Games: Jeux. Sergei Tcherepnin trifft auf Vaslav Nijinsky
Zur künstlerischen Modellierung des Gegenwartsmenschen
Nicole Haitzinger (Salzburg)
Waren künstlerische Familiendynastien in der europäischen wie auch russischen Geschichte bis ins späte 19. Jahrhundert weit verbreitet, so reißt der Faden dieser Art von Erbfolge in der westlichen Moderne des 20. Jahrhunderts ab. Die Einladung an Sergei Tcherepnin im Kontext der Ausstellung Kunst – Musik – Tanz. Staging the Derra de Moroda Dance Archives (19. März bis 3. Juli 2016)[1] im Museum der Moderne Salzburg erfolgte im Jahr 2015 aufgrund von Tcherepnins Profilierung als experimenteller Sound-Künstler. Der Name klang vertraut, doch erst als die Recherche des in New York lebenden Künstlers im Salzburger Archiv stattfand, wurde im Dialog eine dynastische Verflechtung offenkundig: Sergeis Urgroßvater war der russische Komponist Nikolai Tcherepnin, der beispielsweise das Ballett Pavillon d’Armide in der ersten Saison der Ballets Russes (1909) musikalisch verantwortete. Sergei Tcherepnin, Zufall oder nicht, faszinierten in den Derra de Moroda Dance Archives vom ersten Moment an die Bestände zu den Ballets Russes, die er autobiographisch wie künstlerisch erkundete. Mit dem Tänzer und Choreografen Vaslav Nijinsky entdeckte Sergei eine, wenn nicht unmittelbar familiäre, so doch spezifische künstlerische Verwandtschaft. Die in Konzept und Erscheinung maßgeblich von Nijinsky verantwortete und im Zeitkontext gescheiterte Inszenierung Jeux (1913) wird zum Flucht- und Referenzpunkt der performativen Installation Games (2016). Im Sinne von ‚anders, doch verwandt‘ widmen sich die folgenden Überlegungen den Ähnlichkeiten und Unterschieden dieser beiden künstlerischen Arbeiten mit spezifischer Perspektive, nämlich der jeweiligen Modellierung des modernen beziehungsweise zeitgenössischen Menschen.
Jeux (1913): Auftritt des „homme moderne“
Die Inszenierung Jeux (1913) ist nach ihrer im historischen Kontext gescheiterten, da dem Pariser Publikum missfallenden Premiere bis weit ins 20. Jahrhundert hauptsächlich über den als skandalös interpretierten Auftritt des Eros verhandelt worden. [Vgl. Haitzinger 2015: 113] Erstaufgeführt im Pariser Théâtre des Champs-Élysées im Kontext der vierten Saison der Ballets Russes hatte man ein zeitgeistiges und modernistisches Ballett in Szene gesetzt.[2] Diaghilew und Bakst unterstützten Nijinsky bei der Verschriftung des Szenarios, das nach L’Après-midi d’un faun (1912) das zweite in Struktur und Erscheinungsform von ihm verantwortete Ballett gewesen ist:
In einem (von Léon Bakst gestalteten) nächtlichen Park einer Metropole, beleuchtet mit künstlichem Licht, treffen sich drei Figuren, ein junger Mann und zwei Mädchen, zum Tennis. Die choreographische Abstrahierung des Spiels (Laufen, Springen, Gehen mit markierten Blickrichtungen) erfährt eine jeweils temporäre Aufladung mit dramaturgisch gesetztem unverbindlichem Gefühlsausdruck (Freude, Eifersucht, Küsse, Angst, Verwirrung, Scham, Koketterie).[3] Durch diese Verknüpfung stellt sich die ästhetische Wahrnehmung einer ménage à trois ein. Unzweifelhaft thematisiert Jeux queere[4], und tradierten heteronormativen Konventionen gegenläufige Identitäten in den europäischen Metropolen der Zeit. Männlichkeit/Weiblichkeit wird als Plural inszeniert.[5] Nijinsky spricht später in seinen während der Kriegsjahre verfassten Tagebuchaufzeichnungen von einem Ballett, in dem die „Lust dreier junger Menschen“ zu sehen ist: „Faun, das bin ich, und Jeux ist das Leben, von dem Djagilew [sic] geträumt hat. Djagilew wollte zwei Knaben gleichzeitig lieben, und diese Knaben sollten ihn lieben. […] Ich habe diese Figuren absichtlich maskiert […].“ [Nijinsky 1996: 253–254]
Zugleich profilierte und konturierte Nijinsky jenseits dieses Auftritts des Eros l’homme moderne, den modernen Menschen, und dies scheint in der Rezeption vernachlässigt.[6] In einem Interview mit Hector Cahusac, veröffentlicht in Le Figaro (14.5.1913), artikulierte Nijinsky sein Konzept und seine Vision:
Der moderne Mensch ist entleert von großem Pathos, er wird als Mensch ohne Eigenschaften – hier sei der Titel des Romans von Robert Musil adaptiert – präsentiert, der spaziert, Zeitung liest oder Tango tanzt und dies alles zeitgemäß im Sinne von Mode, skulpturaler Körperlichkeit und Bewegung. Seine Modellierung ist grundiert von der Verflechtung dreier Aspekte: erstens die spezifische kontrapunktisch wahrgenommene Rhythmisierung der Körper in den Großstädten, die zu neuen Strukturen in Komposition und Choreografie führten, zweitens die (gleichwertige) Mechanisierung von Körpern und Objekten und drittens die Überschreitung von heteronormativen Beziehungskonstellationen.
London und Paris, in denen Jeux geprobt und schließlich aufgeführt wurde, galten als die kosmopolitischen urbanen Räume Europas um 1900; beide Metropolen zeichneten sich über ein beschleunigtes Verkehrssystem mittels Untergrundbahnen aus. [Vgl. Fauchereau 2001: 148–175][7] Insbesondere Paris wird zum Paradigma der modernen und inter- beziehungsweise transnationalen Jahrhundertstadt, wie der Literat Harold Pinter schon 1940 treffsicher formuliert:
Die bildenden und szenischen Künste griffen die rasante Beschleunigung der Fortbewegung mittels Elektrizität und die Erfindung von Automobil, Flugzeug und Kino nicht nur als Topoi auf, sondern diese technischen Neuerungen provozierten alternative ästhetische Erfahrungen. Jeux ist in diesem Sinne die erste modernistische Inszenierung der Ballets Russes gewesen. Modernistisch auch, weil sich Choreographie und Komposition auf spezifische Weise verbinden, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Trotz Debussys Kritik an Nijinsky während der Proben und nach der Premiere – beispielhaft sei hier aus einem Brief zitiert „[Nijinsky] with his cruel and barbarous choreography [...] trampled my poor rhythms underfoot like weeds“[8] – ließ der Komponist sich nachweislich auf die vorgegebenen Strukturen und die motorischen Aktionen ein [vgl. Ortledge 1987: 68–73], wie auch Nijinsky (gezwungenermaßen) Modifikationen vornahm. Debussys Komposition ist wegen der Parallelisierung und Geflochtenheit von musikalischen Ereignissen als spezifisch zu bezeichnen.[9] Durch zahlreiche Wechsel in der Dynamik und viele Tempo- bzw. Rhythmuswechsel entsteht eine Struktur, die an eine Wellenbewegung denken lässt. Ein dynamisches und fluides (Bewegungs-) Muster mit interagierenden Abschnitten durchzieht die Komposition von Jeux. Debussy erkannte Nijinskys Präzision in der tendenziell seriellen Aneinanderreihung von performativen/tänzerischen Ereignissen[10] und sie sind vermeintlich gegenläufig zu seinem Konzept, da sie zwischen die Musik Debussys gehen; es gibt keine aufeinander aufbauende musikalische Struktur. Wiederholungen sind nur in den einzelnen kleinen Abschnitten angelegt. Durch die Kürze und auch durch das Fehlen eindeutiger Konturen in den Motiven werden diese beim Hören nicht zwangsläufig als Wiederholung wahrgenommen, ihr Effekt ist nicht formkonstituierend. Nicht einzelne Töne erklingen, sondern über zusammengehörende Tongruppen wird Flächigkeit erzeugt. Debussys Orchestrierung zeichnet sich durch changierende Klangfarben aus. Einzelne motivische Abschnitte kontrastieren insbesondere hinsichtlich der Instrumentation und der rhythmischen Gestaltung: Diese Abschnitte lösen einander jedoch nicht einfach ab, sondern koexistieren im Sinne einer Verflochtenheit; später haben übrigens Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen diese als (kompositorisch faszinierende) Spezifik Debussys bestimmt. Im Hörerlebnis ruft diese Verflechtung eine Ähnlichkeit mit Wellenbewegungen auf. Debussy waren das Szenario und das choreografische Konzept vorgegeben, das heißt er komponierte entlang von definierten Vorgaben und passte Struktur und Ästhetik an. In der Wahrnehmung verknüpfen sich schließlich auditive, visuelle und kinetische Aspekte. Nicht das vermeintliche Aufeinanderprallen zweier verschiedener Konzepte von Musik (Debussy) und Tanz (Nijinsky), sondern vielmehr die Gleichberechtigung dieser beiden Künste mit dem für die gesamte Inszenierung zu abstrahierenden Leitmotiv der Verflechtung wirkte schließlich auf die Rezipienten und sogar auf den Komponisten Debussy zuallererst befremdlich.
Entscheidend für die Konzeption von Jeux ist außerdem die Mechanisierung, das heißt Körper und Tennisschläger werden im Tennisspiel gleichermaßen als Instrument funktionalisiert. Tennis wird wie viele andere Sportarten in der Moderne zum Freizeitvergnügen erklärt, das wiederum die Künste als Topos aufgreifen. [Vgl. Kollinger 2016: 31–50, insbes. 39–40] Außerdem wird im eigentlich regelwidrigen (Tennis-)Spiel zu dritt ein grenzüberschreitendes Begehren sichtbar gemacht. Nicht zufällig verlegte Nijinsky die Aktion von Jeux in das Jahr 1920. Es handelte sich um einen alternativen Tanz der Zukunft, der die Intensivierung von Gegenwärtigkeit privilegiert.
In einem Interview nach der Premiere sagte Nijinsky, dass er die Idee für das Sujet eines Tennis-Balletts im Sommer 1912 im französischen Deauville bekommen hatte, als er die Bewegungen der Spieler beobachtete.[11] Die Präzision in der analytischen Durchdringung des Körper- und Bewegungskonzepts, das durch seine eigene Kompetenz vertieft ist,[12] und die Appropriation der Figurenkonstellationen im Tennis bestimmte schließlich die inszenatorische, choreographische und bewegungstechnische Struktur von Jeux: „Vaslav studied the movements of the body and paid close attention to the technique of striking the ball, also positions of the arm and the grip holding the tennis racquet.“ [Nijinska 1982: 444] Signifikante Motive in Jeux sind verdrehte Hand- und Kopfpositionen, de-formiertes klassisches Schrittvokabular und winkelige Posen. Aus Nijinskys Annotationen der Debussy Partitur[13] lassen sich drei Aspekte der Auftritte von modernen Menschen herauslesen. Diese korrespondieren mit Nijinskys „Experiment mit stilisierter Geste“ in Jeux[14]: Auffallend ist erstens die Signifikanz der Blicke in den ambivalenten Beziehungskonstellationen; wiederholt werden Anweisungen für die Blickrichtungen gegeben (Blicke vor, zurück etc.). Zweitens ist die Klassifizierung von motorischen Aktionen in athletische beziehungsweise alltägliche Bewegungen (Laufen, Springen, Stehen, Innehalten) und Tanz (leidenschaftlicher Tanz, grotesker Tanz, Walzer) erkennbar. Die Pas de Deux und Pas de Trois werden zu eigenständigen künstlerischen Formen, die egalitäre sinnliche Figurationen in Szene setzen.[15] Drittens handelt es sich um eine Präsentation von emotionalen Zuständen (eifersüchtig, sich fürchtend, freudig, schamhaft, unglücklich, spöttisch, verrückt...), die hauptsächlich mittels choreographischer Anordnung über Nähe/Distanz und abstrahierten Ausdrucks von Mimik und Gestik hergestellt werden.
André Levinson konstatierte schon 1913 die Darstellung des modernen Lebens mittels „prosaischer Symbole“ – und hier wären die prosaischen Körper zu ergänzen – und die Nähe zur post-impressionistischen, abstrakten Malerei, die durch Synthese wie geometrische Einfachheit charakterisierbar ist:
Die Rektangularität in der Bewegungsausführung und die Eindrehung wurden von Levinson in Ballet Old and New (1917) als „skulpturale Paradoxie“ bezeichnet und dem künstlerischen Konzept einer „geometrischen Schematisierung“ zugeordnet. [Levinson 1982: 57] Erinnert man sich an die Quadratur des Kreises von Leonardo da Vinci, mit dem sich Nijinsky während des ersten Weltkriegs intensiv beschäftig hat, dann verschiebt sich in der Modellierung des modernen Menschen in Jeux die Gewichtung vom Kreis hin zum Quadrat. Dies kann als Umkehrung der ästhetischen Präferenz des 19. Jahrhunderts, genauer der Etablierung der Figur des Klassischen im Ballett, gedeutet werden. Im Uomo fisico, intellettuale e morale (1857) von Carlo Blasis beispielsweise stehen rechtwinklig konturierte Figuren und Formationen tendenziell für Statik und Hintergründigkeit/Tiefe, im Triangulären hingegen manifestiert sich das Geistreiche, das Gerechte, im unterbrochenen Dreieck hingegen die Ambivalenz. [Blasis 2007: 207–208] Schräge Raumwege rufen in der ästhetischen Wahrnehmung das Ungewisse, das Zweifelhafte auf. Das „Brünnlein der Kehle“ („fontanella della gola“), eine Referenz auf Leonardo da Vinci posthume Textsammlung „Trattato della pintura“, wird als Lot des menschlichen Körpers, als Kristallisations- und Ausgangspunkt beziehungsweise -linie für die Verlagerung der Schwerkraft in skulpturalen und kinetischen Dreierfigurationen bestimmt.[16] Die Reminiszenzen des sich im 19. Jahrhundert etablierenden sogenannten klassischen Balletts scheinen in Jeux durch, wenn auch auf spezifische Weise verfremdet, modernisiert: „Everything in the choreography was new – free movements and positions of the body applied to classical ballet technique.“ [Nijinska 1983: 445]
Die choreographische Anordnung in Jeux ist seriell, kinematographisch und zugleich mit einer minimalistischen Narrativierung[17] von Konkurrenzierung (mit Ausschluss von je einer Figur) und schließlich der Vereinigung aller drei grundiert – „ce triple baiser les confond dans une extase“[18] –, bis schließlich ein scheinbar aus dem Nichts geworfener Tennisball diesen Auftritt des Eros unterbricht und die drei Figuren überrascht und erschrocken flüchten lässt. Diaghilew bezeichnet dieses Motiv in der Generalprobe laut dem Maler Jacques-Émile Blanche erstmals als „la fontaine“ [Blanche 1913: 527] und stellt damit einen kunstgeschichtlichen Bezug zu den drei Grazien her.[19] Blanches Beschreibungen (er besuchte die desaströs aufgenommene Generalprobe und äußerte sich in La Revue de Paris kritisch zu Jeux) lassen die Modernität in der Inszenierung von Körperlichkeit erahnen: „Nijinski paraîssait dans l’action comme un sculpteur contemplant des figures qu’ils viendrait d’animer.“ [Blanche 1913: 527] Nijinsky selbst annotiert die Partitur Debussys wie folgt: „They depict (are interwoven like) a basket“[20] und in der gedruckten Version variiert in „The three of them in a strong body like a basket (they interlace their bodies). They flow together.“[21]
Abb.: Szenenbilder aus Jeux. Photo Charles Gerschel.
Abb. 2: Antoine Barbier: Szene aus Jeux. Pochoir Druck, 1914.
Bestand Derra de Moroda Dance Archives Salzburg, Signatur DdM ic M 001_08
Die ekstatische Vereinigung ist nicht nur metaphorisch zu verstehen, sie ist zugleich verkörpert: Die drei Figuren verflechten sich zu einem Korb.[22] Rezensionen der Zeit werfen Nijinsky vor allem Abstraktion mit Gefühlsentleerung vor, „l’abstraction plus que le sentiment“[23]. Dies provozierte das Publikum, dem zwar die Abstraktion in Bezug auf klassische Technik im Ballett vertraut war. Jedoch wurde die Abstraktion des Körpers verflochten mit einer Reduktion der Narration auf situative und unverbindliche Gefühlsartikulationen als fremd empfunden. Präzise konstatierte André Levinson nach der Premiere in Paris, dass das Pariser Publikum nicht etwa wegen der in Szene gesetzten ménage à trois schockiert war, sondern das skandalöse Obszöne (im Sinne von ob-scena) ist vielmehr die Profanierung des Tanzes und die Grenzüberschreitung der Genres gewesen.[24]
Games (2016): Auftritt des homme contemporain
Ohne den Korb als Metapher überstrapazieren zu wollen, lassen sich manche Verflechtungen von Jeux (1913) und Sergei Tcherepnins Games (2016) erkennen.
Die performative Installation ist für den White Cube des Museums der Moderne Salzburg entworfen worden, und in ihr scheinen – vergleichbar mit Jeux – die Entstehungsbedingungen durch. Sergei Tscherepnin lebt und arbeitet in New York. Games ist hauptsächlich geprägt von einem postindustriellen, hochtechnologisierten Kontext, der gleichzeitig aus urbaner Physis und virtuellen Räumen der Telekommunikation mit ihrer opaken Transparenz generiert ist. Pointiert für London formuliert, doch auf die meisten Megacities und vor allem auf New York übertragbar: „[it] is being rebuilt not as a city, but as the tip of just one tentacle of a stupendous octopus of electronic communication whose head is in outer space and whose tentacles touch all other cities everywhere.”[25] Sergei Tcherepnin lebt und arbeitet in einer Gegenwart, die nicht mehr von einem „Hardware-“, sondern einem „Softwarekapitalismus“ grundiert ist. [Vgl. Bauman 2003, 139] In ihr erodieren feste Strukturen und Verbundenheit/Loyalität, sie präsentiert sich exterritorial, flüchtig und wandelbar, es kommt zu einer Indifferenz gegenüber Dauerhaftigkeit und Unendlichkeit, die Verheißung lautet Unmittelbarkeit.[26] Als zeitgenössischer Künstler operiert er explizit mit dem Medium der Digitalität und produziert durch dessen Vermittlungsfunktion Sound, Bilder und Performances. Zugleich hybridisiert er Digitales mit Analogem. Basierend auf Artistic Research im Archiv[27] lässt sich der transmedial arbeitende Künstler auf ein Konzept im Rahmen der Ausstellung Kunst – Musik – Tanz. Staging the Derra de Moroda Dance Archives ein, in dem thematische und strukturelle Transfers zwischen Moderne und Gegenwartskunst entworfen wurden. Tcherepnin sichtete hauptsächlich Materialien zu den Ballets Russes und beschäftigt sich schließlich intensiv mit der Jeux-Rekonstruktion von Millicent Hodson[28]:
In zweifacher Weise nach Nijinsky (‚in Referenz zu‘ und ‚historisch anderswo‘) installiert er im Ausstellungsraum fünf vor- und rückseitig menschengroße „Foto-Skulpturen“, auf denen mehrere junge Männer in einem futuristischen Basketballspiel einander und einen Kupferball zu begehren scheinen.
Ausstellungsansicht Kunst-Musik-Tanz. Staging the Derra de Moroda Archives
© Museum der Moderne Salzburg, Foto: Rainer Iglar.
Während des Herstellungsprozesses in New York führte Tcherepnin präzise Regie: Er ließ die amerikanischen Modelle (Tänzer, Schauspieler und Basketballspieler) spezifische Posen aus dem historischen Ballett nachstellen, überformte diese mit Re-Präsentationen von Athleten in NBA-Instagram-Schnappschüssen sowie aus Social Media und Werbung und lud die entstehenden Pictures mit erotischen Blicken und Gesten auf.[29] Das von Nijinsky artikulierte Begehren Diaghilews nach einer ménage à trois mit ihm und einem zweiten jungen Mann ist seine künstlerische Referenz: „The kind of twisted and coded homosexual subtext of the ballet serves as a lense through which the installation of Games can be interpreted.“ [Tcherepnin 2016 (b)] Kennt man die historische Inszenierung (beispielsweise von historischen Fotografien), dann wird die Ähnlichkeit unmittelbar erfahrbar. Jeux scheint in dieser Inszenierung der sich begehrenden drei Figuren durch, auch wenn die Inszenierung von Körperlichkeit der gegenwärtigen Ästhetik entsprechend konzipiert ist und damit abgehoben von der historischen Referenz. Auffallend an Tcherepnins im besten Sinne untreuer Übersetzung ist erstens die Abschwächung der Rektangularität von Nijinskys Körperkonzept durch die Rundung der Pose (vor allem der Armbewegungen) und zweitens die federnde Modulation der Muskulatur. Kraft und Körperschwere scheinen sich zu entsprechen, der Eindruck von hoher Elastizität wird erzeugt. Dies korrespondiert mit dem Bewegungskonzept des Basketballspiels; Nijinsky privilegiert in Jeux Aspekte von Festigkeit/Körperspannung durch verringerte Muskelelastizität. Drittens ist der Auftritt des Eros in Games auf einen singulären Gefühlsausdruck reduziert: Begehren (ohne Ausschlussprinzip). Viertens wird die prekäre Balance einer ménage à trois mehr räumlich als körperlich inszeniert: Die Foto-Skulpturen hängen scheinbar schwebend von der Decke.
Die Positionierung der Foto-Skulpturen im Raum ist grundiert von der Idee der schrägen Linie. In der (choreografischen) Anordnung von fünf Diagonalen werden Dreiecke und Quadrate (re-)konstruierbar, doch es handelt sich um unterbrochene, leicht versetzte, entgrenzte Figuren, die imaginär beziehungsweise durch die Raumwege des Publikums erfahrbar sind. In Carlo Blasis’ L’Uomo (1857) zeichnen sich Figurationen wie diese durch einen „widersprüchlichen“, „polaren“ Charakter aus. [Vgl. Blasis 2007: 208] Zickzacklinien sind die Wege des „Betrügers“, des „Gerissenen“, des „Heuchlers“, des „Charmeurs“, des „Hinterlistigen“, des „Verräters“. [Blasis 2007: 209] Entleert man in der frühen Moderne vorgenommene Zuschreibungen von ihrer moralischen Wertung, so scheint eine offensichtlich kulturell kodierte Ambivalenz dieser Formationen durch, die in den zeitgenössischen Künsten resoniert.
Die Fotoskulpturen sind außerdem mit einer äußeren „Extremität“ („limb“) als dreidimensionale Erweiterung der zweidimensionalen pikturalen Körperlichkeit versehen. Fasziniert von musikproduzierenden Skulpturen im historischen Raum und Balletten ohne tanzenden menschlichen Körper, wie beispielsweise in Feu d’artifice (1917)[30], einer Inszenierung von den Ballets Russes, arbeitet Tcherepnin mit berührungssensitiven Signalumwandlern aus Kupfer/Messing.[31] Wenn man diese berührt, wird ein Signal an einen Computer gesendet. Es ertönt Musik im Raum, und eine Schnittstelle zwischen Fotoskulptur und Sound wird durch den „Transfer von Energie“ hergestellt: „I am using these transducers often to create interfaces built into sculptures, in this case photographs. The photograph itself becomes an interface for starting some kind of predetermined music that I’ve composed.“ [Tcherepnin 2016 (a)] Inhaltlich intendiert ist eine „Vergegenwärtigung des Geistes“ von Nijinsky durch den Sound, das Publikum wiederum wird Tänzer, indem es über seine Bewegungen und Berührungen die Komposition zur Aufführung bringt:
Anweisung für das Publikum für Games (2016) von Sergei Tcherepnin
Versteht man Sergei Tcherepnins Anweisung als Partitur, dann lassen sich folgende Aspekte dechiffrieren[32]: erstens setzt er genaue räumliche und zeitlichen Markierungen. Zweitens montiert er Geräusche und komponierte Klänge gleichwertig aneinander. Position 1 als Startpunkt definiert eine erste diagonale Raumdurchquerung des Zuschauers. Danach geht dieser im Uhrzeigersinn zu Position 3, durchquert wieder diagonal den Raum zu Position 4 und endet vorerst auf Position 5. Auf jeder Position wird ein spezifischer Baustein der Komposition aktiviert, die jeweils aus gleichwertig eingesetzten Geräuschen und komponierten Klängen besteht. Tcherepnin stellt alle Sound-Module (1, 2, 3, 4) nacheinander vor, bevor sie in Mittelposition 5, wenn alle Module gleichzeitig hörbar werden, eine Klangfläche bilden. Dort verflechten sie sich mit einem noch weiteren Baustein (5) in der Wahrnehmung, es ist keine Ausdifferenzierung der einzelnen Komponenten mehr möglich. Dies wird noch einmal verstärkt durch die letzte Anweisung: „After Position 5, walk around freely and listen. Composition ends after 12:00 min.“ [Siehe Score] Die Nähe zu Debussys Komposition zeigt sich kompositorisch über das Moment der Verflechtung, die zur Choreographie von Jeux über die Engführung von visuellen, auditiven und kinetischen Aspekten, die sich nicht ergänzen oder illustrieren, sondern das Ereignis als zugleich autonome und aufeinander bezogene Faktoren konstituieren und hervorbringen.
Über die gleichwertige Orchestrierung von inszenierten Foto-Figuren und der Montage von Sounds konstruiert Tcherepnin eine performative Skulptur, l’homme contemporain (den zeitgenössischen Menschen), der hauptsächlich durch mediale Migrationen und motorische Aktionen generiert wird. Games ist temporär immersiv: Der Schein wird quasi zur Welt.
Die Profilierung und Modellierung des jeweils gegenwärtigen Menschen – sei es modern (Jeux), sei es zeitgenössisch (Games) – ist bei allen Ähnlichkeiten (Sport als populärkultureller Topos wie dessen künstlerische Abstraktion, Inszenierung von queeren Figuren und Überschreitung von Genres) durch Unterschiede bestimmbar. Erstens sind die Entstehungs- und Produktionsbedingungen andere: Metropole versus Megacity, Theater versus Museum, vorgegebene Kooperation versus künstlerische Autonomie. Zweitens ist die jeweilige künstlerische Signatur zeitgemäß, wenn auch beide Arbeiten futuristisch angelegt sind. Dies zeigt sich beispielweise in der frontal konzipierten Inszenierung von Nijinsky mit vorgegebener Dauer (markiert durch seine Choreografie und Debussys Komposition) und der performativen Installation Tcherepnins, in der die direkte Partizipation des Publikums integrativer Bestandteil ist. Der Betrachtende bestimmt die Zeit seiner Anwesenheit selbst und hat verschiedene Möglichkeit der Rezeption: hauptsächlich visuell wahrnehmend oder als aktiver Performer. Drittens die komplexere (Bewegungs-)Techné von Jeux, die einen ausgebildeten Tänzerkörper voraussetzt, versus die verschieden trainierten Körper (Tanz, Schauspiel, Basketball) in Games.
Jenseits der skizzierten Ähnlichkeiten und Unterschiede verbindet beide Modellierungen des (jeweiligen) Gegenwartsmenschen noch etwas Entscheidendes, das ich abschließend unter dem provisorischen und Giorgio Agamben entlehnten Begriff der Profanierung als Denkfigur einbringen möchte. [Vgl. Agamben 2005: 70–71] Nijinsky und Tcherepnin konzipieren ihre Figuren und Figurationen an der Nahtstelle von Kunst und Nicht-Kunst. In einer jeweils spezifischen Gegenläufigkeit zur kultischen Aufladung des Theaters oder des Museums (als quasi ‚heilige‘ Stätte) profanieren sie ihre Figuren, ohne jedoch die Zäsur von Kunst und Nicht-Kunst gänzlich zu neutralisieren. In den profanen Erscheinungsformen von Jeux und Games verbirgt sich ein kultischer Überrest, der sich durch die Opferung des von Nijinsky und Tcherepnin präzise durchdrungenen und resonierenden Vergangenen als Gabe an die Zukunft auszuzeichnen scheint.