„Your task is one of abstraction.” Wie Babette Mangoltes Filme für Trisha Browns Choreografien eine mediale Form finden.

Sabine Nessel / Linda Waack (Berlin)

 

 

 

I. Wiederaufnahme[1]

Im März 2011 wurde eine der bekanntesten Arbeiten der Choreografin Trisha Brown – ihr Solo Water Motor von 1978 – im Rahmen des New York Dance Theater Workshop (DTW) anlässlich eines Programms der Trisha Brown Dance Company wiederaufgenommen. Nach 33 Jahren wurde die Choreografie erstmals wieder live aufgeführt, diesmal von dem Tänzer Neal Beasley anstatt von Trisha Brown selbst. Zeitgleich war im Foyer des DTW in kontinuierlichem Loop ein Film der Originalfassung, Babette Mangoltes Water Motor von 1978, zu sehen [Rosenberg 2012]. In der kuratorischen Engführung beider Versionen wurden im Großen und Ganzen zwei Möglichkeiten, ein Tanzstück zu archivieren und zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu zeigen, vorgeführt: die Wiederaufnahme mit anderen Tänzern und Tänzerinnen und die Aufführung einer Aufnahme der Choreografie in bewegten Filmbildern.

Während die Interpretation von Neal Beasley ihren Reiz gerade in der Differenz bestätigte, in der Aneignung der Bewegungen durch den anderen Körper, im historischen Abstand der Tanzstile, vielleicht in der Geschlechterdifferenz, kam dem Film im Foyer der Status des historischen Artefakts zu. Seine Platzierung im Raum bindet die Choreografie an eine Vor-Vergangenheit, in der Choreografin und Tänzerin zum Verschmelzen gebracht sind – ein Verhältnis, das vermeintlich erst die Wiederaufführung des Tanzes aufzulösen und zu vitalisieren vermag. Der Film bleibt dabei in sekundierender Funktion zum Tanz, obwohl, oder gerade weil er den in den vergangenen Jahren abwesenden Tanz als Original längst ersetzt hat. Dass der Film Water Motor ungleich mehr leistet, vermag ein genauerer Blick auf die Aufnahme im Kontext anderer Filme von Babette Mangolte, um die es uns im Folgenden gehen wird, zu eröffnen. Dabei steht weniger die Indexikalität des Films – seine Beweiseigenschaft gegenüber dem Tanzereignis von 1978 – im Zentrum, als vielmehr eine spezifische Form, Bewegung zu modulieren und zu reflektieren [Gunning 2007].[2] Es geht darum, die spezifisch filmische Signatur, die Mangoltes Arbeiten charakterisiert, zu bestimmen und ihre ästhetischen Entscheidungen mit Diskursen der Filmgeschichte und Filmtheorie zu verschalten. Nicht allein die diskursive Konstellation Brown/Mangolte in einer feministischen Film-Tanzgeschichte steht dabei im Zentrum, sondern filmische Eigenschaften, die über die Einschätzung von Mangolte als bloßer Chronistin hinausweisen.

 

II. Zwischen lyrischem und strukturellem Experimentalfilm

Babette Mangolte taucht nach Abschluss ihrer Ausbildung an der École Nationale de la Photographie et de la Cinématographie im New York der 1970er Jahre zwischen Judson Church und Greenwich Village in für die Avantgarden der Zeit typischen Konstellationen auf. Ihre Filme bewegen sich, so schlägt Malcom Turvey vor, zwischen den zwei unfesten Positionen, die Mitte der 1970er Jahre die New Yorker Filmlandschaft bestimmen: zwischen dem lyrischen Experimentalfilm (Jonas Mekas) und dem strukturellen Experimentalfilm (Michael Snow) [Turvey 2004: 74]. Während der eine mit einem subjektiven Stil assoziiert wird, entwickelt der andere aus den Parametern des Mediums oder der Drehsituation Konzepte, für die neben planvollen technischen Vorgängen auch Bildkomposition und Rhythmus eine Rolle spielen. Daneben, so ließe sich die Sondierung des historischen Felds anhand dieser ästhetischen Programme fortführen, experimentieren Mangoltes Filme mit einem dritten Weg. In zwei zentralen Aspekten weichen ihre Filme sowohl vom strukturellen als auch vom Erbe des lyrischen Films ab.

Im Unterschied zum selbstreflexiven und analytischen akademischen Genre des structural film sucht Mangolte zum einen Anschluss an Aspekte minimalistischer Malerei, Skulptur, Tanz oder Performance und öffnet damit den selbstanalytischen Blick der Filme auf ein Außen, das in der Arbeit der anderen (zum Beispiel der Tänzerinnen) ausgemacht wird [Turvey 2004: 76]. Zum anderen reduziert sie Momente des Metaphorischen, Symbolischen und Ausdrucksvollen, die im lyrischen Film eine Rolle spielen, beziehungsweise eliminiert sie irgendwann ganz. An ihre Stelle tritt eine Ästhetik des Buchstäblichen; der Fokus liegt auf operativen Vorgängen, zeitlicher Dauer, Körpern im Raum. Resultat dieser formalen Reduktionen sind in ihrer Teilhabe an vorfilmischen Ereignissen zurückhaltende Filme, die das, was sie kinematografisch leisten, oft erst auf den zweiten Blick erkennbar werden lassen. Die Rücknahme von Darstellungsaspekten ist jedoch keine werkumspannende Eigenschaft von Mangoltes Filmen. Sie zeigt sich erst im Vergleich mit ihren älteren Arbeiten. Damit präsentiert sie sich nicht unbedingt in der Teleologie eines künstlerischen Prozesses, der sich retrospektiv als über Jahre andauernde Hinwendung zu einer strenger werdenden Form offenbart. Von einer Reduktion künstlerischer und technischer Eingriffe, Kamerabewegungen, Schnitt oder Ton, kann mit Blick auf Mangoltes ersten Film What Maisie Knew von 1975 kaum die Rede sein.

 

III. What Maisie Knew (1975)

Die Kamera führt eine tastende Bewegung aus. Der Akzent liegt auf der Erkundung von Körperpartien, deren Kodierung offenbleibt. Die Materialität der Haut und ihre sichtbare Struktur werden kontrastiert mit dem Stoffmuster der Bluse, dem Haaransatz und Nackenausschnitt. Daneben wird Musik eingesetzt – Fragmente aus einer Klaviersonate von Schubert – und es wird gesprochen. Schon die ersten Bilder des Films geben mehrere Bild- und Tonebenen zu erkennen, die der Film über die Dauer von 60 Minuten integriert und die teilweise wiederkehren. Dabei offenbart sich deutlich die Gestaltung, etwa in Bildern eines Zimmers im Nebel oder der Inszenierung einer Partitur, deren aufgeschlagene Seiten auf einer freudianischen Couch oder zerschnitten in Streifen inszeniert sind.

Während Mangolte in New York an What Maisie Knew arbeitet, schreibt die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey in London an ihrem später für die psychoanalytisch-feministische Filmtheorie der 1970er und 80er Jahre kanonischen Aufsatz Visual Pleasure and narrative Cinema, in welchem sie die Zerschlagung der monolithischen Codes des klassischen Hollywoodkinos fordert:[3]

„Der erste Schlag gegen die monolithische Akkumulation traditioneller Filmkonventionen (den radikale Filmemacher bereits geführt haben) hat zum Ziel, den Blick der Kamera zu befreien, ihre Materialität in Zeit und Raum herzustellen, den Blick des Zuschauers zu einem dialektischen zu machen, eine leidenschaftliche Trennung herbeizuführen.“ [Mulvey 2003: 408]

Mulveys Text endet mit der Forderung nach Befreiung der Kamera und des Blicks. Die konzeptuelle Idee von What Maisie Knew basiert ebenfalls auf einer Beschäftigung mit alternativen Blickstrukturen. Der Filmtitel, nach dem gleichnamigen Roman von Henry James, bildet einen Ansatz für ein Narrativ, welches nahe legt, dass wir es als Zuschauer_innen hier mit dem Entdecken der Erwachsenenwelt aus der Sicht eines kleinen Mädchens zu tun haben. Die narrativen Elemente sind jedoch nicht entlang einer Geschichte angeordnet, sondern folgen einem poetischen Prinzip. Die bei Mulvey ausgeführte Idee der patriarchalen Blickstruktur des klassisch-narrativen Kinos mitsamt der damit verbundenen Forderung nach einem „Gegenkino“, spielen in Mangoltes What Maisie Knew ebenfalls eine Rolle. Doch handelt es sich nicht um eine einfache Verschiebung des (von Mulvey konstatierten) männlich-patriarchalen Blicks auf die Blickperspektive eines kleinen Mädchens. Vielmehr erweist sich der Filmtitel What Maisie knew als falsche Fährte, als bloßer Ansatz für ein Narrativ, das im Film schließlich nicht weitergeführt wird.

Die Einschreibung von What Maisie Knew in die feministische Filmgeschichte erfolgt außerdem auf der Ebene der Produktion. Hier wäre der kollektive Gestus des Films hervorzuheben, der nicht nur gemeinsam mit Freunden gedreht wurde, sondern auch mit dem Filmmaterial einer Freundin (Chantal Akerman).[4] In der häuslichen Umgebung, der Küche, dem Schlafzimmer, dem Badezimmer der großbürgerlichen Wohnung in New York, in der gedreht wurde, deutet sich bereits an, die Produktionsbedingungen in den Film einzubeziehen. Ähnliches gilt für auch für Peter Wollens und Laura Mulveys Film Riddles of the Sphinx (GB 1976/77), in dem filmtheoretische Positionen mit Alltagsszenen in Beziehung treten, wobei private Räume[5] und Personen aus dem Kontext der britischen Film-Coop-Bewegung und des Women’s Movement einbezogen werden [Pauleit 2001]. In den Filmen, die nach What Maisie Knew entstanden, werden die zum Einsatz kommenden künstlerischen Mittel immer weiter hinter und zugunsten dieser Bedingungen zurücktreten.

 

IV. Water Motor (1978)

Der Film Water Motor zeigt die Tänzerin Trisha Brown bei ihrem gleichnamigen Solo im Jahr 1978 in New York. Die Aufnahmen für den Film entstanden kurze Zeit vor der Premiere in einem extra dafür angemieteten und ausgeleuchteten Raum. Eine Frau mit schulterlangen, lockigen braunen Haaren, bekleidet mit einem ärmellosen Shirt und einer zu den Füßen hin leicht ausgestellten Hose hat sich in aufrechter Haltung in der Bildmitte positioniert. Sie blickt in Richtung der Kamera. Es ist die Tänzerin Trisha Brown, die sich gleich darauf zu bewegen beginnt. Das Solo hat eine Dauer von zweieinhalb Minuten und ist im ersten Teil des Films in Originalzeit zu sehen. Daran anschließend folgt das Solo ein weiteres Mal, eine zweite gefilmte ‚Probe’ von Water Motor also, diesmal gedreht in Slow Motion.

Im Diskurs um den Film Water Motor wird immer wieder hervorgehoben, dass die filmischen Mittel, die Babette Mangolte einsetzt, reduziert seien. Teilweise scheint Unklarheit darüber zu bestehen, worin genau die spezifische Leistung von Babette Mangolte besteht. Der Eindruck, dass sich die Filmarbeit auf die präzise Aufzeichnung beschränkt, das heißt auf inszenatorische Mittel wie Schnitt, Setdesign, Beleuchtung oder Kamerabewegung weitgehend verzichtet, wird dabei nicht lediglich im Tanz-Diskurs vielfach konstatiert. Ähnliches geht auch aus den Produktionskommentaren Mangoltes zu ihrem Film hervor. Im Kontext der Filmarbeit von Babette Mangolte ließe sich angesichts der Reduktion der filmischen Mittel allerdings ebenso von einer aktiven Strategie – einem ästhetischen Programm der Reduktion – sprechen. Dieses ästhetische Programm wäre dann gleichbedeutend mit einer Verweigerung der filmischen Signatur. Denn wieso, so ließe sich fragen, wurde der Film nicht in Farbe gedreht? Weshalb ist der Film stumm? Wieso wird nur eine Kameraperspektive gewählt und keine Nachbearbeitung in der Postproduktion vorgenommen? – Kurzum: Weshalb hat Babette Mangolte die technischen Mittel des Films nicht ausgeschöpft? Der Eindruck der Reduktion ist, so meinen wir, ein Effekt der aktiven Unterlassungsstrategie des Films. Der Aspekt der Rücknahme künstlerischer Mittel als Mittel lässt sich den diskursiven Konstellationen abhorchen, in denen der Film entstand: So vollzieht Water Motor, was auch der minimalistische Tanz, den er zum Gegenstand hat, in dieser Zeit als Programm verfolgt: „being a neutral doer“ [Maar 2014: 145; Rainer 1983: 328]. Die Neutralität ist wiederum formale Entscheidung und darin gar nicht neutral.

Die Kamera ist zu Beginn des Films als Gegenüber der Tänzerin positioniert. Wie sich nach kurzer Zeit zeigt, sind der Bewegungsraum der Choreografie und der Bildraum des Films nicht identisch, und die Kamera folgt den Bewegungen der Choreografie über die Mittelachse hinaus nach rechts und links. Diese minimale Kamerabewegung unterstreicht das ereignishafte Nahverhältnis von Kamerafrau und Tänzerin im Moment der Aufnahme und dokumentiert zugleich ein Wissen über die Performance, in welchem der Überschuss im Prinzip der einfachen Aufzeichnung Gestalt annimmt. Daneben lässt sich Water Motor als Film des modernen Kinos charakterisieren. Denn das Solo in Slow Motion markiert einen Wechsel vom Präsenzmodus in den Analysemodus des Tanzes sowie in den Kontext des modernen Films, der seine Möglichkeitsbedingungen nicht zu verschleiern sucht, sondern eigens mit ausstellt und befragt. Die technischen Möglichkeiten des Films werden dabei nicht ausgeschöpft, sondern die Erkundung von Bedingungen und Strukturen steht im Mittelpunkt. In diesem Punkt scheint das Erbe des strukturellen Films auf. Water Motor kann vor dem Hintergrund der Reduktion künstlerischer Eingriffe, der Kamerabewegungen oder des Schnitts sogar als Spielart eines ‚minimal cinema‘ gelten. Also eines Kinos, das die Darstellung auf möglichst wenige formale Mittel einschränkt. Mit solchem weitgehenden Verzicht auf Strategien der Montage oder anderer filmischer Möglichkeiten wird eine Konzentration auf das Dargestellte angestrebt, einschließlich der Materialität und physischen Präsenz der Darstellerinnen und Tänzerinnen.[6] Dass die künstlerische Signatur der Filmemacherin Mangolte dabei in den Hintergrund tritt und im Film selbst so wenig Präsenz wie möglich signalisiert, wäre ein Grund, warum im Diskurs um Water Motor die Arbeit von Trisha Brown mehr Raum einnimmt. Von hier aus lässt sich ein Aspekt ableiten, der für die Arbeiten von Mangolte in den letzten Jahren zunehmend zentral geworden ist, nämlich die Frage nach der Archivierbarkeit von Tanz durch Film und damit nach der Evidenzbeziehung der Filme zum Gegenstand Tanz. Bereits 1978, noch bevor Fragen von Überlieferung und Archiv im Film- und Tanzdiskurs aufkamen, kündet Water Motor bereits von einer Idee der Beziehung von Film und Tanz im Sinne der technischen Reproduzierbarkeit ephemerer Künste. Mit Blick auf die Arbeit Roof Piece von 2011 beziehungsweise 1972 lässt sich dieser Aspekt weiter zuspitzen.

 

V. Roof Piece on the Highline (2011)

Roof Piece on the Highline ist eine Videoarbeit von Barbette Mangolte aus dem Jahr 2011. Sie zeigt das Tanzstück Roof Piece von Trisha Brown. Zu sehen sind rot gekleidete Tänzerinnen auf New Yorker Dächern der Manhattan Lower West Side. Erkennbar wird nach wenigen Minuten ein Prinzip tanzgewordener Stiller Post: Eine dynamische Kette, in der Bewegungen durch Weitergabe von Dach zu Dach, von einer Performerin zur nächsten verändert werden. Als Folge unterbrochener Blickachsen, langer Sichtweiten und Distanzen erodieren die Bewegungen – der Prozess ist sowohl Thema des Tanzes als auch mediales Prinzip der Aufnahme.

1972 wurde die Choreografie zwischen West Broadway und White Street schon einmal aufgeführt und von Mangolte mit drei 16mm Kameras auf Kodachrome-Umkehrmaterial gefilmt. Die Kameras, die statisch an Kopf, Mitte und Fuß der Bewegungskette positioniert waren, liefen 33 Minuten lang mit [Mangolte 2015 ]. 2011 wurde die Choreografie entlang des linienförmigen Stadtparks der Highline, ein auf einer stillgelegten Hochbahntrasse entstandener Grünzug, in anderer Besetzung vier Mal wiederholt und mit beweglicher Kamera in High Definition aufgenommen. Die skulpturale Dimension bleibt in der Wiederaufnahme erhalten: Die Blockabstände, die Blickachsen sowie die architektonischen Besonderheiten der Wassertürme und Dächer sind durch die Highline gehighlightet; das Moment der Kette und des Transports ist mit der alten Versorgungstrasse formal wieder aufgegriffen.

Was passiert, wenn bekannte Stücke neu platziert werden und welche Implikationen zeitliche und räumliche Verschiebung haben, ist nicht zu trennen von der Frage nach einer Übertragbarkeit von choreografischen Konzepten und Tanz [Maar 2014: 139]. Auf einer grundsätzlichen Ebene ist Trisha Browns erste Version von Roof Piece mit dieser Frage nach der Übertragbarkeit von Bewegung, also dem Prinzip ihrer Archivierung in und durch Körper, befasst. In den Strukturen der Bewegungskette, also der Aneignung des Bewegungsvokabulars von einer Tänzerin zur nächsten, wird der Bezug zur Individualität der Körper in kleinen Ungenauigkeiten, im Scheitern in der Ausführung des Vorgegebenen manifest: „It is the human failure factor in the exposition of form that makes for this marvelous thing called dance, which is highly imperfect from the beginning“ [Brown nach Goldberg 1990: 6; Maar 2014: 138]. Die „Re-Konstruktion“ [Foellmer 2014] der Performance übersetzt dieses Prinzip in eine längere historische Dauer. Die Weitergabe der Tanzbewegungen wird von Mangolte fortgesetzt, wenn die Bewegungen ins Medium des Films übertragen werden und dabei erodieren. Das Prinzip, das jede Wiederholung zwangsläufig mit einer Veränderung einhergeht – von Aufführung zu Aufführung [Maar 2014: 141] – wird hier filmisch re-kreiert.

Die Differenz zwischen Aufnahme und Wiederaufnahme ist bei Mangolte dabei durch einen Medienwechsel vom analogen zum digitalen Material markiert. Das Verfahren der Übertragung im Prozess der Aneignung trägt einen historischen Unterschied ein: Aufführungskontext, Publikum, Tänzerinnen und Filmtechnik sind nicht mehr dieselben.

„In der digitalen Revolution gibt es zwei Paradigmenwechsel: Der erste betrifft den Unterschied zwischen silberhaltigen und Pixelbildern; der andere betrifft die Art, wie die Logik und Systematik des digitalen Filmschnitts und die Abschaffung der großen Leinwand als Standard, Tempo und Rhythmus verändern [...].“ [Mangolte 2004: 21].

Die historischen Zäsuren, die den Wechsel vom analogen hin zum digitalen Medium für Mangolte begründen, sind in einem Interview, das in der Zeitschrift Frauen und Film erschien, benannt: Der 11. September 2001, der sich zur Wiederaufnahme von Roof Piece zum zehnten Mal jährt, wird hier zur Begründungsfigur des Medienwechsels: „Man möchte nicht zurück schauen. Man möchte nach vorne schauen. Vielleicht ist die digitale Kamera das Instrument dafür.“ [Ebenda: 24]

Dass Mangolte für Roof Piece on the Highline sieben Jahre später tatsächlich zur digitalen Kamera greift, um die historische Zäsur zu markieren, setzt auch eine mediale Kette in Gang. Das Format ruft die geltenden Konventionen des Dokumentarischen auf; das HD-Videomaterial unterstreicht im Unterschied zum Zelluloid die durch Distanz eingeschränkte Sicht, die ein am Ende eingelassener Videotext verschwommen expliziert.[7] Die roten Tänzerinnen auf den post-9/11-Dächern der Stadt setzen den Aspekt der Bewegungserosion in eine historische Dimension. 1972 gab es keinen Blickpunkt, von dem aus die gesamte Bewegungskette sichtbar war – erst durch die filmische Synchronisation unterschiedlicher Blicke gab sie sich als Ganzes im Nachhinein zu erkennen. Wieder aufgenommen wird 2011 also im doppelten Sinne die Erosion der Bewegung durch Weitergabe durch das Medium; die Bewegungskette wird so in eine kanonisch werdende und medial vermittelte Tanzgeschichte hinein verlängert.

Die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Tanz und Film erschöpft sich damit nicht darin, jene filmische Eigenschaften zu registrieren, die Mangoltes Arbeiten, seien sie auch noch so zurückhaltend, kennzeichnen, etwa die subtile Kamerabewegung. Beide Beispiele – Water Motor und Roof Piece – legen vielmehr eine strukturelle mediale Dimension frei: Das Problem der Rekonstruktion oder Wiederaufführung von Bewegung, das konzeptuell in Roof Piece tänzerisch durchgearbeitet wird, ist auf einer formalen Ebene im Film wiederaufgenommen. Als medialer Träger wird der Film aktives Element einer Medienkette – von analog zu digital – die auf einer Weitergabe von Bekanntem gründet. Auch Water Motor setzt in seiner Wiederholungsstruktur auf das Wiedererkennen durch Betrachter_innen und erlaubt es so, den Tanz als bereits medial reflektierten zu betrachten.

 

 

 

 



[1] Das Zitat aus der Überschrift stammt von B. Mangolte 1998: 85.
[2] Man muss dabei nicht so weit gehen, einem Film über eine Performance eine eigene Performativität nachzuweisen, also die Möglichkeit des Films, das künstlerische Programm des Originals performativ zu perpetuieren, wie es Philip Auslander vorschlägt: „It may well be that our sense of the presence, power, and authenticity of these pieces derives not from treating the document as an indexical access point to a past event but from perceiving the document itself as a performance that directly reflects an artist’s aesthetic project or sensibility and for which we are the present audience.” [Auslander 2006: 9]
[3] Die bedeutende Rolle von Mulveys Aufsatz kann aus der hier eingenommenen Perspektive vor allem in seiner Vielstimmigkeit gesehen werden, denn der Text spiegelt zeitgenössische Diskurse und Theorieströmungen, die in den 1970er Jahren aus feministischer Perspektive aufgegriffen und zu einer eigenständigen Kino-Theorie zugespitzt wurden. Vergleichbar mit den Schriften zum Film von Christian Metz oder Gilles Deleuze, die unterschiedliche Denkströmungen versammeln und produktiv zueinander in Beziehung setzen, werden auch bei Laura Mulvey – und zwar aus einer feministischen Perspektive heraus geframed – Denkbewegungen und Ideen zusammengeführt, die Anfang der siebziger Jahre virulent waren: Semiologie, Strukturalismus, Psychoanalyse, Hollywoodkino, Gegenkino.
[4] Vgl. Babette Mangolte: How I made Some of My Films. http://www.babettemangolte.org/maps1.html
[5] Gefilmt wird unter anderem in der Wohnung des Experimentalfilmers Steven Dwoskin und in der Küche von Judith und Malcom Le Grice [Mulvey und Pauleit 2013].
[6] Auch Chantal Akermans von Babette Mangolte in unbeweglichen Einstellungen aufgenommener Film Jeanne Dielmann, Quai du Commerce 23, 1080 Bruxelles (1976) wird dieser Richtung eines Kinos der Langsamkeit zugerechnet.
[7] Mit Aspekten unterschiedlich zu beschreibender Evidenzbeziehungen zwischen medial verschiedenen Formen des Aufzeichnens beschäftigt sich Barbara Büscher. Anhand der Aussagen von Babette Mangolte hat Büscher das Verhältnis von technisch-apparativen Bedingungen sowie die daran gekoppelten gestalterischen Entscheidungen mit Rekurs auf Vilém Flusser als „Apparat-Operator-Komplex“ thematisiert [Büscher 2009].

 

 

 

Literatur

Auslander, Philip: “The Performativity of Performance Documentation.” In: PAJ. Nr. 84/ 2006: 1–10.
Auslander, Philip: Surrogate Performances. Performance Documentation and the New York Avantgarde, ca. 1964–74. o. A.
Büscher, Barbara: “Aufzeichnen. Transformieren – Wie Wissen über vergangene Aufführungen zugänglich werden kann. Eine medientheoretische Skizze.“ In: MAP media–archive–performance. Nr. 6/ 2015: Online-Magazin.
Büscher, Barbara: “Lost&Found. Performance und die Medien ihres Archivs“. In: MAP media–archive–performance. Nr. 1/ 2009: Online-Magazin.
Foellmer, Susanne: “Re-Enactment und andere Wieder-Holungen in Tanz und Performance“. In: Zitieren, appropriieren, sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten. Frédéric Döhl und Renate Wöhrer (Hg.). Bielefeld 2014: 69-92.
Goldberg, Roselee: Reconstructing Trisha Brown. Dance and Performance Pieces 1960–1975, Diss. New York 1990.
Gunning, Tom: “Moving away from the Index: Cinema and the Impression of Reality”. In: differences: A journal of Feminist Cultural Studies. Nr. 18/ No. 1 2007: 29-52.
Maar, Kirsten: “Geschichte(n) erfinden. Aneignungen und referenzielle Verfahren im Tanz“. In: Zitieren, appropriieren, sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten. Frédéric Döhl und Renate Wöhrer (Hg.). Bielefeld 2014: 137-159.
Mangolte, Babette: “My History (The Intractable)”. In: October. Nr. 86/ Herbst 1998: 82-106.
Mangolte, Babette: “Eine Frage der Zeit. Analog versus Digital. Die immer wiederkehrende Frage nach der Bedeutung sich ständig verändernder Technologien für die Odyssee einer Experimentalfilmemacherin“. In: Frauen und Film. Nr. 64/ September 2004: 11-26.
Mangolte, Babette: “About Roof Piece. A dance by Trisha Brown and a photograph by Babette Mangolte”. http://www.babettemangolte.org/maps.html, 24.10.2015.
Mulvey, Laura: “Visuelle Lust und narratives Kino (1973-75)“. In: Texte zur Theorie des Films. Franz-Josef Albersmeier (Hg.) Stuttgart 2003 (5. Auflage): 389-408.
Mulvey, Laura und Pauleit, Winfried : “Laura Mulvey im Gespräch mit Winfried Pauleit“. In: Audiokommentar der DVD Laura Mulvey / Peter Wollen: Riddles oft he Sphinx & Amy. Arsenal – Institut für Film und Videokunst / British Film Institute (Hg.). 2013.
Pauleit, Winfried: “Riddles of the Sphinx – Die Arbeit von Laura Mulvey und Peter Wollen zwischen Counter-Strategie und Dekonstruktion“. In: Kunst/Kino. Gregor Stemmrich (Hg.). Köln 2001: 177-193.
Rainer, Yvonne: “A Quasi Survey of Some >Minimalist< Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A (1966)”. In: What Is Dance? Readings in Theory and Criticism. Roger Copeland und Marshall Cohen (Hg.). New York 1983: 325-332.
Rosenberg, Susan: “Trisha Brown’s Water Motor Forever, Now, and Again”. In: The Drama Review. Nr. 56/No. 1 Frühling 2012: 150-157.
Rothöhler, Simon: High Definition. Digitale Filmästhetik. Berlin 2013.
Turvey, Malcom: “A Neutral... Average Way of Looking at Things. The Films of Babette Mangolte“. In: Framework. The Journal of Cinema and Media. Nr. 45/ No. 1 Frühling 2004: 70-84.

 

 

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