Nomadisieren zwischen den Formen

Das Theater der Grausamkeit auf der Bühne des Subjektils

Melanie Reichert (Kiel)

 

 

 

Im Jahr 1986 erscheint ein Bildband mit Zeichnungen und Portraits Antonin Artauds, verantwortet von Paule Thévenin, der Herausgeberin seiner Schriften, sowie von Jacques Derrida. Bevor Artaud sich schwerpunktmäßig dem Theater zuwandte, hat er gezeichnet, und gegen Ende seines Lebens nimmt er dies wieder auf. Bilder, so schreibt Thévenin in ihrem Vorwort, bilden den Ausgangspunkt des Theaters der Grausamkeit. [Thévenin 1986: 20f.]

Artaud hat dieses Theaterkonzept in den Dreißigerjahren im Rahmen theoretischer Schriften und Manifeste begrifflich formuliert. Das Verhältnis der Schriften zur eigentlichen Inszenierungsarbeit scheint allerdings von Beginn an von einer auffallenden Diskrepanz gekennzeichnet: Die Emphase der revolutionären Erneuerung des Theaters und damit der Kultur, die Artauds Manifeste und Vorträge kennzeichnet, steht in krassem Gegensatz zu seiner Enttäuschung im Verlauf der praktischen Umsetzungsversuche: „Ich glaube, daß vom theatralischen Standpunkt her die Konzeption gut war, wie Sie sich selbst überzeugen konnten. Aber ich wurde von der Realisation im Stich gelassen“[1], schreibt er 1935 an Jean Paulhan nach der Inszenierung des Stückes Die Cenci, in welcher er sein Theater eigentlich endlich verwirklicht sehen wollte.

Am Ende seines Lebens, während seiner Unterbringung in der psychiatrischen Klinik in Ivry, fällt Artaud rückblickend ein scheinbar vernichtendes Urteil über sein Theater: „Das Theater der Grausamkeit ist tot, bevor es zu leben begonnen hat [...].“[2] Die Frage nach der Lebendigkeit, im Sinne einer gelingenden, das heißt hier wirksamen Umsetzung des Theaters der Grausamkeit begleitet das Konzept von Beginn an.

Artaud selbst hat das mögliche Auseinanderdriften von begrifflich verfasster Konzeption und theatraler Aktion immer wieder thematisiert: „Was ich tun will, ist leichter getan als gesagt“ [Artaud 2012: 153], so schreibt er in seiner programmatischen Textsammlung Das Theater und sein Double. Dies bedeutet, dass die theatrale Aktion nicht automatisch als Umsetzung dessen zu verstehen ist, was in der theoretischen Konzeption formuliert wurde. Das Theater als eigenständige Form ist vielmehr, so eine der Kernthesen Artauds, keiner anderen Form (Theorie, Literatur) Rechenschaft schuldig. Seine Adäquatheit findet es nur in sich selbst.

Auf der Ebene der Schreibweise Artauds offenbart das Zitat die enge Verknüpfung seines Theaterkonzepts mit der Möglichkeit seines Scheiterns. Das Zitat legt nahe, dass für Artaud offenbar die Notwendigkeit bestanden hat, die Prekarität seines Konzepts in seine konzeptuellen Text selbst, nämlich in Das Theater und sein Double, einzulassen. Indem Artaud die Möglichkeit des Scheiterns, hier verstanden als die Nichtübereinstimmung von Theorie und praktischer Umsetzung in Das Theater und sein Double vorkommen lässt, wird diese im Rahmen des Theaterkonzeptes quasi institutionalisiert. Entweder bleiben die Texte hinter der Aufführung zurück, oder die Aufführung löst das Versprechen der Texte nicht ein.

Das Motiv des Scheiterns begleitet indes nicht nur die theoretischen Schriften Artauds, sondern tatsächlich auch seine praktische Theaterarbeit. Besonders Die Cenci entwickelte sich für Artaud bereits während der Probenzeit aus materiellen, personellen und persönlichen Gründen zum Desaster. Obwohl die Inszenierung durchaus auch positiv aufgenommen wurde, schreibt Artaud mit Blick auf die Inszenierung, das Jahr 1935 sei „ein verdammtes Jahr der Enttäuschungen und des Scheiterns“[3].

 

Form unter Spannung

Folgt man Peter Bürger, so ist nicht nur auf Ebene der Aufführungsrealisierung, sondern bereits auf konzeptioneller Ebene das „Scheitern [...] dem Unterfangen Artauds eingeschrieben“ [Bürger 1992: 252], und zwar aufgrund seines widersprüchlichen Verhältnisses zum Problem der Form. Dazu gehört, dass die archaischen Praktiken etwa des balinesischen Theaters, mit denen Artaud auf die von ihm diagnostizierte Kulturkrise reagieren will, sich nicht aus ihrem ursprünglichen Bedeutungskontext lösen lassen: Verliert man den dazugehörigen Glauben, bleibt vom Ritual eben nur leere, tote Form. [Bürger 1992: 252] Eben dies wollte Artaud eigentlich mit seinem Theater vermeiden: Es ist nämlich, so Artaud, der falsche „Respekt vor dem Geschriebenen, Formulierten oder Gemalten, vor dem, was Gestalt angenommen hat“ Schuld an der „erstickende[n] Atmosphäre“, die er der Kultur seiner Zeit attestiert. [Artaud 2012: 97] Die Form erstickt das Leben und was eine Form hat, ist daher zunächst und zumeist verdächtig, zum Fetisch korrumpiert. So naiv, von der Utopie der absoluten Formbefreiung zu träumen, ist Artaud indes nicht. So kommt es, dass es auch im Artaud’schen Theater von Formen nur so wimmelt: Da ist die Rede von Körperhieroglyphen, Masken und Bildern, und selbst die Wahrnehmung scheinbar natürlicher Formen wie etwa der Stimme ist, so eine der vielleicht bedeutsamsten Präzisierungen Artauds, „Konvention[en] unterworfen“ [Artaud 2012: 55]. In den Formen „schlummern Kräfte“ [Artaud 2012: 15], erklärt er, wenn man nur richtig mit ihnen umzugehen, und das heißt in erster Linie: sie aufzugeben weiß.

Zwischen Zersprengung und Anerkennung verbleibt Artauds Verhältnis zur Form also in Ambivalenz. Das in seinen Manifesten emphatisch vorgetragene Konzept zur Wiederbelebung der Kulturformen mithilfe des Theaters der Grausamkeit scheint allerdings, da auch dieses Theater immer nur Theater bleibt, zum Scheitern verurteilt. Dieses Dilemma ist im übrigen, so Roland Barthes, das zentrale Problem der Avantgarde. Es bleibt dem Künstler ein einziger Ausweg, nämlich Selbstmord durch Verstummen. Mit Blick auf den Anspruch surrealistischer Schriftsteller auf Zertrümmerung der sprachlichen Formen schreibt Barthes:

„Die Agraphie [...] mancher Surrealisten – die gerade deshalb in Vergessenheit geraten sind –, diese erschütternde Selbstzerstörung der Literatur zeigt, daß für einige Schriftsteller die Sprache [...] schließlich das wiedererstehen läßt, was sie zu fliehen vorgab, zeigt, daß es keine sich revolutionär erhaltende Schreibweise gibt und daß alles Schweigen der Form dem Betrug nur durch ein absolutes Verstummen entgeht.“ [Barthes 2006: 60]

Nimmt man die Formulierung Bürgers beim Wort, das Scheitern sei der Konzeption Artauds „eingeschrieben“, dann stellt sich die Frage, ob dieses Scheitern nicht vielmehr ihre Konsequenz oder sogar ihre Erfüllung darstellt. Denn was Bürger als Scheitern im Sinne eines vergeblichen Reanimierungsversuchs toter Formen darstellt, könnte sich in Wahrheit als elementare Eigenschaft von Theatralität herausstellen die darin besteht, zwischen verschiedenen Medien und Formen zu nomadisieren.

Das Scheitern als Nichtverwirklichen einer Form ist in der Tat ein zentrales Element des Theaters der Grausamkeit. Denn schließlich geht es Artaud ja vor allem darum, eine neue Wertschätzung des Werdens und Vergehens zu vermitteln und Form nicht als Dauer zu begreifen: Das Theater ist der Ort, der „mit dem Werden versöhnt“. [Artaud 2012: 141f.] Alles Werden ist durch zwei Dimensionen der Negativität gekennzeichnet: die Negation des Nichtgewordenen und das nicht länger Sosein des Werdenden. Das Etikett des ›gescheiterten Theaters‹ wäre dann lediglich das Resultat eines Wahrnehmungsfehlers, Resultat einer jahrhundertealten teleologischen Privilegierung der vermeintlich überzeitlichen Form. Die Unbeherrschbarkeit dieses Werdens der Formen ist eine wesentliche Pointe des Theaters der Grausamkeit, dies folgt aus Artauds Gleichsetzung von Grausamkeit und Leben: „Ich habe also ›Grausamkeit‹ gesagt, wie ich ›Leben‹ [...] gesagt hätte.“ [Artaud 2012: 149]

Vor diesem Hintergrund möchte ich die Notwendigkeit in Frage stellen, dass Artauds Theaterkonzept als Theaterereignis Wirklichkeit werden muss. Scheitern im Sinne einer nicht erfolgten Formwerdung ist immer schon Teil des Theaters der Grausamkeit und beträfe in letzter Konsequenz auch es selbst. Als atopisches Theater ist es dann eines, das keine feste Bühne kennt, sondern nur Transmutationen des Lebendigen. Das Leben ist für Artaud dem Feuer verwandt, insofern es keine Form hat, aber sich dennoch selbst erhält. Auch das Theater der Grausamkeit lässt zu gegebener Zeit die Form des kulturell institutionalisierten Theaters los und nimmt eine neue Form an.

 

Rückkehr zur Zeichnung

Nach intensiven Bemühungen um eine Erneuerung des Theaters kehrt Artaud Ende der Dreißigerjahre, also nach den niederschmetternden Erfahrungen der Cenci-Inszenierung, zum Zeichnen zurück, das er im Laufe der Zwanzigerjahre eigentlich aufgegeben hatte. Besonders die Zeichnungen der letzten Lebensjahre, zumeist angefertigt während Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken, kombinieren Text, Bild sowie ein absichtliches Zerstören des Papiers:

„Ich will damit sagen, daß ich mich aufgrund meiner Unkenntnis sowohl des Zeichnens als auch der Natur dazu entschlossen habe, Formen, Linien, Striche, Schatten, Farben, Aspekte herauszuheben, die [...] nichts darstellen und auch nicht nach den Erfordernissen irgendeines visuellen oder materiellen Gesetzes miteinander verbunden werden wollen, sondern gleichsam über dem Papier eine Art Gegengestalt schaffen sollten, die ein immerwährender Protest gegen das Gesetz des geschaffenen Gegenstandes zu sein hätte.“ [Artaud nach Thévenin 1986: 25]

Aber auch diese Bemühungen bleiben Form, bleiben Zeichnung, die Gegengestalt scheitert. Sie wird nicht verwirklicht. Aber etwas findet statt, nämlich ein ins Verhältnis Setzen von Material und Form. Nach dem Ende seiner Theaterversuche manifestieren sich die schöpferischen Kräfte Artauds auf dem Papier als dem in den Anstalten einzig zur Verfügung stehenden Material, exemplarisch für das Verhältnis des Einzelnen zur Kultur, die ihm stets Einschränkung und Freiheit zugleich ist. Die Allgemeinheit des vorfindlichen Materials, des Zeichnens als künstlerischer Disziplin, ist Beschränkung und Möglichkeitsgrund zugleich, ist Hort für die Kunst des Weltgestaltens, der Zurechtmachung. Das Zeichnen als Form im Sinne einer Disziplin wird verwandelt in das immerwährende Formzersprengen kraft ebendieser Disziplin. Freilich unterliegt dieses Gestalten der geschichtlich gebundenen Eigenlogik des Zeichnerischen: Der Zeichner schafft seine Zeichnungen, das Zeichnen schafft den Zeichner. Artaud hat sich gewünscht, dass die „Poesie in die äußeren Gegenstände Einzug hält“ [Artaud nach Thévenin 1986: 12], allerdings, so möchte ich ergänzen, poetisieren die „äußeren Gegenstände“ auch uns.

Mit seinem Theater zielte Artaud schon früh darauf ab, „Bilder zu verlebendigen“, auf dass sie „uns ebenso treffen wie ›die Alpträume der flämischen Malerei‹“. [Artaud nach Thévenin 1986: 20] Ich möchte nun umgekehrt von einer Verbildlichung der theatralen Lebendigkeit in Artauds Zeichnungen sprechen. Diese Verbildlichung geschieht freilich nicht im bloß reproduzierenden oder dokumentierenden Sinn. Vielmehr ist das Zeichnen, wie im Übrigen auch das Schreiben, von Theatralität durchdrungen. Artaud hat das Theater mit der Pest verglichen, die in rätselhafter Ansteckung über die Menschen kommt. [Hierzu Artaud 2012: 18-41] Sein ansteckendes Theater macht auch vor dem Papier nicht Halt.

Bilder vermögen, als Archivierung einer Geste auf dem Papier, auch nach Jahren beim Betrachter körperliche Reaktionen auszulösen. Eben darauf hat auch das Theater der Grausamkeit abgezielt, allerdings durch die Unmittelbarkeit der leiblichen Co-Präsenz von Schauspielern und Zuschauern. [Thévenin 1986: 10] Wie bei anderen Formen der Archivierung gilt auch hier, dass die „Einschreibung“ in das Artefakt durch die Beschaffenheit des Artefakts, der Zeichnung, transformiert wird. [Büscher 2010: 337] Das Bild, als „Anwesenheit von Abwesenheit“ [Bohn 2015: 356] gedacht, ist zunächst eigentlich ein Medium der Stillstellung eines Lebendigen. Dies widerspricht aber keineswegs dem Anspruch des Theaters der Grausamkeit: In seinen Portraits etwa hält Artaud die Gesichter fest und stürzt sie, indem er sie so festhält, in den Tod, das heißt in die Unerbittlichkeit, die Notwendigkeit, in eben jene Lektion des unaufhaltsam sich vollziehenden Lebensflusses, welche die Zuschauer auf dem Grund des Theaters der Grausamkeit erwarten sollte.[4]

Für Artaud scheint es auf eine gewisse Durchlässigkeit der verschiedenen Ausdrucksformen wie auch der Sujets anzukommen: „Das Thema ist unwichtig, ebenso der Gegenstand. Wichtig ist der Ausdruck, aber nicht der Ausdruck des Gegenstandes, sondern eines bestimmten Ideals des Künstlers, einer bestimmten Summe Menschlichkeit vermittels der Farben und der Linien.“ [Artaud nach Thévenin 1986: 10]

Im Zeichnen, so könnte man im Anschluss hieran formulieren, ereignet sich also nicht bloß das Zeichnen des Gezeichneten, sondern der Zeichner selbst, und zwar vermittels der Geste, des in Bewegung Setzens der Hand. Dieses Sich-Ereignen ist allerdings kein totales Ereignis im Sinne eines Hereinbrechens, sondern es ist gesetzt, entschieden, der Zeichner sagt, mit Artaud gesprochen [Artaud nach Thévenin 1986: 5], die Form indem er sie nutzt. So ist die Geste des Zeichners nicht Ereignis, sondern ereignishaft. Sie wird als Geste des Zeichnens in Szene gesetzt.

 

Gesten auf Papier

Ab 1937 lässt Artaud vermehrt piktorale und skripturale Elemente gemeinsam auf dem Papier auftreten. Es erscheinen nun zusätzlich zum Geschriebenen abgewandelte astronomische Zeichen, die sein Interesse an Magie bezeugen. In seinen sogenannten „Losen“ (sorts), beschwörenden Formeln, die er an verschiedene Bekannte versendet, greifen Zeichnung und Text auf spezifische Weise ineinander:

„Dabei hat die Schrift nicht mehr nur die Aufgabe, eine Botschaft, einen Gedanken zu übermitteln, sie muß durch sich selbst und physisch wirken. Alles ist berechnet und darauf angelegt, das Auge und damit auch die Sensibilität desjenigen oder derjenigen zu fesseln, für den das sort [Los] bestimmt ist: die Anordnung der Zeilen auf der Seite, die sorgfältige Handschrift, die Schwankungen in Dicke und Höhe der Buchstaben, die häufige Verwendung von Großbuchstaben, die Art und Weise, in der die Wörter unterstrichen sind.“ [Thévenin 1986: 24, Hervorhebung. i. O.]

Stärker als die Zeichnung ist der Buchstabe eine Choreografie, ein historisches Gewordensein, an dem sich die lebendige Hand abarbeitet. Artauds „geschriebene Bilder“ enthalten dabei gleich mehrere Inszenierungen. So entpuppt sich etwa die Verbindung von Text- und Bildelementen als eine List Artauds. Ein illustrierender Zusammenhang wird suggeriert, aber nicht final eingelöst, sodass die Wörter als Einzelphänomene in ihrer visuellen und stimmlichen Materialität inszeniert sind. Daraus ergibt sich eine Wiederverflüssigung erstarrter Wörter, ihre Erlösung von der Bedeutungskonvention. Hierdurch tritt der Akt des auf den Begriff Bringens vorprädikativer Anschauungen in den Blick, zu dem die scheinbare Beiordnung der Schriftzeichen zu Bildelementen verführt.

Schließlich wird die Untrennbarkeit von Schrift und Körper inszeniert, sodass die „Materialität des Graphischen“ [Barthes 1983: 23] in den Blick des Betrachters rückt. Das Zurücktreten der prädikativen Bedeutung in den „Losen“ verweist auf den körperlichen Akt des Schreibens selbst, auf die fleischliche Tatsächlichkeit der Schrift, welche, so möchte ich mit Roland Barthes sagen, zum Gegenstand wird.[5] Im händischen Schreiben, wie es von Artaud hier im Besonderen inszeniert wird, liegt dabei ein Überschuss. So schreibt Barthes etwa im Zusammenhang mit den Zeichnungen Cy Twomblys, die Schrift sei voll von der „nervöse[n] Windung der Buchstaben, [dem] Fluß der Tinte, [der] Verlängerung der Buchstabenfüße“, und dies alles seien „Akzidenzien, die zum Funktionieren des graphischen Codes nicht nötig sind“. [Barthes 1983: 24] Die Materialität der Schriftzeichen als Signifikanten schießt über ihre Signifikate hinaus. Was das Theater vor allen anderen kulturellen Orten auszeichnet ist, so Artaud, die Unwiederholbarkeit seiner gestischen Elemente, die vom lebendigen Körper hervorgebracht werden. Die Tragik des klassikerfixierten Theaterbetriebes seiner Zeit besteht für Artaud eben darin, dieses Potential zu verkennen. Auch der händisch geschriebene Buchstabe ist unwiederholbar, allerdings ›steht er‹, das Papier archiviert ihn. Aber es archiviert auch seinen Überschuss, seine Verwackelung, seine Unschärfen, es archiviert ihn als einen Unwiederholbaren.

Nicht nur die Linienführung seiner Hand bildet einen Überschuss am Buchstaben: Indem Artaud bei aggressiven „Losen“ das Papier beschmutzt oder mit Zigarettenspitzen versengt, schießt er selbst über das Papier hinaus und eröffnet damit das Theater des Subjektils. Die meisten der „Lose“ Artauds, die zwischen 1937 und 1939 entstanden sind, bestehen aus „angebrannte[n] und mit Vitriol bespritzte[n] Blätter[n]“. [Beaumelle 2002: 174 sowie Thévenin 1986: 24].[6] Hier lebt das Theater auch im Sinne eines körperlichen Exerzitiums neu auf, als „sichtbare Aktion“, wie Roland Barthes später formulieren wird. [Barthes 1983: 26]

Indem er das Papier, das Subjektil zerstört, legt Artaud die „jämmerliche Unbeholfenheit der Formen“ [Artaud nach Thévenin 1986: 30] offen. Die zeichnerische Aktion wird dadurch zum „Versuch, demjenigen Leben und Dasein zu verleihen, was bis heute noch nie in der Kunst zugelassen war, nämlich dem Verpfuschen des Subjektils“ [Artaud nach Thévenin 1986: 30], das eben dann kein Verpfuschen mehr ist, sondern die Arbeit des Körpers mit der Form, und zwar des Körpers „sofern er kratzt, streift oder gar kitzelt“, wie es bei Barthes heißt. [Barthes 1983: 25]

Das Papier wird also von Artaud auf eine bestimmte Weise behandelt. Wenn Artaud etwas auf das Papier zeichnet tritt dieses, als Subjektil, zurück hinter die Zeichnung. Wenn Artaud das Papier zerstört, wird es dadurch als Subjektil thematisiert, Papier und Zeichnung treten auf in ihrem Verhältnis zueinander. Die Distanznahme, ermöglicht durch die Verletzung des Mediums, transformiert die Betrachterin zur Zuschauerin.

Obwohl das Zeichnerische sowohl am Beginn als auch am Ende von Artauds künstlerischer Arbeit steht, ist es nicht eigentlich sein primäres Interesse. Vielmehr geht es Artaud um die Geste: „Das, was ich zeichne, [...] sind Gesten“ [Artaud nach Thévenin 1986: 41]. Die Geste markiert bei Artaud den äußersten Rand der Bedeutung, hinter dem nicht Nicht-Bedeutung zu finden ist (Wie wäre das auch möglich?), sondern das Werden von Bedeutung. Ein Jenseits der Bedeutung gibt es selbst für Artaud nicht, und gerade aus dieser Unmöglichkeit zieht das Theater der Grausamkeit die Spannung, die ihm die Faszination seines Publikums sichern soll. Die Geste ist für Artaud gleichsam Sehnsuchtsfigur aufgrund einer ihr eigentümlichen Doppelbezüglichkeit: Sie lässt Bedeutung erahnen und Bedeutungslosigkeit erhoffen. Da sie im Gegensatz zum Zeigen nicht teleologisch strukturiert ist, unterliegt die Geste keiner Logik des Gelingens. Das Zersplittern von Bedeutung durch die Geste ist dann nicht mehr Scheitern im Sinne eines verpassten telos, eines Nichtgelingens von Etwas.

Artauds geschriebene Zeichnungen archivieren die Geste des Schreibens über die Sprache hinaus. So gelingt ihm auf dem Papier, was er im Theater nicht verwirklichen konnte, nämlich ein Archiv aus Gesichtsausdrücken und Gesten, deren Katalogisierung „im Maskenzustand“, herausgelöst aus ihrer „psychologischen Verwendbarkeit“, er im Ersten Manifest angekündigt hatte. [Artaud 2012: 123]

 

Theatralität und Transzendenz

Das Theater der Grausamkeit ist gescheitert, weil es nicht in seiner intendierten Form stattgefunden hat. Diesem Urteil entsprechen auch die resignierten Äußerungen Artauds. Ich möchte an dieser Stelle allerdings Artaud den philosophischen Gehalt seiner eigenen Schriften entgegenhalten und sagen: Es hat nicht im Theater stattgefunden. Aber es hat auf dem Papier stattgefunden, mit der Szene des Subjektils, wie Derrida schreibt [Derrida 1986: 51]. An diesen Gedanken möchte ich anschließen: Das Papier setzt die Zeichnung in Szene, weist ihr also eine skené zu, es räumt sie ein[7], und indem es dies tut, wird es zu ihrer Stätte. Die konzeptionellen Texte Artauds thematisieren immer wieder die Suche nach dem geeigneten Ort für sein Theater: da ist von einer Scheune die Rede, vom freien Himmel und schließlich von den Herzen der Zuschauer, der Stätte des Subjekts, in die das Theater der Grausamkeit sich verräumlicht. Die Stätte des Papiers, archiviert im Buch, ist eine Verräumlichung durch die Zeit.

Statt-Finden ist dann nicht zwangsläufig ein Gelingen als Gegenbegriff zum Scheitern: Artaud hat vielleicht mit einem anderem Ziel begonnen, nämlich der Umsetzung seines Theaters als Theater. Dieses sein Theater hat sich dann jedoch von seinem Schöpfer emanzipiert; es hat Statt-gefunden, seine Stätte gefunden: „Ob Leinwand, Papier oder Mauer: es handelt sich um einen Schauplatz. [...] So muß man das Bild als eine Art Theater nehmen“; wir schlagen das Buch auf: „der Vorhang öffnet sich, wir schauen, wir warten, wir vernehmen, wir verstehen“; wir schlagen das Buch zu: „ist die Szene vorbei, das Bild verschwunden, dann erinnern wir uns: wir sind nicht mehr dieselben wie vorher: wie im antiken Theater sind wir initiiert worden“ [Barthes 1983: 65].

Das Theater der Grausamkeit hat sich entsprechend dem Werden und Vergehen der Formen, die aus dem Chaos aufsteigen, vollzogen. Gemäß der Artaud’schen Philosophie der Theatralität hat es diese seine Theatralität auch in der Zeichnung noch verwirklicht: „Ich will vor allem darauf hinweisen, dass das Theater für mich Vollzug und fortwährende Ausstrahlung ist, dass es nichts Starres in sich birgt, dass ich es einem wirklichen, das heißt lebendigen, das heißt magischen Vollzug angleiche.“ [Artaud 2012: 149] Als ein solcher magischer Vollzug ist Theatralität ein transzendentes, nomadisches Prinzip. Sie wandert zwischen den Formen, indem sie das Theater überschreitet und sich in der Zeichnung niederlässt. Sie macht diese als Form unter Formen dem Studium der Betrachterin zugänglich. So enthüllen die Zeichnungen Artauds zugleich die epistemologische Dimension von Theatralität. Indem Artauds gescheitertes Theater zur Expedition wird, steckt er das Spektrum der Konsequenzen aus jener Schizophrenie ab, die künstlerischen Zertrümmerungsversuchen eigen ist: an der Form irre werden oder sie bereisen.

 



[1] Artaud 2002: 101; neben Die Cenci ist besonders Die Eroberung Mexikos als Versuch der Umsetzung des Theaters der Grausamkeit zu nennen.
[2] Artaud: Cahier 275 – avril 1947. In: Cahiers d’Ivry. Février 1947 – mars 1948. I, Cahiers 233 à 309. Texte établi, préfacé et annoté par Évelyne Grossman. Paris 2011, S. 594, Übers. M. R.
[3] zit. nach Mattheus 2002: 36.
[4] Hierzu Thévenin 1986: 37ff. sowie Artaud 2012: 133f.
[5] Barthes 1983: 24 sowie Mersch 2002: 18f.
[6] Zum Begriff des Subjektils als terminus technicus für den Bilduntergrund und seine Benutzung durch Artaud siehe Derrida 1986.
[7] Den Begriff der Einräumung entlehne ich Heideggers Vorträgen zur Kunst, siehe etwa: „Kunst und Raum“ (Heidegger 2010).

 

 

Literatur

Artaud, Antonin. “Cahier 275 – avril 1947”. In: Cahiers d’Ivry. Février 1947 – mars 1948. I, Cahiers 233 à 309. Texte établi, préfacé et annoté par Évelyne Grossman. Paris 2011.
Artaud, Antonin. Das Theater und sein Double. Aus dem Französischen von Gerd Henniger, ergänzt und mit einem Nachwort von Bernd Mattheus. Frankfurt/M. 2012.
Artaud, Antonin. Die Cenci. Materialien und Briefe. Berlin 2002.
Barthes, Roland. Am Nullpunkt der Literatur. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. Frankfurt/M. 2006.
Barthes, Roland. Cy Twombly. Deutsch von Walter Seitter. Berlin 1983.
Beaumelle, Agnès de la. “Die großen Zeichnungen von Rodez”. In: Mattheus/Pichler 2002: 167-178.
Bohn, Ralf. Szenische Hermenetuik. Verstehen, was sich nicht erklären lässt. Bielefeld 2015.
Bürger, Peter. Prosa der Moderne. Frankfurt/M. 1992.
Büscher, Barbara. “Beweglicher Zugang: Medien – Archiv – Aufführungskünste”. In: Welt – Bild – Theater. Politik des Wissens und der Bilder. Kati Röttger (Hg.). Tübingen 2010: 329-338.
Derrida, Jacques. “Das Subjektil ent-sinnen”. In: Thévenin/Derrida 1986: 51-109.
Heidegger, Martin: “Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst”. Gesamtausgabe Bd. 74, Unveröffentlichte Abhandlungen, Vorträge, Gedachtes. Herausgegeben von Thomas Regehly. Frankfurt/M. 2010.
Mattheus, Bernd und Cathrin Pichler (Hg.). Über Antonin Artaud. München 2002.
Mattheus, Bernd. “Die legendäre Lebensgeschichte des Saint Arto”. In: Bernd Mattheus und Catrin Pichler (Hg.). Über Antonin Artaud. München 2002: 33-80.
Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002.
Thévenin, Paule und Jacques Derrida (Hg.). Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits. Aus dem Französischen von Simon Werle. München 1986.
Thévenin, Paule. “Die Suche nach der verlorenen Welt”. In: Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits. Thévenin/ Derrida 1986: 9-48.

 

 

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