Moment und Performance: Archiv-Ereignisse

Franz Anton Cramer (Berlin)

 

 

 

 

Es gehört zum gängigen Selbstverständnis von Performancekunst, die in ihrem Namen entstandenen Artefakte oder Werke als einzigartig, unwiederholbar und radikal singulär zu verstehen. Nur in ihrem Nicht-Sein soll ihr Dasein zu finden sein. Ihrem Wesen nach werden Performances daher geschichtslos, unhistorisch und überzeitlich gedacht. Dass eine derart paradoxe Selbstbestimmung nicht ohne Schwierigkeiten bestehen kann, zeichnet sich in den letzten Jahren verstärkt in wissenschaftlichen und kuratorischen Debatten ab. Denn die Singularitäts-Doktrin ist rein phänomenologisch kaum haltbar und jedenfalls nicht alleinstellend: partizipative und zeit- wie ortsgebundene Praktiken gibt es in Hülle und Fülle, es brauchte nicht die Performancekunst, um das Performative zu sich selbst zu führen. Ebenso wenig ist der immaterielle Charakter von Aufführungen etwas Distinktives. Der wichtigste Vektor im Kraftfeld der Performance ist vielmehr eine subliminale Dialektik. Sie ergibt sich aus dem emphatischen Gegenwärtigkeitsbegriff mit all seinen Facetten an Erlebnis, Erfahrung, Kopräsenz, Teilhabe, Fülle, wie er dem Performance-Ereignis zugewiesen wird. Verhandelt wird ein Zeitpunkt, der unabhängig von der Zeit beschreibbar sein soll: Ein Zeitpunkt, der alle Zeit in sich fasst und daher Geschichte nicht nur nicht braucht, sondern gar nicht kennt. So kann das Performance-Artefakt sich als einmalig und zeitlos begreifen, weil die Zumutungen der Geschichte ausgeblendet werden konnten. Die Realität stellt sich jedoch anders dar. Denn sowohl die Künstler_innen selbst wie auch das interessierte Publikum geben sich mit der Unwiederbringlichkeit nicht zufrieden. Dokumentation gehört zum Performancebetrieb schon immer und ganz selbstverständlich dazu. Und sowohl Geschichtsschreibung wie künstlerische Praxis wissen, dass Gemachtes nicht einfach verschwindet. Aber wo geht es hin? Und wer findet es wieder?

 

 

Immaterielle Gegenstände

Bereits in der heroischen Aufbruchsphase des modernen Tanzes war man sich des Problems der Überlieferung von Werken bewusst. Um sich innerhalb einer Kultur des Monumentalen behaupten zu können, musste der Tanz sich jenseits seiner ephemeren Erscheinungsweise objektivieren. Rudolf von Laban war einer der glühendsten Verfechter dieser Idee. „Unter die Menschen gelangt [...] diese Kunst durch Tanzwerke, die nach schriftlicher Aufzeichnung reproduzierbar sind“, schreibt Laban 1929. [Laban 1929: 13] Gemäß seines Arbeitsprogramms konnte ein Werk nur, oder doch am besten in schriftlicher Form überliefert sein, also als Quelle im weitesten Sinne. Zu diesem Verständnis zählte aber auch das Monumenthafte und Überpersönliche: „Heute sehen noch wenige das unpersönliche Tanzwerk, die meisten sehen nur den Tänzer und seine persönlichen Besonderheiten.“ [Laban 1929: 13, Hervorhebung im Original]

Es handelte sich um den Zwiespalt, der heute unter den Termini „Singularität“ des „Tanz-Objekts“[1] oder eben des „Performance-Ereignisses“ diskutiert wird. Eines der herausragenden Merkmale der Performance Art seit den 1960er Jahren ist gerade die Identität der Person von Künstler_in, gezeigtem Werk und spezifischem Kontext der Aufführung. Im Gegensatz zur monumenthaften Vision Labans sind die Originalität und dadurch auch der objekthafte Status einer Performance eben nicht von der Person und vom Aufführungsrahmen ablösbar – es geht stets um die „persönlichen Besonderheiten“ des Performers. Aber das enthebt sie nicht ihrer Geschichtlichkeit.

Zwar begleitet die Ideologie des Flüchtigen die Darstellende Kunst über das ganze 20. Jahrhundert hinweg. Doch bleibt zu fragen, ob die Realität der infrage stehenden Kunstform überhaupt zu dieser Sichtweise passt. Die Kunsthistorikerin Barbara Formis jedenfalls bezweifelt diese Fixierung auf die Vergänglichkeit als Wesenskern. Zwar mag Performance „objektlos“ sein; gleichwohl bietet „performance [...] a temporal modality that is indeed in the present without leaving out the phenomenon of duration.“ [Formis 2013: 59] Daraus folgt aber nicht zwingend die gleichsam sakrale Einheit von Ausführung und Beiwohnung. Denn der Erfahrungsraum als „Eigentliches“ der Performance löst sich vom Ereignis ab: „The paradox of presence lies in producing a lasting experience, a practically unlimited experience.” [Formis 2013: 59] Ohne die Qualität und Art dieser Erfahrung hier näher zu diskutieren, lässt sich festhalten, dass zum Verschwinden das Bleiben gehört, zur Gegenwärtigkeit das Vergangene, das Voraus- oder Zurückliegende. „[T]he ontology of presence is, as such, subject to the ontology of disappearance”, wie Formis formuliert. [Formis 2013: 62] Indem die Performance Art in ihrer Theoretisierung die Nicht-Reproduzierbarkeit dieser Erfahrung behauptet, pflegt sie einen blinden Fleck. Denn nur weil man Verschwinden und Nichts effektiv glaubt, rückt die flüchtige Präsenz als Kategorie derartig in den Vordergrund.

We only believe that something can actually be present, here and now, because we believe that this something can also no longer exist. And conversely, we only believe in the effectiveness of disappearance and nothingness because we seek to save presence. [Formis 2013: 62 f.]

Aus diesem bewahrenden und damit letztlich eben doch monumentalen Verständnis ergibt sich die ästhetische und ideologische Reaktion der dauernden, der permanenten Schaffung von Gegenwart als Gegengewicht zum Verlust:

We only believe in the effectiveness of disappearance and nothingness because we seek to save presence. The myth of presence is therefore based on an archaeological approach to the arts whereby ruin always prevails over experience, and authenticity lies in the no longer present. [Formis 2013: 63]

 

 

MOMENTS

Die Ausstellung Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten fand im Museum des Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM Karlsruhe vom 8. März bis 29. April 2012 statt. Es war eine hybride Veranstaltung zwischen Ausstellung, Reenactment, zeitgenössischer künstlerischer Aneignung, Zeugenschaft und Dokumentation.[2] „Das Projekt erarbeitet und präsentiert vor und mit dem Publikum neue Formate und Methoden einer aktiven Darstellung von Performance-Geschichte im Museum“, wie es in der Ausstellungsbroschüre heißt [ZKM 2012]. Nicht die Wiedergabe von Originalen war beabsichtigt, sondern eine Aktualisierung der Arbeitsweisen und künstlerischen Positionierungen sollte vorgeschlagen werden – aus einer Perspektive der Zeitgenossenschaft: „Moments stellt den musealisierenden Formaten der Re-Konstruktion von Performance neue Formen einer aktiven Weiterinterpretation von Geschichte entgegen.“ [ZKM 2012] Hierbei galt es, vom Dokumentarischen abweichend auch die Temporalität zu untersuchen, mit und in der Historisches sich im Ausstellungskontext einfügt. „Im Zentrum des kuratorischen Projekts stand die Frage, welche musealen Formen zu erfinden sind, um die so genannten ‚lebendigen’ Kunstpraktiken auszustellen; [...] sie wird hier durch eine Arbeit an der Dauer untersucht.“ [Fernandez 2014: 7][3]

Vorgestellt wurde die Arbeit von zehn Pionierinnen[4] der Performance Art seit den 1950er Jahren, ohne sie jedoch zu „historisieren“ oder sie auf bestimmte Zuschreibungen – wie etwa Aktivismus, Feminismus, historischer Rang etc. – festzulegen.

Die Ausstellung baut sich in vier Phasen auf, in denen jeweils andere Akteure im Ausstellungsraum agieren: Die Autorinnen und Akteurinnen bedeutender Performances der historischen Periode [...] dokumentieren, interpretieren und präsentieren in der ersten Ausstellungsphase ihre historischen Performances zum Teil selbst in spezifisch von ihnen gestalteten Ausstellungsdisplays. In einer zweiten Phase entwickelt eine Gruppe jüngerer Kollegen unter Leitung des [...] französischen Choreografen Boris Charmatz live in der Ausstellung einen szenischen Akt um die zehn zentralen Momente der Performancegeschichte. Die Filmemacherin Ruti Sela wird diese künstlerische Annäherung der jüngeren Generation an die Performancegeschichte ihrer Vorgängerinnen dokumentieren und diesen Film in der dritten Phase im Ausstellungsgeschehen produzieren. Eine Gruppe Studierender [...] europäischer Hochschulen wird [...] den gesamten Prozess begleiten und unter Anleitung der Gruppe um Boris Charmatz [...] neue performative Methoden und Aktionen der Vermittlung historischer Performance an die Besucher entwickeln. [ZKM 2012]

Die vier Phasen der Ausstellung hießen ACT: Bühne und Display; RE-ACT: Interpretative Aneignung im künstlerischen Labor; POST-PRODUCTION: Filmediting; REMEMBERING THE ACT: Performative Vermittlung des Ausstellungsprozesses durch künstlerische Zeugen.

 

 

Konstruktion von Dauer

In einem internen Arbeitspapier, das während der Vorbereitungsphase des Projekts entstanden ist, formuliert Simone Forti als beteiligte Künstlerin einige Überlegungen und Vorbehalte angesichts des Vorhabens. Dazu zählt das Angebot, einen 2004 entstandenen Dokumentarfilm mit dem Titel An Evening of Dance Constructions zu verwenden. Insbesondere für die Arbeit mit jüngeren Künstler_innen im Rahmen des Künstlerischen Labors eigne sich dieser Film. Forti hat in Bezug auf den dokumentarischen Aussagewert dieses Artefakts keinerlei Zweifel – zumindest sind sie in dem zweiseitigen Papier nicht artikuliert.

In dem gleichen Memo schreibt Forti:

The artists of the 1960s and 70s […] were in conversation together. […] We spoke with each other, sometimes worked together, followed each others work and influenced each other. Of course there were others […].[5]

Wir wissen heute einiges darüber, in wie weitgehendem Maße die so genannten „Werke“ der Judson Dance Group, die heute den Rang von Klassikern einnehmen, aus einer Vielzahl von Austauschprozessen hervorgegangen sind und durch allerlei künstlerische und intellektuelle – bisweilen auch private und persönliche – Interaktionen überhaupt erst haben entstehen können. Gerade dieser kooperative oder gesprächsbasierte Anteil am Werkganzen aber lässt sich zweifellos nachvollziehen und rückblickend beschreiben.[6] Jedes Performance-Ereignis stützt sich auf kollektive und interaktive Prozesse und Mechanismen, die demjenigen Aufschluss geben können, der sie zu verstehen und in seine Gegenwart zu übertragen versucht.

Dies war auch der für MOMENTS gewählte Ansatz. Die Ausstellung stützte sich auf vergleichsweise wenige Exponate, die zudem ohne deutlich definiertes didaktisches Programm in der großen Ausstellungshalle verteilt waren. Die thematisierten Künstlerinnen waren zu verschiedenen Phasen selbst in der Ausstellung anwesend und wurden durch öffentliche Künstlerinnengespräche, Interviews und Workshops dem Publikum vorgestellt. Im Übrigen hatten sie die Auswahl der Objekte und Dokumente selbst betreut. Das Ausstellungskonzept bestand daher weniger in einer das Publikum belehrenden Anordnung von Wissensträgern, sondern in der Gestaltung eines Handlungsraumes, eines Kontaktraumes zwischen Dokumenten und (künstlerischen) Nutzern.

Dies jedenfalls war das ausdrückliche Anliegen der zweiten Phase Interpretative Aneignung im künstlerischen Labor[7]. Zeichnungen, Kostüme, Videos, Reproduktionen von Fotos, selbst die Ausstellungsarchitektur wurden über vierzehn Tage zu Akteuren einer höchst spekulativen Recherche, in deren Verlauf die historischen Performance-Ereignisse in die Jetztzeit übertragen wurden. Die Dokumente waren nicht mehr Reliquien der Vergangenheit, sondern Angebote zur Transformation ihrer tatsächlichen oder angenommenen Bedeutsamkeit. Boris Charmatz, einer der Initiatoren des Gesamtprojekts, äußerte sich dazu im Gespräch: „Wir haben das Lab organisiert und Personen eingeladen, deren Ansichten zum Thema Performance – Geschichte – Feminismus sehr weit auseinanderliegen: eine aktive Konfrontation statt eines klassischen Aneignungsformats.“ [Charmatz in Fernandez 2013][8] Es ging nicht um „Werktreue“ oder um Rekonstruktion, ja es ging letztlich noch nicht einmal darum, Werke auszustellen – ganz gleich wie vollständig oder unvollständig die Quellenlage gewesen sein mag. Es handelte sich vielmehr um die Re-Aktualisierung des Kontextes, des konversationellen Anteils, wie Simone Forti es nannte, auf deren Grundlage die Werke und Werkkomplexe in ihrer Zeit überhaupt hatten entstehen können. Im nachträglich erschienen Ausstellungskatalog fassen die Herausgeber zusammen:

Zwischen dem Display des historischen Materials und der Re-Aktion – verstanden einerseits als Reaktion durch Neuinterpretation, andererseits als Reaktion durch das Publikum – wird dabei ein Spannungsfeld als eine Leerstelle deutlich. [A]uch im Kontext der Rekonstruktion historischer Performances [wird] auf etwas verwiesen, das über die Wiederaufführung hinausgeht – und diese Leerstelle als kreatives Potenzial nutzt. [Gareis et al. 2014: 12]

Es ist diese vermeintliche Leerstelle – man könnte sie eher als Komplementär zum Quellenwissen verstehen –, in welcher Archivprozesse zum Einsatz kommen, mit denen das spezifische Verhältnis von „Gewesen“ und „Erschlossen“ sich artikulieren lässt. Denn es sind eben nicht nur erratische Spuren, zufällige Überreste oder trügerische Erinnerungen an diesem Bruchpunkt zu finden; vielmehr ist die Leerstelle das Archiv selbst. Selbst ein Artefakt, sammelt es Artefakte zu Artefakten, in denen unterschiedliche Informations- und Wissensebenen zusammentreten können. Dabei geht es nicht nur um „authentische Quellen“ oder „belastbare Dokumente“; wir gehen im Forschungszusammenhang von Verzeichnungen von der Hypothese aus, dass Performance und deren materielle Spuren mindestens eine Eigenschaft teilen: Sie sind Artefakte. Und als „Gemachtes“ teilen sie einen Wesenszug, der sie darstellbar werden lässt, nämlich die Intention. Das Absichtsvolle verleiht beiden den Status einer Selbstbekundung, eingebettet und eingeflochten in ein zeitliches Regime, in dem die Vergangenheit sich als Gegenwart manifestiert, um wiederum Vergangenes zu werden.

Ähnlich argumentiert auch Formis, wenn sie auf das dialektische Verhältnis von körperlichem Vollzug und Konstitution von Erfahrung und Erinnerung hinweist: „If the gesture becomes material, then conversely, the material must reenact the gesture. [T]he living and the document would thus go hand in hand.” [Formis 2013: 65] Mehr noch: Die Vorstellung eines authentischen Vorher der Performance, das sich im Zug durch die Zeit und also in seiner geschichtlichen Erscheinung zwangsläufig denaturiert, wird kaum noch haltbar.[9] Ein in der Vergangenheit entstandenes Artefakt wandert nicht unter Beibehaltung seiner Natur, seiner Form, seines Konzepts und seiner Materialität in die Gegenwart. Das Vorher ist von Bedeutung, sofern es sich bewegt, sich in die je neue Gegenwart eines Diskurses und einer künstlerischen Praxis begibt.[10] Der schöpferische Augenblick eines Aufführungsereignisses verwandelt sich in einen anderen, späteren, der noch dazu erweitert ist um das seither entstandene Wissen. Er lässt sich aber nie auf die schiere Chronologie, das bloße Gewesen-Sein beschränken. Das legt im Übrigen auch schon der Ausstellungstitel nahe, der „Moment“, „Akt“ und „Geschichte“ zusammenschnürt, wie Laure Fernandez treffend bemerkt [Fernandez 2014: 7], also einen Durchgang durch die Zeit im Handeln, um ein Gedächtnis hervorzubringen – als Performance.

 

 

Werk statt Monument

Der den Pionieren des modernen Tanzes so wichtige Werkbegriff zielte auf die Totalität jedes Aufführungsereignisses ab. Doch kann diese Totalität, wie schon Laban erkannt hatte, letzten Endes nur in einer Übertragung in ein anderes Register als die Aufführung und das Hier und Jetzt entstehen. Denn der Sinnzusammenhang, der niemals allein durch den Moment des Sehens sich ergibt[11], verbindet die Performance als Kunst der Aufführung mit anderen immateriellen Praktiken [von Bismarck et al. (Hgg.) 2014; Lind (Hg.) 2013]. Die gegenwärtige Diskurskrise um Rolle, Wesen und Funktion des Archivs und dessen sowohl dienendes wie beherrschendes Verhältnis zu Vergangenem könnte also womöglich auch auf breiterem Terrain ausgetragen werden. Wenn identitäre Visionen der Einen Geschichte bzw. deren Großer Erzählung ohnehin obsolet werden, sind auch die herkömmlichen Formate der Geschichtskonstruktion zwischen „Original und Revival“ [Thurner und Wehren 2010] oder auch zwischen Konservieren und Animieren brüchig. In einem anonymen Beitrag auf der indischen Webseite pad-ma formuliert der/die Autor_in den aktuellen Zwiespalt:

The challenge for the archive, which today threatens the exhibition with its own sensual ability to relink and rearticulate these two functions, is how not to end up as a spiral ramp, or as flea market. In other words, how to avoid the tyranny of the two historical ‚freedoms‘: one, the (modernist) formal strategies of audience participation in the spectacle, and two, the (postmodernist) eclecticism in which anything, included and curated, could be accorded ‚exhibition-value‘. Or we could put it this way: how does the archive avoid the confusion, that persists in the exhibition [...], between accessibility as entertainment and marketing strategy, and access as something deeper, as something that is ‚closer to the question‘. [anonym 2010: Nr. 8].

Die eigentliche, vielleicht die „wahre“ Bedeutung der Dinge, der Werke, der Artefakte liegt nicht im Objekt selbst beschlossen, sondern darin, was wir daraus machen, indem wir verschiedenste Kontexte – Geschichte, Interpretation, Wissen, Erkenntnis, Religion, Sitten und Gebräuche – hinzufügen. Das stellt nicht das Objekt an sich in Frage, schließlich ist – oder war – es vorhanden. Aber man muss das Modell umkehren: Die Aufführung ist die Spur, der Verweis darauf, dass es das Ganze gibt oder gegeben hat. Während das Dokument von der eigentlichen Natur, also der Komplexität und Vieldimensionalität, kündet – jener Fülle, die wo nicht das Werk, so doch zumindest die Aufführung immer übersteigt.[12] Der eigentliche Moment der Teilhabe ist die Konstitution des Werks auf der Grundlage von Aufführungsdokumenten, nicht der bloße Moment der Aufführung.

Babette Mangolte fasste die Komplexität eines solchermaßen verstandenen dokumentarischen Prozesses in den Satz „I now think that for a dancer to commit to eternity the way you moved on a particular day is risky.“ [Mangolte 2003] Das Risiko liegt aber weniger in dem Reflex, das Mögliche zu beschränken als vielmehr in der Herausforderung, Geschichtlichkeit nicht mehr als bloßes Kontinuum zu verstehen und damit auch den Authentizitätsanspruch des Großen Werks infrage zu stellen. Denn alles Wissen und jedes Dokument erscheinen nur zu einem bestimmten Moment, in einem bestimmten Zustand, mit einem bestimmten Vermögen. Das Risiko liegt darin, dem Fragmentarischen, Sporadischen und Instabilen zu vertrauen, anstatt Verlustängste in Reduktion umzulenken.

 

 

 

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[1] André Lepecki war Kurator zweier Ausgaben des Festivals In Transit (Berlin, Haus der Kulturen der Welt), die den Themen „Singularities“ und „Resistance of the Object“ gewidmet waren (http://www.perfomap.de/map2/zusam/intransit); siehe auch Lepecki 2013a, Lepecki 2013b, Lepecki 2014.
[2] Eine ausführliche Dokumentation bietet der nachträglich erschienene Katalog [Gareis et al. (Hgg.) 2013]. Siehe auch Fernandez 2013, S. 6-9.
[3] „Au cœur de la proposition des commissaires, la question, brûlante, des formes muséales à inventer pour exposer les pratiques dites ‚vivantes‘ […] se trouve ici investie par un travail sur la durée et par l’interdisciplinarité de l’approche“, eigene Übersetzung.
[4] Es waren Marina Abramović, Graciela Carnevale, Simone Forti, Anna Halprin, Reinhild Hoffmann, Channa Horwitz, Sanja Iveković, Lynn Hershman Leeson, Adrian Piper und Yvonne Rainer.
[5] Internes Arbeitspapier. Undatiert.
[6] Siehe hierzu auch Chin 2010.
[7] Unter Beteiligung von Alex Baczynski-Jenkins, Boris Charmatz, Christine De Smedt, Nikolaus Hirsch, Lenio Kaklea, Jan Ritsema, Ruti Sela, Gerald Siegmund, Burkhard Stangl, Meg Stuart.
[8] „... le lab [...] invitait des personnalités non-consensuelles autour de la question performance-histoire-féminisme: une confrontation active plutôt qu’un jeu classique d’appropriation, reenactment ou reconstruction“, eigene Übersetzung.
[9] „A performance is like a survivor because it is already a reenactment, a ‚body print‘ of the preliminary research and experimentation done in preparation of the ‚show‘. A performance is what has already survived, the remains of the body’s work.“ [Formis 2013: 67]
[10] Der französische Kunsthistoriker Franck Leibovici fasst diese zeitliche und soziale Struktur des Kunstwerks unter dem Begriff „Ökologie“ zusammen. [Leibovici 2014]
[11] Von Bismarck spricht in diesem Zusammenhang von der „explicit competitive relationship between curators and artists around meaning production“ [von Bismarck 2014: 303]. Nimmt man die Erweiterungen des Berufsfeldes „Kurator“ hinzu, wie sie etwa Maria Lind [Lind (Hg.) 2013] vornimmt, ließe sich dieses Spannungsverhältnis auch auf die Tätigkeit des Archivars anwenden: „[...] the curator produces both the history and the future of art, as well as cultural heritage. Consequently, cultural heritage can be seen as a curated cultural past.“ [Lind 2013: 12]
[12] „Befragt wird primär die Sammlung – also weniger das Werk als vielmehr seine Spur und seine Dokumentation in materiellen und immateriellen Archiven.“ [Gareis et al. 2014: 12]; vgl. hierzu auch den Beitrag zu Motion Bank in dieser Ausgabe.

 

 

 

Literatur

Anonym. 10 Theses on the Archive. April 2010, Beirut. http://pad.ma/texts/padma:10_Theses_on_the_Archive/100heading, 6. Mai 2015.
Bismarck, Beatrice von. „Out of Sync, or Curatorial Heterochronicity“. In dies. et al. (Hgg.): Timing. On the Temporal Dimension of Exhibiting. Berlin 2014, S. 301-318.
Chin, Daryl, „Mistaken Identities, Part II“, MAP Media — Archive — Performance Nr. 2, Juni 2010, http://www.perfomap.de/map2/geschichte/mistaken-identities-part-ll.
Copeland, Mathieu und Julie Pellegrin (Hgg.). Choreographing Exhibitions, Dijon 2013.
Fernandez, Laure. Travailler contre des fantômes. Boris Charmatz, la danse contemporaine et la reprise de son histoire, http://agon.ens-lyon.fr/index.php?id=2799, 2013.
Fernandez, Laure. Entretien avec Boris Charmatz, janvier 2013. Unveröffentlichtes Transkript eines Interviews.
Formis, Barbara. Performance Here and Then. In: Copeland et al. (Hgg.) 2013, S. 56-68.
Gareis, Siegrid, Georg Schöllhammer und Peter Weibel (Hgg.). Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten, Köln 2013.
Gareis, Siegrid, Georg Schöllhammer und Peter Weibel. „Ereignis – Spur – Kontext. Zur Aktualität von historischer Performance im Ausstellungsraum.“ In: Gareis et al. (Hgg.) 2013, S. 10-12.
Laban, Rudolf von (1929). „Das Choreographische Institut Laban“. In: Liesel Freund (Hg.), Monographien der Ausbildungsschulen für Tanz und tänzerische Körperbildung. Band 1: Berlin, Charlottenburg [Berlin] 1929, S. 11-14.
Leibovici, Franck. „An Ecology Of Artistic Practices“. In: Teresa Calonje (Hg.). Live Forever. Collecting Live Art. London 2014. S. 57-71.
Lepecki, André. „9 Variations on Things and Performance“. In: Noémi Solomon (Hg.): Danse. An Anthology. Dijon 2014, S. 295-303.
Lepecki, André. „Bewegen als Ding. Choreographische Kritiken des Objekts“. In: Nadia Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel und Bettina Wodianka (Hgg.): Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013 (a), S. 389-408.
Lepecki, André. „chose:danse:audace:(esthétique proximale)“. In: Copeland et al. (Hgg.) 2013 (b): 96-106.
Lind, Maria (Hg.). Performing the Curatorial. Within and beyond art. Berlin 2012.
Lind, Maria. „Performing the Curatorial: An Introduction“. In dies. (Hg.) 2013, S. 9-20.
Mangolte, Babette. On the Making of Water Motor, a dance by Trisha Brown filmed by Babette Mangolte. 2003. www.babettemangolte.com/maps2.html, 18. 5. 2015. Anmerkung: Die Website ist seit Juni 2015 vom Provider abgeschaltet worden.
Plutôt que rien. Centre d’art de la Maison populaire de Montreuil 2012 (hrsg. von Raphaële Jeune).
Thurner, Christina und Julia Wehren (Hgg.). Original und Revival: Geschichts-Schreibung im Tanz. Basel 2010.
ZKM Karlsruhe. MOMENTS. Ein Geschichte der Performance in 10 Akten. Ausstellungsbroschüre. Karlsruhe 2012.