Digitale Bilder und tänzerische Notationen. „The Mind Machine of Dr. Forsythe“ und „The Way of the Weed“

Anne Quirynen (Berlin)

 

 

Installationsansicht The Mind Machine of Dr. Forsythe,
© Lambrechts, Missotten, Quirynen

 

In meinen Projekten suche ich nach Formen und Praktiken, die die Hybridisierung von Medien hervorbringen, und die Künstler_innen verschiedener Disziplinen zusammenbringen. Die interdisziplinäre Arbeit mit Tänzer_innen, Performer_innen, Musiker_innen und Autor_innen ist Ausgangspunkt und Nährboden für meine Produktionen und macht die Zusammenarbeit mit anderen zu einem wesentlichen Aspekt meiner künstlerischen Arbeit.

Meine Arbeit als Filmemacherin nahm ihren Lauf im Rahmen der medizinischen Forschung an der Universität Leuven und der Beschäftigung mit den performativen Künsten am Vlaams Theater Instituut in Belgien. Beides prägte meine Annäherung an den menschlichen Körper. Während sich mir dessen Materialität, seine physische Beschaffenheit immer weiter erschloss, stellte ich Versuche an, die klinische Arbeit, die den Körper als 'biologisches Faktum' beschreibt, mit philosophischen Ansätzen aus den performativen Künsten zu verknüpfen – beide erscheinen mir als Grundlagen von Leben und Tod.

Die Zusammenarbeit mit dem Choreografen William Forsythe und seinen Tänzer_innen am Ballett Frankfurt (1991-1997) erweiterte mein Interesse von der rein materiellen Konstruktion des Körpers hin zu seinen Bewegungen und Transformationen. In den 1990er Jahren hat William Forsythe mit Tänzer_innen des Ballett Frankfurt an einem geometrischen Alphabet gearbeitet, das die klassische Form – die Position von Körpern im Raum – radikal befragt und geändert hat. Im Dokumentarfilm Dance I think the body likes to move (Anne Quirynen, 1991) erklären die Tänzer_innen und William Forsythe diese Tanzmethoden, die u.a. in Limb’s Theorem (William Forsythe, 1989) genutzt werden. Es handelt sich um eine tänzerische Schrift mit gebrochenen Bewegungslinien in einem dreidimensionalen Raum, in dem der Körper in eine Vielzahl von Bewegungszentren zerfällt. Dabei untersuchten sie Tanz als ein komplexes System von Informations-verarbeitung in Analogie zur Computerprogrammierung. „Der ausschlaggebende Punkt beim Improvisieren ist es, das Verschwinden darzustellen“, erklärt Forsythe in Dance I think the body likes to move (1991). Oder, wie es Gabriele Brandstetter an anderer Stelle formulierte: „In diesem Prozess der Bewegungserinnerung in der Zukunft werden immer auch Bilder gelöscht und durch andere ersetzt.” (Brandstetter 2000: 110)

Wie man diesen Prozess der Erinnerung von Bewegung in ein digitales, zweidimensionales Bewegtbild überführt, hat mich interessiert. Digitale Bilder befragen die Prozesse von Erkennen und Wahrnehmung. In diesem Sinne ist es mein Ziel, die Grenzen des Bildes zu verschieben, um Gedankenbilder zu erschaffen, die vom Auge nicht gesehen werden können. Forsythes Stücke sind durchdrungen von Instabilität und spielen mit der Grenze der Wahrnehmung.

Diese Auseinandersetzung führte zu meinen frühen Kollaborationen mit Peter Missotten und An-Marie Lambrechts, wie zum Beispiel bei The Mind Machine of Dr. Forsythe (1993, Installation) und bei The Way of the Weed (1997, Film).

 

Filmstill The Mind Machine of Dr. Forsythe, © Lambrechts, Missotten, Quirynen

 

Die Videoinstallation The Mind Machine of Dr. Forsythe wurde mit neun Tänzer_innen des Balletts Frankfurt parallel zu den Proben von William Forsythes Produktion Alien/a(c)tion (1992) entwickelt. Wir haben damals für die Videoinstallation ein gläsernes Filmset realisiert und mit dem Konzept des Restbilds und der Begrenzung der Tänzer_innen durch den Bildrahmen gearbeitet. Im Aufnahmestudio wurde eine lichtdurchflutete Plexiglasscheibe zum Arbeitsbereich der Tänzer_innen. Wir vereinfachten die Funktion der Kamera so weit, bis sie zu einem fast wissenschaftlichen Aufzeichnungsgerät wurde. Die Kamera, feststehend unter der Plexiglasscheibe, registriert geduldig jede Bewegung, jede Spur, jeden Kontaktpunkt von Körper und Glas/Bildfläche. Der Kamerarahmen war – abgesehen von der Gravitation – die einzige absolute Grenze für die Tänzer_innen, die konsequent auf ihre physische Identität zurückgeworfen wurden. Der Begriff „Restbild” umschließt „Rest”, „Rückstand”, „Nachbild”, „Spur”, „Schrift”. Auf der Glasplatte hinterlassen die Bewegungen der liegenden Tänzer_innen z.B. durch die Schuppen der Haut Spuren, Flecken, Kratzer, die ihrerseits wiederum als Inspiration und Ausgangspunkt für neue Bewegungen genutzt wurden. Die Videoinstallation bildet die Spuren all dieser Bewegungen ab. Als neue Bewegungsmaterial-Oberfläche offenbart die Kamera dabei auch todbringende Qualitäten: Das Kameraauge friert Bewegungen ein, es fossilisiert den Tänzer, bis der zur biologischen Kuriosität wird.

„Der Betrachter bewegt sich in einem abgedunkelten Raum mit sechs gigantischen und kantigen Stahlkonstruktionen. An ihnen sind Glasplatten befestigt, die über dem Boden schweben. Von weit oben wirft ein Projektor Bilder auf das Glas; die unregelmäßig changierenden, flimmernden Figuren füllen den Raum mit einem zart flackernden Gefühl der Ruhelosigkeit. Die Körper der Frankfurter Ballett-Tänzer_innen schaffen einen verwirrenden Verfremdungs-effekt in den horizontalen glatten Ebenen der sechs Glasplatten.“ (Boxberger 1996: 34-35, dt. von AQ)

Die Betrachter_in schaut dabei von oben auf die Glasplatte, nimmt aber eigentlich die Position der Kamera ein, und sieht die Körper also von unten. Der Atem der Tänzer_innen bildet zusammen mit den hörbaren Schleifspuren der Körper und unterlegten Geräuschen eine akustische Hintergrundkulisse.

 

Filmstills The Way of the Weed, © Lambrechts, Missotten, Quirynen

 

In The Way of the Weed wird die Medialisierung des Körpers weiter problematisiert und in einen digitalen Science-Fiction-Film überführt: der Film bringt die Möglichkeiten und die Zukunft digitaler audiovisueller Praktiken mit den Körperbewegungen der Tänzer_innen des Ballett Frankfurt zusammen. The Way of the Weed spielt mit den Anfängen digitaler Videotechnik; hochaufgelöste Bilder einer digitalen Betacam stehen neben rauschenden Standard-Videobildern einer kleinen digitalen Kamera und neben niedrig aufgelösten Schwarzweißbildern einer Überwachungskamera. Seit Beginn der 1980er Jahre sollen Rechner und Software dabei helfen, Datenmengen auszuwerten und sicht- und hörbar zu machen. Der Film reflektiert die Zusammenhänge von Computer, grafischer Benutzeroberfläche und Tanz auf poetische Art und Weise.

Inspirationen waren u.a. der Roman Locus Solus von Raymond Roussel, in dem der Wissenschaftler Canterel eine Gruppe Gäste durch seinen weitläufigen Park mit dem Namen Locus Solus führt.[1] Der Universalgelehrte hat dort Skulpturen und phantastische Experimentalanordnungen aufgestellt, die die Gruppe hintereinander abläuft. Einige dieser Laborsituationen (u.a. Danton’s Kopf in einem Wasserbassin) waren für den Film inspirierend. So entstanden der Wassertank (der Nasse Raum), der Gesichtsscanner (der Trockene Raum) und der Zwischenraum (das Labyrinth) in The Way of the Weed.

Der Forscher, dargestellt von Thomas McManus, wird in einer Wüste ausgesetzt und soll alles über ein altes Unkraut-Experiment des obskuren Pflanzenforschers William F. herausfinden. Er durchschreitet systematisch die Weite der öden Wüstenlandschaft, erklimmt Bergkämme, erfasst Terrain, sucht Eingänge in den Untergrund. Es gelingt ihm, sich in William F.’s Computer einzuhacken, und er ist fassungslos: Anstelle einer Datenbank über Unkraut und dessen Verbreitung findet er eine Datenbank des Teams der Unkraut-Forscher - oder besser gesagt dessen, was von ihnen übriggeblieben ist. Am Anfang erkennt der Forscher die visualisierten Daten nicht, er kann sie nicht einordnen. Als er die komatösen Körper des Forscherteams in dem verlassenen Untergrund-Laboratorium findet, ist er überfordert; „Too much data“ und „I am not equipped to handle that stuff“, lauten die Einträge in seinem digitalen Forschungstagebuch.

 

Filmstills The Way of the Weed, © Lambrechts, Missotten, Quirynen

 

„Too much“ – ein Überschuss, der ihn nicht mehr loslässt. Er platziert die Daten/Körper/Pflanzen in unterschiedlichsten Konstellationen in einen Wassertank, in dem sie in Bewegung kommen. Der Forscher, der uns als Betrachter_innen doppelt, beobachtet und er versucht, die Bewegungen für sein Tagebuch zu beschreiben – bei der medialen Transformation in Sprache nach Worten suchend und merklich zögernd. Thomas verliert sich mehr und mehr in seiner methodischen Untersuchung; der Versuch der Erfassung, Beschreibung, Analyse, der Extraktion von Wissen scheitert dabei zunehmend.[2] Durch Verfahren des Ausprobierens – McManus begibt sich in den Wassertank mit den verschiedenen Körpern – sollen unterschiedliche Prozesse der Untersuchung angestoßen werden.[3] In seinem Forschungslager in der Wüste reaktiviert er die Bewegungen aus seiner Körpererinnerung, um sie dann in wissenschaftlich nutzbare Notationen zu übersetzen. The Way of the Weed untersucht die Umsetzung von Körperbewegungen in eine ästhetische algorithmische Computersprache; das Programm ‘der Natur’ wird von der digitalen Technik transformiert. „Wie in einer Reflexion der zeitgenössischen Diskurse um die DNA als Programm des Lebens überlegt Thomas, ob die Bewegungen der Körper einem vorangehenden Code entspringen, der die Individuen agieren lässt, ohne dass dieser ihnen bewusst wäre.“ (Hanke 2015: XXXVIII) Die imaginierten Formen schreiben sich in das körperliche Gedächtnis von Thomas ein, das diese Spuren wieder verarbeitet. Der Code wird ständig umgeschrieben. Dieses Umschreiben weist gleichzeitig auf ein Paradox der digitalen Maschinen: „What does not change, does not endure, yet change – progress (endless upgrades) – ensures that what endures will fade.” (Chun 2013: 101)[4]

Der Forscher verändert seinen Gegenstand, der Gegenstand wiederum den Forscher. Sie stecken sich an. Handlungsmacht ist dabei auf menschliche und nicht-menschliche Akteure verteilt. „Am Ende taucht Thomas selbst in den Wassertank – er begibt sich in das Medium der Verlebendigung, das sich allerdings auflöst in farbiges, streifenförmiges Bildrauschen.“ (Hanke 2015: XL) Das Medium zieht den Körper des Forschers unwiderruflich in den Bereich des Untersuchten und des digitalen Codes hinein. An der Stelle, an der Thomas am Anfang versucht hat, sich in die Datenbank von Dr. F. einzuhacken und dabei die Visualisierung der „Unkraut“-Forschung zu verstehen, befindet er sich am Ende im digitalisierten Archiv/Gedächtnis des Forschungsteams. Sein Körper schwebt im rot beleuchteten Wassertank, zusammen mit dem Bild des abgetrennten Kopfes von William Forsythe, in Erwartung, vom nächsten Forscher/User wieder geschrieben/gelesen/animiert zu werden.

 

 



[1] Andere Inspirationen waren u.a. Paul Auster: White Spaces, New York 1980; David Lynch und Mark Frost: Twin Peaks, 1990; Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom, Berlin 1977; Jorge Luis Borges: Book of Imaginary Beings, Buenos Aires 1969.
[2] Siehe dazu Knaup 2015: XXIV - XXXI.
[3] Christine Hanke analysiert den Wassertank als Medium: „Dieses Medium (d.i. wasserähnliche Flüssigkeit, BB) versetzt die Körper in einen gravitationsarmen Schwebezustand, in dem sie zu tänzerischen Regungen erwachen. Auch die Lichtbrechung des Wassers transformiert die Darstellung der Körper: Sie lässt sie eigentümlich vergrößert erscheinen. Auf diese Weise agiert der Wassertank gleichermaßen als Medium der Bewegung wie der Darstellung“. Hanke 2015: XXXVIII.
[4] Wendy Hui Kyong Chun analysiert ausführlich die Zusammenhänge zwischen Software und Biologie. Siehe Chun 2013: 101 -131.

 

 

Literatur
Edith Boxberger. „An-Marie Lambrechts, Peter Missotten & Anne Quirynen The Mind Machine of Dr. Forsythe". In: Art and Video in Europe. Electronic undercurrents. Exhibition Catalogue Statens Museum for Kunst. Kopenhagen 1996: 34-35.
Gabriele Brandstetter. „Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung". In: Gabriele Brandstetter und Hortensia Völckers (Hg.). ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung. Ostfildern-Ruit 2000: 102-134.
Wendy Hui Kyong Chun. Programmed Visions. Software und Memory. London 2013.
Christine Hanke. „Im und mit dem Visuellen über das Visuelle denken. Von Bildern, Landschaften und Körpern". In: Lena von Geyso und Anne Quirynen (Hg.). Reflections into Thousand Pieces. Videos und Installationen von Anne Quirynen. Berlin 2015: XXXII - XLIII.
Bettina Knaup. „Von tanzenden Pflanzenkörpern, Partikeln und Planeten: Affektive Ansteckungen in Anne Quirynens Videokunst". In: Lena von Geyso und Anne Quirynen (Hg.), Reflections into a Thousand Pieces. Videos und Installationen von Anne Quirynen. Berlin 2015: XXIV - XXX.

 

 

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