird (siehe z.B. Knaup/Stammer 2014: 193 ff).
Auch das Nicht-Thematisieren des ambivalenten Charakters der Artefakte zwischen Archiv-Zeugnis und eigenständigem (Kunst) Objekt, der ja – wie bereits erwähnt und in anderem Zusammenhang angesprochen (Büscher 2013) – in den Ausstellungen wiederum inszeniert wird, lässt Fragen unbemerkt, die z.B. im kunsttheoretischen Diskurs vor längerem bereits aufgeworfen wurden: Fragen, die sich an die Beobachtung anschließen, dass „Kunstdokumentation“ – wie es Boris Groys genannt hat – inzwischen einen eigenständigen Status im Kunstsystem / in Ausstellungen hat (Groys 2002).
Ausstellungsansicht re.act.feminism – performancekunst der 1960er und 70er jahre heute.
Foto © Andreas [FranzXaver] Süß
Inszenierungsweisen: Ausstellung und Archiv-Installation
Das Projekt re.act.feminism hat in der Zusammenschau seiner beiden Teile zwei signifikant unterschiedene Inszenierungsweisen der Materialien, Relikte/Spuren, medialen Artefakte zur Geschichte der Performance-Kunst durchgespielt und sie den Besucher_innen bzw. Nutzer_innen öffentlich zugänglich gemacht.[34] Während für den ersten Teil des Projektes die Ausstellung in der Akademie der Künste das Zentrum bildete, das 'Videoarchiv' zur Ergänzung und Vertiefung gedacht war, bildet die mobile Archiv-Installation mit der erweiterten Sammlung medialer Artefakte das Zentrum des zweiten Teils, die an einigen Stationen durch kleinere Ausstellungen ergänzt wurde. Insgesamt setzt der zweite Teil in allen seinen Facetten – von der individuellen Sichtung über diskursive Veranstaltungen bis hin zur Bespielung aufgrund der Aneignung des historischen Materials – auf die Selbsttätigkeit der Nutzer_in.
Die Ausstellung re.act.feminism – performancekunst der 1960 und 70er jahre heute hat die Materialität der unterschiedlichen Spuren ins Zentrum gestellt, die Ambivalenz der Artefakte im oben schon genannten Sinne zwischen Zeugnis und Kunstwerk belassen und durch die teilweise installativ neu inszenierten Artefakte einen besonderen Zugang und eine eigene Lesart im Raum hergestellt. Dass und in welcher Weise die Artefakte in der Ausstellung – laut Aussage der Kuratorinnen – in nicht explizit benannten und markierten thematischen Feldern im Raum arrangiert waren, lässt sich leider heute nicht mehr im Einzelnen nachvollziehen.
Ausstellungsansicht re.act.feminism – performancekunst der 1960er und 70er jahre heute.
Foto © Andreas [FranzXaver] Süß
In der Ausstellung haben wir verschiedene Formen der Materialinszenierung ausmachen können: die Hängung von Fotos und Zeichnungen, das Platzieren von Projektionsdisplays/Monitoren im Raum, dann die installative Anordnung von z.T. neu oder nachgebauten Objekten/Relikten sowie installative Anordnungen, die selbst wiederum Elemente von 'Archiv' inszenieren.
Die Video-Installation, die z.B. die Künstlerin Vera Kyselka aus dem Material über die Arbeit der Performance-Gruppe Exterra XX (1994 aufgelöst) hergestellt hat, nutzt die Anordnung von fünf Monitoren im Halbkreis, um fünf verschiedene Versionen des gefilmten Materials ins Verhältnis zu setzen. Sie inszeniert durch Montage und Dynamik der Sequenzen zu und gegeneinander eine neue, virtuelle Performance. Sie sei als Beispiel für den neue Perspektiven inszenierenden Umgang mit Artefakten in Installationen erwähnt.
Installationen, die selbst wiederum auf 'Archiv'-Settings referieren, zeigen nicht nur 'ihr' Material vor, sondern beziehen zugleich den Kontext der Präsentation und die Arbeit an der Geschichtsschreibung selbstreflexiv in die Inszenierung mit ein. Auch stellen sie den medialen Charakter der unterschiedlichen Artefakte aus und machen deutlich, dass es notwendig ist, viele differente Artefakte und Blickrichtungen einzunehmen, um sich ein Bild zu machen (siehe: Büscher 2009).
Babette Mangolte, die ihre Arbeit schon seit längerem in dieser Richtung betreibt (siehe: Clausen in dieser Ausgabe von MAP), war mit ihrer Installation Touching vertreten, die den Besucher_innen anbietet, Fotos, Kontaktabzüge aus ihrer Arbeit der 1970er Jahre in die Hand zu nehmen, selbst anzuordnen und zu vergleichen.[35] Einer komplexeren Anordnung folgte The Performing Archive von Suzanne Lacy & Leslie Labowitz, die in Wandregalen eine Kombination von Archivboxen und Monitoren sowie auf Tischen davor – allerdings unter Glas – Fotos arrangieren, die von jüngeren Künstlerinnen/Studentinnen ausgewählt worden waren. Präsentiert wurde so ein Ausschnitt aus einem längerfristig angelegten Projekt, das sich zwischen Forschung und künstlerischer Intervention bewegt.[36]
Insgesamt war der Ausstellungsraum durchlässig. Die Segmente, thematisch akzentuiert, folgten u.a. der Idee, verschiedene Generationen von Performance-Künstlerinnen in direkte Beziehung zueinander zu setzen. Die Installationen – die einen gewissen Platz im Raum beanspruchten – waren zunächst Aufmerksamkeitsattraktoren ohne dass sie jedoch den Parcours der Zuschauer_innen zentralisierten.
Die mobile Archiv-Installation von re.act.feminism #2 – a performing archive bestand aus mehreren Modulen, die vom Architekten Matten Vogel in Zusammenarbeit mit den Kuratorinnen entworfen worden waren. Jedes Modul setzte sich aus rollbaren Holzkästen zusammen, auf denen sich Bildschirm, Kopfhörer und DVD-Player sowie das Handbuch befanden, das zur Auswahl der zu sichtenden Filme diente. Meist vier bis fünf dieser 'Arbeitsplätze' waren am jeweiligen Ort der Präsentation aufgebaut. Dazu kam das so genannte 'Archivmodul’, ebenfalls ein rollbarer Holzkasten, der der Sammlung Platz bot. Hier konnte man sich die Arbeiten bei einer Aufsichtsperson gegen Abgabe des Personalausweises ausleihen. An den meisten Orten der Präsentation gab es einen weiteren Raum, in dem Lectures, Seminare oder Screenings stattfanden, also die reflektierende und kreative gemeinsame Aneignung und Auseinandersetzung mit den Artefakten angestoßen wurde. In Tallinn, Barcelona und Berlin war zudem eine große Leinwand vorhanden, auf der Arbeiten projiziert werden konnten, die entweder im Loop liefen oder auf Wunsch der Besucher_innen gewechselt werden konnten.
Abb: Aufbau der Archiv-Installation (Tallinn). Foto © Jasmin İhraç.
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Die so etablierte „architecture of access“ (Schneider 2011: 104) inszeniert das Archiv als Arbeits- und Wissensraum und legt damit dem/der Benutzer_in einen bestimmten Zugang nahe, der allerdings durch die fehlenden Möglichkeiten, sich individuell einen kontexualisierenden Diskurs zu erschließen, erheblich eingeschränkt ist. Die Inszenierung als Archiv bleibt Referenz auf etwas, was andernorts umfangreicher erst aufgebaut werden müsste. Hier allerdings eröffneten die von den Kuratorinnen der jeweiligen Ausstellungsorte organisierten Programme die Chance der diskursiven und kreativen Vertiefung für interessierte Gruppen von Nutzer_innen und Besucher_innen.
Aneignung durch programmatische Erweiterung – die Orte und ihre Kuratorinnen
Zur Vorbereitungsarbeit der Kuratorinnen Knaup und Stammer gehörte wesentlich die Kooperation mit Kunstorten und Ausstellungshallen, deren Kuratorinnen wiederum Interesse entwickelten, die mobile Archiv-Installation in ihren Räumen zugänglich zu machen und ein Programm zu deren Bespielung mit verschiedenen Partner_innen vor Ort zu entwickeln.[37] Drei der Beispiele seien hier dargestellt.
Ein umfangreiches Programm zur Aneignung und Aktivierung des re.act.feminism #2-Archivs hat in der Fundació Antoni Tàpies (Barcelona) stattgefunden; es konnte sich dort auf eine rege feministisch aktive Szene und großes Interesse in Ausbildungsinstitutionen stützen. So setzte sich eine Gruppe des Masterstudiengangs Visual Arts der Universitat de Barcelona in einem viertägigen Blockseminar unter Leitung von Judit Vidiella mit dem Archiv auseinander und kreierte eigene Performances, die sie zum Abschluss des Kurses im Activity Space der Archiv-Ausstellung öffentlich zeigte. Eine Gruppe des Independent Studies Programme[38] des MACBA unter der Leitung von Beatriz Preciado widmete sich in einem Projekt der eigenen Erschließung / einem weiteren Mapping der im re.act.feminism-Archiv offerierten Sammlung. Auch wurde das Performance-Archiv in der Fundació Antoni Tàpies an einem Ort gezeigt, in dem die künstlerische Leiterin Laurence Rassel die Präsentation performativer Formate im Ausstellungskontext mit besonderem Interesse praktiziert , u.a. mit der „Retrospective“ by Xavier Le Roy, die zuvor – von Februar bis April 2012 – gezeigt wurde.[39] Laurence Rassel hat die Frage nach Archivprozessen u.a. um die nach solchen der eigenen Institution erweitert und will so deren Arbeit zugleich öffentlich und transparent machen.[40]
Im dänischen Roskilde wurde die Archiv-Installation im Museet for Samtidskunst gezeigt, das in seinem Mission Statement ausdrücklich Performance als Feld der kuratorischen Tätigkeit nennt. So heißt es dort:
Dem entspricht, dass Sanne Kofod Olsen, die künstlerische Leiterin, 2011 auch ACTS – Festival for Performative Arts initiierte, das im Zeitraum der Präsentation der Archiv-Installation zum zweiten Mal stattfand und im Sommer 2014 seine 3. Ausgabe erfährt.[42] Zu den Kuratorinnen gehört nun Judit Schwarzbart, die gemeinsam mit Mary Coble 2012 einen die Archiv-Installation begleitenden Workshop unter dem Titel Animating a performing archive leitete, der sich u.a. an Student_innen des Bereichs Performance Design der Universität Roskilde richtete. Parallel und ergänzend zu re.act.feminism # 2 wurde in Roskilde ein anderes Archivprojekt in Filmform und als Projektion vorgestellt: Let Us Speak Now Re/Vision. A video archive on strategies for feminism, activism and art production.[43] Auch hatte sich das Museet for Samtidskunst bereits 2008 in einer Ausstellung mit dem Thema der Archivierung von ephemeren Kunstformen (in diesem Fall von Sound Art) beschäftigt und die Ergebnisse eines diesbezüglichen Forschungsprojektes vorgestellt.[44]
Als letztes Beispiel sei noch die Präsentation in Gdańsk erwähnt, die von einer eigenen Ausstellung mit Arbeiten polnischer Künstlerinnen verschiedener Generationen und einer Vortragsreihe begleitet wurde.[45] Das Wyspa Art Institute, wurde 2004 in einem Gebäude der ehemaligen Lenin-Werft – bekannt für die aktive Rolle der Werftarbeiter in den Streiks von 1980 – gegründet und hält daran fest, dass „Wyspa has always been finding links between the area itself and the history of independent art movements of Gdansk on the one hand, and the contemporary and innovative artistic practice on the other“.[46] In diesem Sinne veranstalten die Kurator_innen des Hauses das internationale Festival of Visual Arts ALTERNATIVA, in dessen Rahmen 2012 auch Archiv-Installation und Ausstellung präsentiert wurden. 2012 beschäftigten sich – ebenfalls im Rahmen der ALTERNATIVA – vier junge Kurator_innen wiederum mit dem Archiv und der Geschichte dieser alternativen Kunstinstitution und setzten sie in der Ausstellung WYSPA. Now is now[47] in den Kontext des vom polnischen Künstler Grzegorz Klamm, auch Mitbegründer von WYSPA, 1992 veröffentlichten Manifest Reversed Archaeology (siehe Szyłak 2010). Es gab und gibt hier also eine deutliche und ambitionierte Verbindung zu allgemeineren Fragen der (Kunst) Geschichtsschreibung, die sich im Osten Europas nach der 1989er-Wende in zahlreichen Projekten zur Aneignung und Sichtbarmachung nicht-offizieller Geschichte und untergründiger Kunst-Praktiken niedergeschlagen hat.[48] Hier beispielsweise wäre der oben erwähnte Begriff einer 'Gegenüberlieferung' auf jeden Fall angebracht.
Diese drei Beispiele machen deutlich, dass und wie sehr die kulturellen und sozialen 'Umgebungen' der Ausstellungsorte ebenso wie deren kuratorisches Selbstverständnis einen je spezifischen Kontext für den Zugang zu den gesammelten Artefakten und der Arbeit mit der Archiv-Installation ermöglichten. So konnten die Kuratorinnen Knaup und Stammer in unserem Gespräch festhalten, dass das Arbeitsangebot, was diese Präsentation auch war, insbesondere von jüngeren Künstlerinnen und Kunstwissenschaftlerinnen angenommen wurde. Insofern hat dieses Projekt – trotz der u.a. in der Beschränkung der Ressourcen und der zeitlichen Begrenzung begründeten Desiderate – deutlich gemacht, dass und wie sehr für die Forschung und Lehre in verschiedenen kunstwissenschaftlichen/künstlerischen Disziplinen ein Zugang zu Materialien, Artefakten und Informationen über die Geschichte der Performance-Kunst fehlt. Zudem hat das besondere Präsentationsformat einer mobilen Archivinstallation in einem europaweiten Netzwerk drei Aspekte erschlossen, die auf ihre Übertragbarkeit und deren Bedingungen für eine (oder mehrere) ständige Sammlungen zur Geschichte der Performance-Kunst hin zu befragen wären:
- die dynamische Erweiterung der Sammlung durch Delegation von Kompetenzen,
- die dezentrale Verteilung der Informationen und Aktivitäten, die über Online-Präsentation vernetzt werden,
- eine engagierte und immer wieder neu ansetzende Aneignung der Sammlung als beweglicher Zugang.
Literatur