Entfaltungen: Channa Horwitz und das Leporello

Stephanie Götsch (Wolfsburg/Berlin)

 

 

 

Die Künstlerin Channa Horwitz (1932–2013, Los Angeles) wurde vor allem durch ihre komplexen Notationssysteme bekannt. Ihre Werke werden häufig im Spannungsfeld der Minimal Art und der Conceptual Art verortet. Die von ihr verwendeten Medien erstrecken sich über Zeichnungen, Installationen und Performances. Horwitz arbeitet mittels dieser unterschiedlichen Darstellungsmodi an einer universellen Sprache, die von anderen künstlerischen Disziplinen als Anleitung interpretiert und in Form von Tanz, Lyrik, Musik oder einer Installation interpretiert werden können. Durch die Anwendung eines selbst auferlegten Regelsystems entwirft sie eine visuelle Kommunikationsstruktur, die aus acht Zahlen, acht Farben sowie Anweisungen in Form von Texten besteht. Horwitz organisiert diese Elemente in Diagrammen.

Das wichtigste Motiv ihrer künstlerischen Arbeit ist das Aufzeichnen von Bewegung innerhalb eines Zeitraumes. Hierzu entwickelt die Künstlerin verschiedene Spielarten, die sie häufig in Buchform herausgibt. Der Akt des Aufschlagens und Umblätterns eröffnet Horwitz neue Möglichkeiten, über die Präsentation ihrer Notationen nachzudenken.

Auf dem Spiel mit den Zahlen 1 bis 8 basierend, entsteht das Werk Suite 8, 1978. Hier bilden sich durch einfache Verschiebungen in den numerischen Verlaufsregeln der Linien acht verschiedene, dennoch miteinander eng verwandte Formen aus. Um die Genese bzw. die Entfaltung der Ausgangsform darzustellen, verwendet Horwitz das Format des Leporello-Buches. Auf diese Weise wird die künstlerische Idee archiviert. Die tatsächliche Falttechnik erlaubt es ihr, die abstrahierte geometrische Entfaltung Schritt für Schritt zu entwickeln. Durch das Aufblättern der aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen wird der Prozess des Sich-Auffaltens für den Betrachter erfahrbar gemacht. Der performative Moment des Sich-Auffaltens ereignet sich also nicht nur haptisch, sondern auch bildimmanent.

Dieser Aufsatz geht der Frage nach, wie das Leporello-Format als mediales Konzept agiert und wahrgenommen wird. Welche Rolle spielt der performative Akt des Auffaltens? Dabei soll vor allem auf das komplexe Zusammenspiel von Inhalt, Form und Material eingegangen werden.

 

Aufzeichnen von Bewegung: Suspension of Vertical Beams Moving in Space

Channa Horwitz arbeitet vorwiegend im Medium der Zeichnung. In ihrem Frühwerk widmete sie sich vereinzelt der zeichnerischen Entwicklung kinetischer Installationen sowie Plastiken, die aber nur zu einem sehr geringen Teil umgesetzt wurden. Ihre Formensprache folgt einem strengen Regelwerk, welches sie zu Beginn ihrer Karriere spielerisch erprobte und festlegte. Das Experimentieren und vor allem das Zulassen von Zufällen und Fehlern innerhalb des Werkprozesses waren wichtige Werkzeuge, mit denen Horwitz kontinuierlich arbeitete.

Die rhythmische Atembewegung inspirierte die Künstlerin zu ihrer ersten kinetischen Installation, die sie Breather nannte. Parallel dazu entwickelte sie 1968 die weitaus komplexere Installation Suspension of Vertical Beams Moving in Space, die jedoch nicht realisiert wurde. Hier setzte sie sich zum ersten Mal mit der Notation von Bewegung in Zeit und Raum auseinander, eine Arbeitsweise, die sie in den folgenden Jahren intensiv anwandte. Außerdem plante sie in diese Arbeit lichtkinetische Effekte ein. Ihre Ideen und Konzepte lassen sich damit im Kontext der kinetischen Kunst verorten. Bewegung und Licht bilden ästhetische Bestandteile von integraler Bedeutung in Horwitz’ Werk.[1] Die Technik- und Wissenschaftsaffine Atmosphäre im Los Angeles der 1960er Jahre ist dabei eine wichtige Inspirationsquelle für Horwitz.[2] Für die Choreographie der Beams und des Lichts musste Horwitz eine Form entwickeln, in der sie adäquat die nötigen Informationen zur Umsetzung der Installation aufzeichnet und organisiert. Im Stil einer mathematischen Notation visualisiert sie die sich bewegenden Elemente in einem bestimmten Zeitraum (Abb. 1). Hier lassen sich Analogien zu Tanz- und Musiknotation erkennen, die sie im weiteren Verlauf ihres Schaffens mit einem künstlerisch variierenden Verfahren erforscht.

 

Abb 1: Channa Horwitz, Suspension of Vertical Beams Moving in Space, 1969, Collage

 

Die gezeichneten Notationen, die sich von ihrem Projekt Suspension of Vertical Beams Moving in Space ableiten lassen, avancierten in den späten 1960er Jahren zum autonomen Kunstwerk und stellen mittlerweile das größte Korpus in Horwitz’ Œuvre dar. Von der projektiven Konstruktionszeichnung gelangte sie zum Format des Diagramms, einem Medium, mit dessen Hilfe sie Bewegung in Zeit und Raum graphisch entwickeln und fortan unterschiedliche Elemente nach ihren Vorstellungen orchestrieren konnte.

Gleich zu Beginn erfand Horwitz einen neuen Begriff, um dieses Notationsprinzip zu fassen: Sonakinatography, eine Zusammensetzung aus den lateinischen und griechischen Wörtern für Geräusch, Bewegung und Aufzeichnung.[3] Horwitz komponierte somit abstrakte Prozesse, die sie in ein Koordinatensystem mittels vereinfachter Zeichen übertrug und mit handschriftlichen Anweisungen versah, um die Notation lesbar zu machen. Auf diese Weise entstand ein Hybrid aus Schrift, Zeichen und Zahlen, die in einem Koordinatensystem strukturiert wurden.

Das Erproben und Ausformulieren geometrischer Figurationen geschah zunächst auf zeichnerischer Ebene, um diese in einem weiteren Schritt in eine Performance zu übertragen. Die Ausführung einer Notation von Horwitz durch eine andere künstlerische Disziplin erfolgte erstmalig im Mai 1969 bei der Eröffnung in den Ausstellungsräumen der Orlando Art Gallery.[4] Horwitz kuratierte die Schau selbst, in der unterschiedliche Medien zusammenwirken. Dieses Charakteristikum wird bereits im Titel der Ausstellung DRAWINGS, SCULPTURES, MULTI-MEDIA PERFORMANCE deutlich. Die Dokumentation der Ausstellung ist bedauerlicherweise unvollständig.

Die Arbeit Dance Movement: Instructions to Sheila Rozann ist eine Anweisung für den Tanz At the tone the time will be. Es handelt sich bei dieser Notation nicht um ein Diagramm, sondern um einen handschriftlichen Text, der von Horwitz in mehrere Teile gegliedert wurde und stichpunktartig die nötigen Informationen zusammenfasst. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Bedeutung der Motive Kreis und Quadrat, die sich auf den Kostümen der Tänzerinnen wiederfinden. Der Titel des Tanzes rekurriert auf die Zeitansage „At the tone the time will be“, die während der Aufführung von einem Tonbandgerät abgespielt wird.

Hier wird deutlich, dass bestimmte Strukturelemente in den Werkprozess hinein geholt werden und diesen entsprechend bedingen. Im Medium der Zeichnung ist es das Millimeterpapier, das ihr eine graphische Struktur vorgibt, an der sie ihre Notationen bzw. ihre geometrischen Formationen ausrichtet. In den aufführungsbasierten Werken sorgt eine Zeitansage für die zeitliche Strukturierung der Performance.

 

Abb 2: Channa Horwitz, Poem Opera / The Divided Person, 1978, Performance, Palazzo dei Congressi, Bologna

 

Notationen als Handlungsanweisung: Poem / Opera, The Divided Person

Eine Notation als Anleitung bzw. als eine Choreographie zu denken, setzt ein ungeahntes Potential frei, das Horwitz in verschiedenen Formaten verarbeitet. Die 1978 im Palazzo de Congressi in Bologna umgesetzte Performance Poem / Opera, The Divided Person (Abb. 2) basiert auf einer vorangegangenen Notation mit dem Titel Sonakinatography Composition III (Abb. 3). In einem Interview erklärt Horwitz die spezifische Funktion dieser Notationsform:

Sonakinatography III is a notation system for business. In this system I was interested in taking the complexity of many entities and notating them into a simple graph.“ [McCoy1974: 36]

Was Horwitz als „business“ bezeichnet, kann im Hinblick auf ihre Performance als „Handlungen“ übersetzt werden, die zwar in einem bestimmten Rahmen vorgegeben sind, aber dennoch einen gewissen Handlungsspielraum bieten. Die Arbeit Sonakinatography Composition III bildet die Basis für die Handlungsanweisung. Auf einem gerasterten Papier zeichnet Horwitz acht Graphen ein, die entlang einer Zeitstruktur mit acht unterschiedlichen Sets von Adjektiven, die den menschlichen Charakter beschreiben, ausgestattet werden. Die Verteilung der Adjektive auf den jeweiligen Graphen wird mittels eines Zahlengrids ermittelt, der sich am linken unteren Ende des Blattes befindet. Jene acht Graphen werden im nächsten Schritt auf acht Papierrollen übertragen. Acht Performer lesen während der Performance die Adjektive laut vor, die auf dem ihnen jeweils zugeteilten Graphen notiert sind. Der Vorgang des Vorlesens geschieht im Takt eines Metronoms. Die acht Sets wurden von Horwitz so gewählt, dass die Adjektive in ihrer achtkanaligen Gegenüberstellung die Dichotomien des menschlichen Charakters aufzeigen.[5] Durch die stete Taktung des Metronoms entsteht ein klarer Rhythmus. Während des Ablesens rollen die Performer Handgriff für Handgriff das Skript ab. Indem die Notation nicht nur in eine Handlungsanordnung übersetzt wird, sondern auch ein sichtbarer Teil der Performance wird, tritt die unmittelbare Handhabung der Schriftrolle ins Zentrum der Performance. Während die Performer von ihrem Skript die Adjektive zum Takt des Metronoms ablesen, bilden sie jeweils eine Einheit mit ihrer Schriftrolle.

 

Abb 3: Channa Horwitz, Sonakinatography Composition III, 1978, Foto: Timo Ohler

 

Es zeigt sich hier, dass Horwitz sich mit dem Medium des Manuskriptes, also einer Vorform des Buches, auseinander gesetzt hat. Ihr Handlungsspielraum erweitert sich. Horwitz bezieht ihre Inspiration aus der Musiknotation. Bei dieser Notationsform ist der Akt des Ablesens bzw. des nach den Noten Spielens ganz wesentlich, sei es während der Probe oder der Aufführung selbst. Das Notenblatt ist von elementarer Bedeutung für das Gelingen der Handlung.

Bereits der erste Teil des Titels Poem/Opera spielt auf den musikalischen, zugleich auf den narrativen Charakter des Werkes an. Die Komplexität der Notation veranlasst die Künstlerin dazu, ein ausgeklügeltes Sprach- und Zeichensystem zu entwerfen, welches sie in der Sonakinatography Composition III festlegt. Das Spiel mit den Zahlen – in diesem Fall wurden den Zahlen Eigenschaften zugeordnet – scheint sich zu verselbstständigen. Die einzelnen Stimmen bilden während der Performance eine kontrollierte Kakophonie. Die Worte überschneiden sich. Für das Publikum ist nicht ersichtlich, nach welchem Prinzip und in welcher Abfolge die jeweiligen Worte abgelesen werden. Lediglich das Metronom gibt unermüdlich den Takt vor.

Betrachtet man die scheinbar unkontrollierte Kakophonie, könnte sie als forciertes Mittel interpretiert werden zum Ausdruck der Zerrissenheit des menschlichen Charakters. Der zweite Teil des Titels The Divided Person würde diesen Aspekt unterstreichen. Doch ist es nicht der Kontrollverlust, der hier an die Oberfläche kommt, es ist wohl eher von einer kontrollierten Verselbstständigung zu sprechen, die vorab schon in einer Matrix von der Künstlerin festgelegt wurde. Ein zentrales Mittel in der künstlerischen Praxis von Channa Horwitz ist eben gerade die Matrix und die daraus resultierende Form.

 

Suite 8 – Einblicke in das künstlerische System

Das Unterfangen, die künstlerische Idee in das Buchformat umzusetzen, bot Channa Horwitz ein neues Experimentierfeld. In den 1960er Jahren hatten Künstlerkollegen wie Ed Ruscha oder Sol LeWitt bereits begonnen, sich dem künstlerischen Potential des „Büchermachens“ zu widmen.[6] Das Werk Suite 8 stellt Horwitz’ erste Auseinandersetzung mit dem Format des Leporellos dar. Es besteht aus acht Lithographien, die von dem in Los Angeles ansässigen Buchdrucker Edward Hamilton auf Büttenpapier gedruckt wurden und in einer Auflage von 30 Exemplaren erschienen sind. Das Leporello misst im geschlossenen Zustand 56,5 x 52,7 cm und befindet sich in einem Plastikcover.[7] Zunächst werden elf Faltungen sichtbar. Die oberste Faltung gibt den Titel sowie den Namen der Künstlerin preis. Die schnörkellosen Buchstaben scheinen über sich selbst hinauszuwachsen. Diese Bewegung nimmt die Mutation der geometrischen Formen im Innenteil des Leporellos vorweg. Unterstützt wird dieser Eindruck von den größer werdenden Dreiecken, die unter den Falten hervorschauen und nach rechts zeigen. Diese minimale Andeutung verstärkt die Ausrichtung des aufklappbaren Leporellos.

Das Werk lässt sich also Schritt für Schritt entfalten. Was sich der betrachtenden Person eröffnet, ist eine sich in acht Phasen entwickelnde Figur, die vom Betrachter aktiv aufgeklappt werden muss. Die acht Phasen bestehen jeweils aus einer Zahlenmatrix sowie einer dazugehörigen Formation. Das sich auftürmende, wie in die Höhe strebende Gebilde wird sich in den folgenden Schritten ausdehnen. Die Richtung ist bereits vorgegeben. Die Formierung bildet sich nach rechts oben aus. Von Schritt zu Schritt verändern sich die Zahlenmatrix und sukzessive auch die geometrische Formation. Je weiter die Zählung voranschreitet, desto komplexer wird die Form. Dabei ist jede der acht Matrizen mit dem einfachen Satz „One, Eight Times“, „Two, Eight Times“ usw. untertitelt. Dieser Satz wird von der Künstlerin bis acht durchgezählt und dient gleichzeitig als Anweisung.

Diese Anweisung erscheint sehr simpel; wird sie wörtlich befolgt, ergibt sich aber ein komplexes Zahlenspiel mit höchst genauen Regeln. Indem Horwitz die Zahlenreihen übereinander auflistet, scheint sich das Zahlenspiel auszubreiten. Die rätselhafte Zahlenmatrix wird in darüber ausgeschriebenen Worten buchstäblich übersetzt. Das Zusammenspiel der aufgeschlagenen Seiten zeigt, dass die geometrische Figur eine graphische Ausformulierung der rätselhaften Kombination aus Ziffern und Worten darstellt.

Der lustvolle Umgang mit den Zahlenspielen motiviert Horwitz dazu, die acht Zahlen auf den nächsten Seiten regelrecht durchzudeklinieren. Regelrecht ist hier im tatsächlichen Sinne zu verstehen. Neben jeder weiteren sich verbreitenden geometrischen Form taucht links davon stets eine Zahlenmatrix auf, die das Gebilde in acht Zahlen berechnet.

Die acht Formen und ihre entsprechende Berechnung korrelieren im Format des Leporellos. Das Vorhaben, ihre Zeichnungen medial zu inszenieren, wird durch die Entscheidung für das gefaltete Format verdeutlicht. Es geht Horwitz darum, dem Betrachter einen Entwicklungsprozess visuell verständlich zu machen, der gleichzeitig von äußerer Hand in Bewegung gesetzt werden muss. Dabei bedingen sich Form und Inhalt. Die Falttechnik des Leporellos sowie die ausgreifende geometrische Formation deuten die Linearität der bildimmanenten Bewegung an. Diese Beobachtung zeigt nicht nur ihr lineares Zeitverständnis, sondern unterstreicht auch den Wunsch, den Betrachter als eine Art Performer zu involvieren, der ihre Notationen aktiv nachvollzieht:

„Ich sehe Zeit als lineares Fortschreiten von Momenten. Es ist genau wie beim Gehen; und so gehe ich durch die Zeit. Die meisten meiner Performances haben damit zu tun, allerdings erschaffe ich nicht die Performances, sondern sie sind eine Interpretation meiner Notation.“[8]

Die bildimmanente und die haptische Komponente des Werkes greifen augenscheinlich ineinander. Die angedeutete Bewegung ihrer Notation wird vom Betrachter aktiv aufgegriffen, ja selbst in die Hand genommen. Die Handhabung des Leporellos durch den Betrachter ist gleichermaßen wesentlich für die Entstehung der äußeren Form des Mediums wie auch für dessen Inhalt. Das Zusammenspiel von Text und Bild nimmt demnach Einfluss auf die äußere Formwerdung, genauer gesagt auf die Faltung des Mediums.

Will man dieses Werk im wahrsten Sinne begreifen, so stellt es gewisse Herausforderungen an seinen Betrachter. Das Leporello ist im strengen Sinne nämlich ein Sonderformat, denn es lässt sich so auffalten, dass die Seiten nebeneinander aufgerichtet stehen können. Diese Möglichkeit bietet sich beim klassisch-gebundenen Buch nicht, denn hier folgen die Seiten aufeinander, sodass der Betrachter stets lediglich eine aufgeschlagene Doppelseite anschauen kann. Der Gesamteindruck ergibt sich bei einem klassischen Buch also erst sukzessive beim Akt des Durchblätterns. Das Leporello hingegen kann in diesem Fall ganz aufgeklappt werden. Sein Inhalt entblättert sich förmlich vor dem Auge des Betrachters. In der direkten Handhabung durch den Betrachter kann Körperlichkeit und Materialität erfahrbar gemacht werden.

Doch wie können diese Faktoren in der Ausstellungspraxis zugänglich werden? Auch wenn das Buch generell dazu einlädt, in die Hand genommen und durchgeblättert zu werden, ist dies aus konservatorischen Gründen meist nicht möglich. In unserem Fall besteht das Werk aus empfindlichem Büttenpapier, das an einigen Stellen kaum merklich zusammengeklebt wurde, da die Klebefalz in den Falten verschwindet. Nichtsdestotrotz ist es zum Ausklappen vorgesehen. Dazu verleitet in erster Linie auch der Titel des Werkes, Suite 8. Suite ist normalerweise ein Begriff der vornehmlich in der Musik Verwendung findet. Eine Suite (frz. suite = Reihenfolge) beschreibt eine Folge von schnellen oder langsamen Sätzen gleicher Tonart. Die Instrumental- oder Orchesterstücke werden in einer vorgegebenen Abfolge ohne längere Pausen gespielt [Blume 1989: 1704].

Die Verwendung des Begriffs im künstlerischen Kontext suggeriert die Übertragung des musikalischen Sujets in das Untersuchungsfeld der Künstlerin. Horwitz macht sich das musikalische Konzept zu eigen und transformiert es zu ihren Gunsten. Wendet man die klassische Definition auf das Werk der Künstlerin an, wird zunächst deutlich, dass die acht Entwicklungsstufen unmissverständlich aufeinanderfolgen. Die Abfolge der acht Phasen ist also klar vorgegeben. Nicht aber die Zeit, in der die Entwicklung, genauer gesagt die Entfaltungen der 8, vonstattengehen sollen. Der wesentliche Punkt ist nun, wie das Werk präsentiert wird: Darf der Betrachter das Leporello selbst aufklappen, entfaltet das Werk sein gesamtes Potential. Wird das Werk jedoch in einer Vitrine bereits ausgeklappt präsentiert und verwehrt sich auf diese Weise der Handhabung durch den Betrachter, bleibt der performative Aspekt der Arbeit auf der Strecke. In der Vergangenheit wurde das Werk sogar lediglich halb aufgeklappt präsentiert, so beispielsweise in der Ausstellung im KW Institute for Contemporary Art Berlin (Abb. 4).[9] Denn das Werk Suite 8 versteht sich über seine künstlerisch-ästhetische Funktion hinaus als ein Gebrauchsgegenstand im buchstäblichen Sinne, an den wahrhaftig Hand angelegt werden soll.

 

Abb 4: Channa Horwitz, Suite 8, 1978 Ausstellungsansicht, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 1969, Foto: Timo Ohler

 

Erika Fischer-Lichte charakterisiert Gebrauchsdinge als performativ, da einerseits ihr Gebrauch die Form bestimmt und andererseits die Form die Handhabung beeinflusst [Fischer-Lichte 2013: 168]. Wenn wir diese These auf das im Fokus der Betrachtung stehende Werk beziehen, kann die Frage, wie das Leporello als mediales Konzept der Künstlerin agiert und wie es vom Betrachter wahrgenommen werden kann, möglicherweise besser beantwortet werden. Um das Werk Suite 8 zu begreifen, muss die Handlung des Auffaltens durch den Betrachter persönlich vollzogen werden. Dies liegt in der Ursache des Gegenstandes begründet. Das zusammengefaltete Buchobjekt enthüllt seinen Inhalt erst während seiner aktiven Entfaltung.

Der performative Akt des Entfaltens wird von der Künstlerin genutzt, um ihre künstlerische Idee erfahrbar zu machen. Die Erfahrung besteht darin, das Werk Schritt für Schritt zu entfalten, um auf diese Weise die Progression der geometrischen Figur zu verstehen. Diese Progression kann live miterlebt werden, da der Betrachter diese sozusagen selbst in Gang bringt. Durch den Akt des Auffaltens wird die Bilderfolge in Szene gesetzt. Der Betrachter kann diesen Prozess des Begreifens selbst steuern. Eine zeitliche Vorgabe gibt es nicht. Die entstandene Einheit zwischen Betrachter und Leporello sorgt für eine intime Beziehung. Die künstlerische Idee kann sich unter diesen Bedingungen frei entfalten. Auch die Performance Poem / Opera, The Divided Person lässt sich unter dem Aspekt der performativen Einheit diskutieren. Hier wirken ähnliche Kräfte. Handhabung und Format bedingen sich gegenseitig.

 

Das gefaltete Archiv

Die Darstellung von Bewegung ist von wesentlicher Bedeutung für Channa Horwitz’ Werke. Die Verbindung von Erläuterung und konzeptueller Ausführung steht im Zentrum ihrer künstlerischen Experimente. Bei der Ausführung ihrer Notation lässt sich die Beinahe-Perfektion beobachten. Diese wird einerseits in der minutiös ausgeführten Zeichnung bei gleichzeitiger Befolgung strenger Regeln erkennbar, andererseits wird sie durch die handschriftlichen Erläuterungen aufgebrochen. Der Perfektion zum Trotz verwendet Horwitz stets ihre persönliche Handschrift, um die konzeptuelle Ausführung zu erklären. Die inhaltliche Entwicklung des Leporellos verläuft in großer Nähe zu ihren übrigen Werken. Schließlich geht es Horwitz darum, eine künstlerische Idee umzusetzen und im Rahmen der von ihr aufgestellten Regeln eine Progression zu entwickeln, die sich scheinbar ihrer Kontrolle entzieht.

Die serielle Ausführung verfolgt dabei nicht das Ziel, ein mystisches Objekt zu entwerfen. Die Künstlerin nutzt vielmehr das Format des Leporellos zur Katalogisierung ihrer Formenexperimente. Auf diese Weise gelingt es Horwitz zugleich, ihre Versuchsergebnisse zu archivieren. Dieses Archiv im Buchformat ermöglicht ein Eindringen in die konzeptuelle wie ästhetische Untersuchung der seriellen Entwicklung. Durch die Möglichkeit, das Leporello vollständig zu entfalten, legt Horwitz das ihrer künstlerischen Praxis zu Grunde liegende System offen. Indem der Betrachter das Geheimnis der Progression Schritt für Schritt entfaltet und somit eine performative Einheit mit dem Objekt bildet, offenbart sich die gesamte Schönheit von Suite 8. Horwitz gebraucht also das Format des Künstlerbuches ganz im Sinne ihres Zeitgenossen Sol LeWitt, der die Funktion dieses Mediums wie folgt auf den Punkt gebracht  hat: „Artists’ books are like any other medium, a means of conveying art ideas from the artist to the viewer/ reader.“ [LeWitt, 1976:10].

 

 

Alle Abbildungen in diesem Text: Copyright Estate Channa Horwitz, Los Angeles.

© Estate Channa Horwitz, Los Angeles.

 



[1] Die kinetische Kunst wird in der deutschsprachigen Literatur von Frank Popper eingeführt (Popper 1971). Besonders Umberto Eco prägte die wissenschaftliche Perspektive auf die kinetische Kunst und die Op Art mit seiner Theorie über das Offene Kunstwerk (Eco 1962).
[2] In der Performance-Serie 9 Evenings: Theatre and Engineering, die 1966 in New York stattfand, bündelte sich die Zusammenarbeit von KünstlerInnen und Ingenieuren. Dieses Konzept wurde von der kalifornischen Kunstszene begeistert aufgenommen, hatten sich solche Tendenzen der Zusammenwirkung bildender Kunst und industrieller Fertigungsprozesse doch bereits bei den VertreterInnen der sogenannten „Finish Fetish“ und der „Light and Space“-Bewegung abgezeichnet, also zwei künstlerischen Strömungen, die gemeinhin unter dem Begriff „LA Look“ zusammengefasst werden (Rivenc 2011).
[3] lateinisch sonus für „Ton“; griechisch κίνησις (kínesis) für „Bewegung“; griechisch γράφειν (gráphein) für „schreiben, zeichnen“.
[4] Weitere Ausführungen von Horwitz’ Notationen finden in den folgenden Jahren vor allem im Umfeld des California Institute of the Arts statt wie z. B. Bannister Happening (1970) und Bannister Performance (1971). Letzterer liegt eine Variation der Sonakinatography III zu Grunde, die von PerformerInnen in ein Treppenhaus übertragen wird.
[5] Diese Performance wurde 2012 im Rahmen des New Yorker High Line Art Performance Program re-inszeniert (High Line Art 2012).
[6] Die Möglichkeit, Künstlerbücher in hohen Auflagen kostengünstig zu produzieren, sodass diese zu erschwinglichen Preisen vertrieben werden konnten, trägt dem Bedürfnis der Fluxus Bewegung und der Conceptual Art Rechnung, die eine Demokratisierung der Kunst forderten. In ihrem Essay „The Artist’s Book Goes Public“ nimmt Lucy Lippard auf eben dieses Phänomen Bezug. Sie stellt weiterhin fest, dass es Künstlern wie Ed Ruscha zu verdanken ist, dass das Buch als legitimes Mittel der visuellen Kunst wahrgenommen werden kann (Lippard 1977: 40).
[7] Vgl. http://primo.getty.edu/GRI:GETTY_ALMA21125730240001551 (31. 10. 2017).
[8] Interview Georg Schöllhammer und Johannes Porsch mit Channa Horwitz (Gareis, Schöllhammer, Weibel 2013: 146-151, hier 151).
[9] Zuletzt in Raven Row, London gezeigt, widmete das KW Institute for Contemporary Art Berlin der Künstlerin 2015 die bislang umfangreichste Einzelausstellung. Die Ausstellung Channa Horwitz: COUNTING IN EIGHT, MOVING BY COLOR wurde von Ellen Blumenstein in Zusammenarbeit mit dem Estate Channa Horwitz kuratiert.

 

 

Literatur

Blume, Friedrich. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 12. München 1989.
Eco, Umberto. „Arte programmata: arte cinetica, opere moltiplicate, opera aperta“. In: Arte Cinetica – Arte programmata. Ausst.-Kat. Negozio Olivetti, Mailand 1962.
Fischer-Lichte, Erika. Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2013.
Gareis, Sigrid, Georg Schöllhammer, Peter Weibel. Moments: eine Geschichte der Performance in 10 Akten. Ausst.-Kat. ZKM Museum für Neue Kunst, Karlsruhe / Köln 2013.
McCoy, Ann. „Channa Davis Horwitz: An Interview“. In: Journal, Los Angeles Institute of Contemporary Art. 1974, Vol. 2: 35-37.
LeWitt, Sol. “Statement”. In: Art-Rite. 14/ 1976.
Lippard, Lucy. “The Artist’s Book Goes Public”. In: America. 65, 1/ 1977.
Popper, Frank. Die kinetische Kunst: Licht und Bewegung, Umweltkunst und Aktion. Köln 1971.
Rivenc, Rachel. The LA Look from Start to Finish: Materials, Processes, and Conservation of Works by the Finish Fetish Artists. Getty Conservation Institute, Los Angeles. In: https://www.getty.edu/conservation/our_projects/science/art_LA/article_2011_icom_cc.pdf.
High Line Art. "Channa Horwitz Poem/Opera, The Divided Person." In: http://art.thehighline.org/project/channahorwitz/.

 

 

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