Visionary Archive: Kinogeschichte(n) zwischen Kairo, Khartum, Johannesburg, Bissau und Berlin

 


Stefanie Schulte Strathaus (Arsenal – Institut für Film und
Videokunst e.V) im Gespräch

 

 

Das am 13. März 2015 in Berlin aufgezeichnete Gespräch beschäftigt sich mit Aspekten des mehrjährigen Projekts „Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart“ und dessen Fortführung „Visionary Archive“, das im Mai 2015 abgeschlossen wurde. Aus den Erfahrungen konkreter und interdisziplinärer Archivarbeit ergeben sich neue Perspektiven auf die Institution des Archivs einerseits, auf die Gedächtniskultur im Sinne eines meist hegemonial definierten Kulturbegriffs andererseits.

 

A Night at the Archive, Projekt von Avi Mograbi (Living Archive 2011)
© Gerd Mittelberg

 

Büscher: Von 2011 bis 2013 hat das Arsenal das Projekt Living Archive initiiert und durchgeführt. Es sind dabei 39 verschiedene Arbeiten aus der Beschäftigung mit dem Archiv des Arsenal entstanden, die auch dessen internationale Vernetzung sichtbar gemacht und eine Fülle von neuem Material hervorgebracht haben. (Artikel MAP5) Kann man ein Resümee ziehen aus diesen Aktivitäten und vielleicht auch weitergehender beschreiben, was der Effekt für das Arsenal gewesen ist bzw. was der Effekt nachhaltig sein könnte?

Schulte Strathaus: Einer der Kernpunkte war die Frage der Zugänglichmachung. Üblicherweise denkt man dabei an den Zugang über das Internet. 10.000 Filme, die zum großen Teil als Ausgangsmaterial nicht geeignet sind oder deren Rechte nicht geklärt sind, lassen sich schon aufgrund der Kosten und des Aufwandes nicht einfach digitalisieren. Wenn man die Bestände zugänglich machen möchte, muss das also auch schon im analogen Zustand geschehen. Unsere Idee war eine Umkehrung:  Zugänglichmachung mit dem Ziel der Digitalisierung. Das Projekt sollte dazu beitragen, durch multiple Zugänge eine Öffentlichkeit für die Sammlung herzustellen. Wir sind selbst immer noch dabei, vieles darin zu entdecken, insbesondere Filme, die nur bei uns überlebt haben. Denn in diesen Fällen haben wir eine ganz andere archivarische Verantwortung, von der wir zum Teil bislang gar keine Kenntnis hatten. Der Handlungsbedarf wurde auf diese Weise sichtbar.

Gleichzeitig gab es in einigen Fällen durch die Einzelprojektrealisierungen Möglichkeiten der Finanzierung, die sich sonst nicht eröffnet hätten – durch Kulturinstitutionen bestimmter Länder, das Auswärtige Amt, oder auch durch thematische Verbindungen. Es war eine Art Bedarfsanalyse und Ermöglichung, die viele zunächst abgeschreckt hat, vor allem Archivare. Denn es bedeutete, 40 Personen, teilweise mit ihren Studierenden oder Kooperationspartnern, ins Archiv zu lassen. Das tut man eigentlich nicht. Zwar hat sich heute im Vergleich zu früheren Archivkonzepten vieles verändert, aber grundsätzlich herrscht nach wie vor die Vorstellung, dass das Archiv einen Schutzraum darstellt, der mit Exklusion einhergeht. Das bedeutet nicht hineinlassen, sondern außen vor lassen. Leider bleiben dadurch auch sehr viele Filme unentdeckt oder unbeachtet. Wir sind dieses Risiko aber auch eingegangen, weil wir sonst nicht weiter gekommen wären. Filmdigitalisierung wird zwar zunehmend gefördert, nach wie vor aber in begrenztem Maße und ausschließlich im Hinblick auf das nationale Filmerbe. Unser Archiv ist sehr international, es handelt sich nicht vorrangig um deutsche Filmgeschichte, zumindest was die Produktionsseite betrifft.

Nimmt man die Rezeption als Kriterium für den Einfluss eines Werkes auf die Kultur eines Landes, könnte man sehr wohl auch in unserem Fall von nationalem Filmerbe sprechen, haben doch die meisten unserer Filme jahrzehntelang nicht nur die Programme der Kommunalen Kinos bestückt. Viele Filme haben bei uns nur aufgrund der deutschen Untertitel überlebt, die von uns für Verleihzwecke im deutschsprachigen Raum angefertigt wurden, denn die zu diesem Zweck angefertigten Kopien verblieben in unserer Sammlung. Wir haben eine Rezeptionsgeschichte in Deutschland ermöglicht, die zum Überleben der Filme beigetragen hat.

Unsere Sammlungspolitik galt ursprünglich dem Zeigen, nicht der Langzeitarchivierung. Aufgrund dessen haben wir keine Erfahrung im Bereich Restaurierung oder Digitalisierung. Wir hätten also gar nicht einfach loslegen können. Living Archive hat einen Stein ins Rollen gebracht. Dabei ist nicht ein einziger Film zu Schaden gekommen, nicht ein einziger Film verschwunden. Das war natürlich im Vorfeld prophezeit worden: Wenn wir so vielen fachfremden Teilnehmern Zugang zum Archiv ermöglichen, gehen Filme kaputt oder verloren, Rechteinhaber stehen auf der Matte ... all das ist nicht eingetreten! Alle, die wir eingeladen hatten, waren sich der Exklusivität und der Verantwortung, die sie übernahmen, sehr bewusst. Wir haben auch keine Ausschreibungen gemacht, sondern Leute ausgewählt, von denen wir wussten, dass sie schon früher in Berührung mit unserer Sammlung waren und daher wussten, wie wertvoll sie ist. Wir haben sie dann im Umgang mit Filmkopien ausgebildet, sofern sie keine Vorkenntnisse hatten, und sie natürlich umfassend betreut, um sicherzugehen, dass nichts passiert. Als es dann in die Projektrealisierung und um die Rechte an den Filmen ging, haben wir die Filmemacher und Rechteinhaber einbezogen. In allen Fällen haben sie sich gefreut und das Vorhaben unterstützt, schlimmstenfalls haben sie sich nicht besonders dafür interessiert. Aber es war ganz überwiegend ein positives Echo und in einigen Fällen sogar deshalb, weil die Betroffenen selber gar nicht mehr wussten, dass wir ihre Filme haben. Für sie war es ein freudiges Ereignis zu erfahren, dass es ihren Film noch gibt und er zum Leben erweckt wird.

All die Gefahren, die wir durchaus gesehen haben, haben sich ins Positive gekehrt. So dass ich jetzt sagen würde, im Bereich der Archivtheorie haben wir schon richtungsweisend gearbeitet. Wir hatten eine These, und sie hat sich bewahrheitet: Das Zeigen von Filmen ist auch eine Form der Archivierung. Nur so finden sie Eingang ins kulturelle Gedächtnis. Die Digitalisierung erfasst meist solche Filme, die die Welt schon kennt. Das ist zwar verständlich, aber es bleiben sehr viele Filme außen vor, die vielleicht auch im analogen Zeitalter noch komplett unentdeckt oder marginalisiert waren. Das war für uns die wichtigste Erkenntnis: Archivierung und Präsentation sind untrennbar miteinander verbunden. Nicht zuletzt weiß spätestens jetzt alle Welt, dass wir diese Sammlung haben und dass wir eine ganz besondere Archivpraxis pflegen. Vor diesem Hintergrund ist es nun leichter, neue Gelder zu akquirieren, neue Digitalisierung- und Restaurierungsprojekte zu entwickeln und uns damit in der Archivlandschaft zu positionieren.

Büscher: Soll diese Form der Erschließung in eine kontinuierliche Praxis des Arsenal überführt werden?

Schulte Strathaus: Das ist zumindest der Wunsch. Living Archive war ein Pilotprojekt, das übrigens alle an ihre Grenzen gebracht hat. Ich glaube aber, es hat dieses Ausmaß gebraucht, um eine nachhaltige Erfahrung zu ermöglichen, für uns und für die Öffentlichkeit: Hier ist wirklich etwas, das einen hohen Wert hat, es lohnt sich, weiterzumachen; und wir haben auch sehr, sehr viel gelernt. Trotzdem fehlt eine langfristige Finanzierung, um es verstetigen und in eine laufende Praxis überführen zu können. Da wir in erster Linie eine Institution sind, die sich über Kino, Festival und Verleih definiert und nicht einmal dafür die Fördergelder reichen, ist die Archivarbeit durch unser eigenes Budget nicht gedeckt. Aber wir arbeiten daran. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Umzug der Sammlung in andere Räume. Im Silent Green Kulturquartier im Berliner Bezirk Wedding werden wir Nachbarn haben, andere filmbezogene Gruppen und Institutionen, die sich zeitgenössischer Filmpraxis und -theorie widmen. Wir haben dort mehrere Sichtungsräume, so dass wir zumindest schon über die räumlichen Bedingungen verfügen, um langfristig ein ,offenes Archiv’ auch physisch herstellen zu können.

Büscher: Wenn ich das richtig verstanden haben, spiegelt sich diese inhaltliche Kontur im Begriff des unabhängigen Kinos und umfasst beide Seiten: experimentelle und formale, medienreflexive Arbeiten und andererseits das Politische. Inwiefern findet sich das in der Auswahl der eingeladenen Künstler und Kuratoren, Wissenschaftler wieder? Und wie macht es sich in den entstandenen Arbeiten bemerkbar?

Schulte Strathaus: Wir haben schon bei der Auswahl darauf geachtet, dass keiner von ihnen ,nur’ Filmarchivar war. Sie kamen alle aus anderen Bereichen, arbeiteten in ihrer Praxis aber bereits mit Film und mit Fragen des Archivs, Leute aus Theorie und Praxis, aus Kunst und Kino. Diese Art des Kinos, die Sie gerade beschrieben haben, war immer unser zentrales Interesse und brachte uns natürlich auch in Kontakt zu Personen die eine ähnliche, das heißt offene Vorstellung davon hatten, was Kino ist. Insofern hat sich das bestimmt gespiegelt, es war schon per definitionem niemand dabei, der sich ausschließlich für Mainstream interessiert hätte. Interessanterweise haben die Teilnehmer oft nicht das realisiert, was wir vermutet hatten. Wir haben die Energien, die entstehen, indem man etwas öffnet, was sonst eher einen Tabubereich darstellt, unterschätzt. Akademiker, von denen wir dachten, sie machen eine Publikation oder eine Edition, haben Performances entwickelt, eine Stummfilmpianistin eine Installation, und so weiter. Das war sehr überraschend.

Alle hatten aber ein Problem: Sie mussten irgendwo anfangen – bei 10.000 Filmen. Sie mussten eine Schneise bilden, politisch, historisch, ästhetisch, formal… Was gibt es für mögliche Zugänge zu einer solchen Filmsammlung? Das war für alle eine gemeinsame Anfangshürde. Ab da ging es auseinander. Insofern haben die Projekte der Teilnehmer die Heterogenität der Sammlung stark gespiegelt, aber auf eine, wie ich finde, sehr zeitgenössische Art, die gezeigt hat, dass filmisches Denken gerade nicht darin besteht, ein Narrativ zu verfolgen. Den Begriff Experimentalfilm benutzte ich lieber als historischen Begriff. Heute versuche ich diese Art Kino eher als Praxis zu umschreiben, als filmisches Denken – dazu haben wir auch einen Kongress unter dem Titel Think:Film – International Experimental Cinema Congress 2012 organisiert (http://www.arsenal-berlin.de/transfer/seminare-konferenzen/thinkfilm.html). Filmisches Denken kann auch in anderen künstlerischen oder wissenschaftlichen Formaten Ausdruck finden.

Büscher: Gerade diese internationale Seite spiegelt sich ja auch in Visionary Archive. Es gibt personelle Verknüpfungen zwischen diesen beiden Teilen. Welche Rolle spielt der aktuelle, zeitgenössische Zugriff auf politische Aspekte des Archivs in beiden Phasen?

Schulte Strathaus: Besonders in der ersten Phase war die Arbeit am Projekt verknüpft mit den Themen Postkolonialismus, nationale Identität, Macht. Natürlich stand häufig die Frage im Raum: Warum haben wir gerade diesen Film aus dem Senegal und nicht einen anderen? Warum die chilenischen Filme, warum sind sie nicht in Chile? In diesem konkreten Fall war das einfach zu beantworten: Sie blieben hier, um sie vor Diktatur zu schützen. Aber was heißt das in der Konsequenz? Für Chile hatte es sogar bereits eine Rückgabeaktion gegeben, aber in vielen Fällen mussten wir uns diese Frage ganz aktuell stellen.

Es ging auch um andere Besitzverhältnisse, die beispielsweise aus der Autorschaft abgeleitet werden. Etwa wenn ein Filmemacher sagt: Ich wusste nicht, dass Ihr den Film noch habt, ich verlange ihn zurück. Das Risiko sind wir eingegangen. Und haben gesagt: Wenn sich nicht mehr überprüfen lässt, ob wir ihn einmal angekauft haben, dann geben wir ihn zurück. Das ist eben dann ein Aspekt des Living Archive. Das Archiv lebt auch dadurch, dass wieder etwas ,verloren geht’. Solche Besitzstandsfragen waren permanent Thema. Und die Verantwortung, die wir tragen, haben schon Erika und Ulrich Gregor bei der Gründung der Institution sehr deutlich formuliert: In dem Moment, wo man Kino macht oder ein Festival und dazu Personen bzw. Filme aus dem Ausland einlädt, übernimmt man Verantwortung. Wenn man dann Filme auch noch Deutsch untertitelt und über das Festival hinaus am Leben erhalten möchte, bringt das bereits ein Nachdenken über Verantwortung zum Ausdruck.

Wir haben einige viele Filme aus der Zeit der Dekolonisierung, politisches Kino aus den 1970er Jahren, und da gab es sehr häufig Berührungen zwischen unserem Diskurs über Archivtheorie und diesen Filmen. Das Visionary Archive-Projekt ist daraus hervor gegangen. Es ging um zwei Bestände an Filmen in Guinea-Bissau und im Sudan, die an uns heran getragen wurden von Personen, die mit uns schon gearbeitet oder von unserem Projekt gehört hatten: die Künstlerin Filipa César, die Journalistin Nadja Korinth und die Regisseurin und Cutterin Katharina von Schroeder. Sie haben uns kontaktiert, weil sie den Eindruck hatten, der Diskurs, der bei Living Archive über Archive geführt wird, kann diese Archive einbeziehen. Es hätte ja andere Möglichkeiten gegeben, etwa über die FIAF, den Internationalen Archivverbund für Film (Fédération Internationale des Archives du Film). Doch sie haben sich an uns gewandt, weil sie wussten, dass Materialrettung für uns nicht ohne eine sehr weitgehende Auseinandersetzung mit den politischen Implikationen möglich ist. Diese Projekte haben wir dann eingeladen, mit uns zu arbeiten.

Das Johannesburg-Projekt geht auf einen Stipendiaten aus dem Living Archive-Projekt zurück, Darryl Els, der gerade in Johannesburg ein Kino aufgemacht hatte, The Bioscope (http://www.thebioscope.co.za/). Er hatte gesehen, dass bei uns Archivarbeit und Kinoarbeit eng miteinander verbunden sind, und stieg dann auch in Visionary Archive ein. Und Kairo ... während Living Archive fing ich an, wenn auch aus ganz anderen Gründen, sehr viel nach Kairo zu reisen, noch vor Beginn der Revolution. Damals wurde schon an der Gründung einer Cimatheque gearbeitet, die u.a. ein Kino und ein Archiv beinhaltet, aber unter komplett anderen Voraussetzungen, als wir sie hier jemals hatten. Wir fühlten uns dennoch sehr verbunden, weil es um bestimmte gemeinsame Fragestellungen ging, die damit zu tun hatten, den Aufbau eines Archivs nicht von der kuratorischen und politischen Praxis trennen zu können.

Büscher: Am Beispiel des Projekttextes zu Revisiting Memory lässt sich die Frage nach der Funktion von (Film-) Archiven im Kontext von ’Deutungshoheit der Geschichte und Wahrheitsgehalt umstrittener Narrative’ und die Rolle der Macht in der Frage des Zugangs zu Archiven aufrollen. Könnten Sie das an einem Beispiel genauer beschreiben?

Schulte Strathaus: In Kairo gibt es ein Filmarchiv, aber es ist nicht zugänglich. Niemand weiß, wer dort was verantwortet, niemand kann hinein, es sei denn mit Geld...

Cramer: Ist es ein staatliches Archiv?

Schulte Strathaus: Ja. Aber es ist auch deshalb nicht zugänglich, weil es nicht aufgearbeitet ist. Nicht nur kommt man nicht hinein – schon gar nicht als Einzelperson –, sondern es ist auch kaum nutzbar. Gleichzeitig gibt es unglaublich viele Home Movies und Filme, die jenseits der Filmindustrie entstanden sind, beispielsweise an der American University, wo in den 1970er Jahren Filmworkshops veranstaltet wurden mit sehr interessanten Ergebnissen – aber das ist alles verstreut, bei Einzelpersonen, Privatsammlungen etc. Das soll nun erschlossen werden. Mir schien dabei die enge Verbindung interessant, die zu anderen Narrativen hergestellt wird. Revisiting Memory orientiert sich an bestimmten ’Milestones’ der Geschichte, um zu sehen, was da filmisch passiert ist ... Das ist ohnehin seit Beginn der Revolution ein starkes Bedürfnis: zurückzublicken. Es war ja nicht die erste Revolution, und wenn man nicht mehr weiter nach vorne blicken kann – es gab sehr schnell den Punkt, an dem niemand mehr wusste, wie es weitergehen soll –, dann blickt man zurück. Das klingt banal, ist aber nicht selbstverständlich und kann sehr konstruktiv sein.

Büscher: Und woher wusste man von der Existenz solchen Materials?

Schulte Strathaus: Die dort arbeiten, darunter Tamer El Said, leben und arbeiten schon lange dort und haben gerade aufgrund ihres Wissens und dem Handlungsbedarf, den sie sahen, beschlossen, die Cimatheque – Alternative Film Centre zu gründen. Dann gibt es eine Mitarbeiterin, Yasmin Desouki, die sehr viel forscht und recherchiert, Interviews führt, Netzwerke bildet. Das Ganze steht am Anfang. Ich hatte selbst eine Art Schlüsselerlebnis: Ich war in Kairo, um neue Filme für die Berlinale zu finden und hatte einen Tag voller Verabredungen mit Filmemachern und Künstlern. Morgens hatten wir ein Treffen in der Cimatheque und hörten, dass die Muslimbruderschaft zu Solidaritätskundgebungen für Präsident Mursi aufgerufen hatte. Mahnwachen vor dem Präsidentenpalast wurden gestürmt, mit dem seine Gegner gegen dessen weitreichende Machtbefugnisse protestierten. Sogleich wurden die Tagestermine abgesagt und alle gingen auf die Straße. Ich blieb im Gebäude der Cimatheque. Meine Verabredungen konnten nicht stattfinden. Ein Bekannter, Paul Geday, hatte einen Film vorbei gebracht, den er an der American Academy im Rahmen eines Filmworkshops in den 1970er Jahren gemacht hatte. Hana Al Bayaty, die mit mir in der Cimatheque geblieben war, und ich fanden einen verstaubten Projektor und schauten ihn an. Am nächsten Morgen musste ich zurück nach Berlin. Ich sagte mir: Wenn die Situation so ist und ich keine weiteren Recherchen machen kann, dann habe ich eben nur einen einzigen Film gesehen, den ich dann ins Programm einlade. In dem Moment haben sich Geschichte und Gegenwart gewissermaßen gegenseitig neu erzählt. Das war für mich eine sehr einschneidende Erfahrung.

Büscher: Es gibt ein anderes Projekt, bei dem junge Filmemacher sich mit historischem Material vor Ort auseinandersetzen ...

Schulte Strathaus: Das ist Studio Gad in Khartum, die Sammlung eines einzelnen Filmemachers, der auch Produzent war, damit er überhaupt Filme machen konnte. Er hat einen Großteil der sudanesischen Filmproduktion zu verantworten. Um das finanzieren zu können, hat er schon in den 1950er Jahren Werbefilme und Musikclips gemacht. Irgendwann wurde ihm sein Studio abgenommen. Er wurde daraufhin blind, mitten in der Arbeit an einem neuen Film. Seine Tochter Sara hatte in Kairo eine Filmausbildung gemacht und konnte mit ihm zusammen die Dreharbeiten zum letzten Film abschließen. Ein anderer seiner Filme wird im Rahmen eines Workshops jungen Filmemachern gezeigt, die dann mit eigenen Arbeiten darauf reagieren.

Büscher: Ist denn der Bezug zur eigenen Geschichte in den vier Projekten sehr unterschiedlich thematisiert?

Schulte Strathaus: Ja, sehr unterschiedlich. Im Sudan gibt es keine umfangreiche Filmgeschichte, in Ägypten dagegen, einem Land mit einer sehr umfangreichen Filmgeschichte, wurde erst vor einem Jahr das allererste Programmkino Ägyptens, das Zawya (http://www.zawyacinema.com) gegründet. In Kairo findet ohnehin sehr viel statt, so z.B. ein Workshop für Autoren und Kuratoren an der Cimatheque Kurrasat. Gleichzeitig ist die Situation in Kairo so dermaßen schwierig und die Verhältnisse so repressiv, dass alle Ansätze für Neues schon wieder in Gefahr sind. Gefährlich ist es auch für diejenigen, die die Revolution begonnen und darüber Filme gemacht haben. Filme über die Revolution, die noch vor drei Jahren sowohl in Ägypten wie im Ausland sehr erfolgreich waren, müssen nun hinter verschlossenen Türen gezeigt werden. Solche Erfahrungen verändern das Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart enorm.

Cramer: Im Bereich Tanz und Performance begegnet man oft dem Vorbehalt, man könne die Werke ohnehin nicht archivieren, es gehe nur um nachgeordnete Relikte, während das Ereignis immer fehlt. Die Situation bei einem Filmarchiv stellt das Gegenteil dar: Das eigentliche Objekt ist der Film, er ist kein Dokument sondern das Werk selbst. Sie sagten eingangs, Digitalisierung hat mit Kanonbildung zu tun; gleichzeitig muss es darum gehen, alles, was schon da ist aber noch nicht gesehen wurde, sichtbar zu machen. Dann ginge es weniger um die Bewegung hinein ins Archiv sondern um die Vermittlung hinaus.

Schulte Strathaus: Ich sehe das anders. Jeder Film existiert nur, wenn er gesehen wird. Jede Vorführung ist anders, was die Vorführbedingungen angeht, die Zusammensetzung des Publikums, den Zustand der Kopie. Jede einzelne Kopie, die bei uns liegt, erzählt nicht nur den Film, sondern auch anhand der Kratzer, wie oft er verliehen worden ist, anhand der Aufkleber auf dem Karton, wo er schon zu sehen war. Jede Kopie hat ein Eigenleben jenseits des Films, den man glaubt archivieren zu können. In einem früheren Projekt haben wir mit den Filmen von Jack Smith gearbeitet, die uns von der Plaster Foundation überlassen wurden, noch bevor der Gladstone Galerie Rechte und die Negative erworben hatte. Wir besaßen die Positive. Die meisten Filme von Jack Smith waren nie als fertige Filme gedacht, sondern Bestandteil von Performances. Er hat sie auf der Bühne immer wieder umgeschnitten, dazu Platten aus seiner Sammlung gespielt. Einen fertigen Film mit festem Soundtrack gab es nicht. Wie sollte dieses Material jetzt von uns dokumentiert und beschrieben werden? Wie zeigt man es? Da hatten wir – gemeinsam mit Marc Siegel und Susanne Sachsse – zum ersten Mal die Idee zu einem Format, das multiperspektivisch funktioniert. Ein Drittel der Eingeladenen kannte Jack Smith und hatte mit ihm gearbeitet. Von einem Teil der jüngeren dachten wir, sie sollten Jack Smith kennen. Eine Woche lang haben wir ihnen alle Filme gezeigt. Dann gingen sie für ein halbes Jahr wieder nachhause mit der Aufgabe, etwas zu produzieren. Wir haben versucht, das Ephemere der Performance in einem anderen Format beizubehalten. Das hatte zur Folge, dass Gladstone über das Whitney Museum (die inzwischen verstorbene Callie Angel nahm an unserem Projekt teil) davon hörte, den Nachlass erwarb und letztlich mit Unterstützung von Jerry Tartaglia dafür sorgte, dass alle Filme restauriert und Kopien an Filmverleihe gegeben wurden. Archivarische und kuratorische Arbeit gingen hier wieder Hand in Hand.

Das war ein Vorläufer. Bei Living Archive wurde die Frage des Multiperspektivischen erneut aufgegriffen. Das Archiv ist durch die gemeinsame Arbeit sehr vieler Personen und durch Netzwerke gewachsen – wie bildet man das ab? Indem man genau diese Struktur auch in der späteren Aufarbeitung zur Grundlage nimmt. Viele, auch fachfremde (zumindest im akademischen Sinne) Menschen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und experimentelle Aufführungsformate für Film zuzulassen bedeutet nicht, sich der filmhistorischen Verantwortung zu entziehen, insbesondere mit Blick auf Filme in unserem Bestand, die zu Originalen geworden sind. Sie tritt im Gegenteil deutlicher hervor, wenn neue Möglichkeitsräume geöffnet werden.

Büscher: Wenn auf diese Weise neues Archivgut entsteht, wandert das wiederum ins Archiv?

Schulte Strathaus: Ja, jedenfalls sofern es Filme sind ...

Büscher: Und das Performative?

Schulte Strathaus: Performances höchstens in Form von Dokumentationen. Aber wir haben schon früher darüber nachgedacht, wie man als Filmarchiv filmische Installationen archiviert. Dabei lag unser Interesse aber auch auf dem Spiel mit institutionellen Grenzen. Wir verstehen unsere Arbeit auch – jedenfalls zum Teil – als Institutionenkritik, uns selbst eingeschlossen.

Büscher: „Das Projekt bietet die Möglichkeit einer translokalen Case Study, in der auch die subsidiäre Rolle einer Institution wie des Arsenal bei der Sicherung und Sichtbarmachung eines afrikanischen Filmarchivs ins Blickfeld gelangt" heißt es auf der Webseite zu Visionary Achive (http://www.arsenal-berlin.de/living-archive/projekte/visonary-archive.html). Was genau bedeutet das? Man kann sich vorstellen, dass es den Vorwurf des ’kolonialen Gehabes’ geben kann. Und die Frage der Nachhaltigkeit wird sich unweigerlich stellen.

Schulte Strathaus: Diese Diskussion hat uns von Anfang an begleitet. Deswegen sehen wir Visionary Archive auch nicht als vier Projekte im afrikanischen Raum, sondern fünf Projekte, eines davon sind wir. Wir sind ein Archiv, das sehr viele afrikanische Filme enthält, und es gibt die berechtigte Frage, wie diese Auswahl zustande gekommen ist, was sie ausdrückt – nicht im Sinne von Vollständigkeit, aber als Erzählung einer Geschichte. Dazu gehört beispielsweise auch die Praxis der Untertitelung. Man kann an unserem Bestand sehr viel ablesen. Wir versuchen also, einer von fünf Partnern zu sein und haben dafür zwei Kuratoren von außen eingeladen: Marie-Hélène Gutberlet und Tobias Hering. Aber das Geld kommt von der Kulturstiftung des Bundes, wir sind die tragende Institution, das Abschlussfestival wird in Berlin stattfinden – wir können eigentlich diese Zusammenhänge nur permanent reflektieren, aber nicht abschließend lösen. Die Nachhaltigkeit besteht darin, die Unabgeschlossenheit eines experimentellen Projekts wie dieses auszuhalten und sie im Gegenteil als befreiend und produktiv kenntlich zu machen.

 

 

Filmstill aus Le Grand Détour, Regie: Ahmed Bedjaoui, Algerien: 1968,
Quelle: Arsenal – Institute for Film and Video Art

 

 

 

Stefanie Schulte Strathaus (Berlin) ist Ko-Direktorin des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. (mit Milena Gregor und Birgit Kohler). Mitglied des Auswahlkomitees des Berlinale Forums sowie Gründerin und Leiterin des Berlinale-Programms Forum Expanded. Kuratorin zahlreicher Filmprogramme, Retrospektiven und Ausstellungen, unter anderem zu den Werken von Michael Snow, Guy Maddin, Heinz Emigholz, Birgit Hein, Ulrike Ottinger und Stephen Dwoskin; Ko-Kuratorin der Film- und Veranstaltungsreihe Wer sagt denn, dass Beton nicht brennt, hast Du's probiert? Film im West-Berlin der 80er Jahre (2006 mit Florian Wüst) und Live Film! Jack Smith! Five Flaming Days in a Rented World (2009 mit Susanne Sachsse und Marc Siegel, in Zusammenarbeit mit dem HAU/Hebbel am Ufer). Leitung der Projekte Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart und Visionary Archive am Arsenal – Institut für Film und Videokunst.

 

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