Archivische Räume: Historisches Archiv und Archiv Galerie im Haus der Kunst

Sabine Brantl (München)

 

 

I.

Das Haus der Kunst gehört heute zu den profiliertesten internationalen Orten für zeitgenössische Positionen in der Kunst. Zugleich birgt das Gebäude Erinnerungen an die Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Kunst im „Dritten Reich“. Von 1933 bis 1937 als „Haus der Deutschen Kunst“ errichtet, war das Gebäude an der Münchener Prinzregentenstraße das erste architektonische Vorzeigeprojekt des NS-Regimes und diente der Zurschaustellung nationalsozialistischer Kulturpolitik. Die hier jährlich veranstalteten „Großen Deutschen Kunstausstellungen“ galten als wichtigste Werk- und Verkaufsschauen „deutscher“ Kunst, während die Moderne als „entartet“ gebrandmarkt und ihr jegliches Existenzrecht abgesprochen wurde. Bezeichnenderweise fand die Eröffnung der Femeschau „Entartete Kunst“, eines der dunkelsten Kapitel deutscher Kunst- und Museumsgeschichte, am 19. Juli 1937 – einen Tag nach der Eröffnung des „Hauses der Deutschen Kunst“ – im benachbarten Galeriegebäude am Hofgarten statt. In der Nachkriegszeit wurde das zum „Haus der Kunst“ umbenannte Gebäude zum Gegenentwurf zur Diffamierung der Avantgarde im „Dritten Reich“. Wie im Großteil des Kulturlebens in Deutschland suchte man auch hier den Anschluss an die internationale Moderne. Zu den wichtigsten Ausstellungen in dieser Zeit gehörten Der Blaue Reiter (1949), Die Maler am Bauhaus (1950), Frank Lloyd Wright (1952) und die Picasso-Retrospektive im Jahr 1955. Diese Form der „Wiedergutmachung“ bestimmte bis weit in die neunziger Jahre den Umgang mit dem historisch belasteten Gebäude.

 

Haus der Kunst, Historisches Archiv. Sichtung der Unterlagen,
Juli 2004. Foto: Sabine Brantl

 

II.

So entwickelte sich auch spät ein Bewusstsein für die im Gebäude lagernden historischen Dokumente, die aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 stammen.

In einem Kellerraum, wo zuvor ein Gemüseputzraum für das weitläufige Terrassen-Restaurant untergebracht war, befand sich seit der Nachkriegszeit eine Ansammlung von Akten und diversen Gegenständen, die nicht mehr wichtig schienen oder auch in Vergessenheit geraten sollten. Erst 2004 – im Zuge des Projekts des „Kritischen Rückbaus“, mit dem die Befragung von Architektur und Erbe eine bewusste Neuorientierung erfuhr[1] – wurde dieser Bestand gesichtet und wissenschaftlich erschlossen. Und dennoch: Als das Haus der Kunst im Jahr darauf sein Historisches Archiv der Öffentlichkeit zugänglich machte, war es eine der wenigen Kulturinstitutionen, die sich zu diesem Zeitpunkt mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ systematisch und kritisch auseinandersetzten. 2007, anlässlich des 70jährigen Bestehens des Gebäudes, erschien die erste umfassende Monographie, die auch auf Erkenntnissen basiert, die beim Aufbau des Historischen Archivs gewonnen wurden.[2] Waren Baugeschichte und Funktionsbestimmung des „Hauses der Deutschen Kunst“ sowie die Funktion von Kunst im NS-Staat im Allgemeinen von der Forschung bereits thematisiert und bearbeitet worden, so war die Frage, wie sich der Ausstellungsbetrieb des „Hauses der Deutschen Kunst“ – hinter der Fassade von Kunst, Macht und Propaganda – organisatorisch und ökonomisch gestaltet hatte, bis dahin weitgehend unbeachtet geblieben. Bei der Erschließung des Historischen Archivs aufgefundene Dokumente wie beispielsweise die Künstlerkartei der „Großen Deutschen Kunstausstellungen“ und die Kontenbücher des „Hauses der Deutschen Kunst“, in denen verkaufte Werke, deren Käufer, Preise und Verkaufsdatum verzeichnet sind[3], waren wichtiges Quellenmaterial, um solchen Fragen auf den Grund gehen zu können.

Das Historische Archiv im Haus der Kunst umfasst über 10.000 Einzeldokumente.[4] Die Ordnungsstruktur dieser Dokumente wurde – gemäß dem Registraturprinzip – weitgehend erhalten. Zum Bestand gehören auch diverse Objekte, wie zum Beispiel Ausstattungsdekor, Plakate, einige wenige Gemälde und Büromaschinen, außerdem eine umfangreiche Sammlung von architektonischen Plänen und Zeichnungen, die die Ursprünge des Gebäudes sowie bauliche Veränderungen im Inneren, die man seit der Nachkriegszeit vorgenommen hat, dokumentiert.

 

Nicht alles, was im damaligen „Haus der Deutschen Kunst“ angelegt, verwaltet und aufbewahrt wurde, hat sich in seiner Vollständigkeit erhalten. Schon in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ (als die amerikanische Militärregierung die Räumlichkeiten als Offizierskasino nutzte) wurden Dokumente an Institutionen wie zum Beispiel an die Bayerische Staatsbibliothek abgegeben oder aussortiert. So erinnerte sich Peter A. Ade, von 1947 bis 1982 Direktor des Haus der Kunst, dass er – da in den Nachkriegsjahren Schreibpapier nur gegen Altpapier zu bekommen war – Schriftstücke aus dem Müll geholt habe und deshalb von der amerikanischen Militärregierung verdächtigt wurde, Akten beiseiteschaffen zu wollen.[5] Auffallend ist, dass Unterlagen fehlen, die die erste, 1937 abgehaltene „Große Deutsche Kunstausstellung“ betreffen. Ob diese Dokumente nach 1945 entsorgt oder aus anderen Gründen nicht (mehr) vorhanden sind, konnte bislang nicht geklärt werden. Archive sind nicht nur das „Gedächtnis“ einer Gesellschaft – sie sind ebenso ein Spiegel, wie eine Gesellschaft mit diesem Gedächtnis umgeht und werden daher von verschiedenen äußeren Faktoren beeinflusst.

 

 

Archiv Galerie im Haus der Kunst, März 2014, Fotos: Wilfried Petzi

 

 

 

III.

Mit der Einrichtung einer dauerhaft angelegten Archiv Galerie führte das Haus der Kunst im März 2014 ein neues Format ein, das der Erforschung und Vermittlung seiner Geschichte an ein breiteres Publikum verpflichtet ist.[6] Mit diesem neuen Ausstellungsformat wird die allgemein statische Konnotation des Begriffs „Archiv“ einer offenen und dynamischen Form zugeführt. Als sichtbares Gedächtnis der wechselhaften Geschichte des Museums wurde für die Archiv Galerie dauerhaft ein Ausstellungsraum eingerichtet, der von der zentralen Mittelhalle frei zugänglich ist. Die Lage der Archiv Galerie an der Mittelhalle und ihre Nähe zu der jährlich, im Rahmen von „Der Öffentlichkeit — Von den Freunden Haus der Kunst“ vergebenen Auftragsarbeit an eine internationale Künstlerpersönlichkeit unterstreicht den Ansatz, den Besuchern über die Präsentation zeitgenössischer Kunst auch die Geschichte des Gebäudes nahe zu bringen. In diesem Kontext sind auch die sich am und im Gebäude befindenden künstlerischen Auseinandersetzungen zu sehen, zu denen u.a. Lawrence Weiner (2007/14), Ai Weiwei (2009/10) und Mel Bochner (seit 2013 – siehe Abbildung 4[7]) eingeladen wurden.

 

Abb.4 Mel Bochner, The Joys of Yiddish (Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie) 2006, Courtesy Mel Bochner, Installationsansicht Fassade Haus der Kunst 2013, Foto: Wilfried Petzi

 

Die Konzeption der Archiv Galerie begann mit zwei zentralen Fragen: Welche Dokumente und Objekte sollen in der Archiv Galerie eingangs gezeigt werden? Und welche Präsentationsform lässt sich für dieses Format finden, das keine Dauerausstellung im klassischen Sinne ist, sondern flexibel auf wechselnde thematische Schwerpunkte sowie sich verändernde Diskurse und neue Forschungsergebnisse reagieren kann? Auf Einladung des Haus der Kunst hat der Künstler und Kulturwissenschaftler Martin Schmidl ein Ensemble aus Einrichtungsgegenständen und Museumsdisplay konzipiert, das unterschiedliche Nutzungsvarianten zulässt. Zentrales Element ist ein Tisch-Objekt, das sich selbstbewusst in der strengen Architektur des Raumes behauptet. Das Objekt reflektiert die verschiedenen Ebenen archivarischer Praktiken und Handlungsräume. Es ist Aufbewahrungsort, Schaulager, Studier- und Ausstellungsfläche. Sein Inhalt lässt sich flexibel verändern, ergänzen und zu neuen Themen und thematischen Zusammenhängen verknüpfen.

Basis für die Archiv Galerie sind die Bestände des Historischen Archivs im Haus der Kunst. Die ausgewählten Dokumente und Objekte erzählen von der Entstehung und der Nutzungsgeschichte des Gebäudes sowie vom Umgang mit seiner Architektur in der Nachkriegszeit. Der Schwerpunkt dieser ersten Präsentation leitet damit thematisch zu der bald anstehenden Sanierung des Haus der Kunst hin, die mit einer verantwortungsbewussten Befragung der Geschichte einhergeht und deren Durchführung die Lesbarkeit des historisch belasteten Gebäudes vollständig wiederherstellen wird. In Zusammenarbeit mit internationalen Institutionen, Künstlern und Wissenschaftlern sind wechselnde Präsentationen zu verschiedenen thematischen Aspekten vorgesehen. So werden in der kommenden Präsentation Perspektiven der bildenden Kunst auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Gebäudes im Mittelpunkt stehen. Außerdem wird das interaktive Angebot, das den Besuchern ermöglicht, eigenständig auf dokumentarisches Material zugreifen zu können, stetig erweitert.

 

 

IV.

Die Geschichte des Haus der Kunst endet nicht 1945. Hat sich die Forschung in den ersten Jahren nach der Öffnung des Historischen Archivs vor allem auf die Zeit des NS-Regimes fokussiert, so richtet sich nun der Blick auf die Entwicklung seit der Nachkriegszeit, die das Haus der Kunst in seiner heutigen Form hervorgebracht hat.[8] Zudem ist das wissenschaftliche Interesse an zeitgenössischer Kunst und kuratorischer Praxis enorm gestiegen – was nicht nur die zahlreichen Anfragen von Forschern und Studierenden an das Haus der Kunst belegen. Noch sind die Materialien, die den Ausstellungsbetrieb und dessen kuratorische wie organisatorische Prozesse seit Mitte der 1990er Jahren dokumentieren[9], nicht in den Bestand des Historischen Archivs integriert. Diesen Materialien einen archivischen Raum zu geben – und damit für das Gedächtnis des Haus der Kunst zu sichern – ist ein Vorhaben für die nahe Zukunft. Dies wird uns vor neue Herausforderungen stellen. So hat der digitale Wandel nicht nur die gängigen Kommunikationstechniken und -mittel verändert, sondern auch auf das traditionelle Verständnis von Archiv und archivarischem Handeln Einfluss genommen. Dies betrifft nicht nur die digitale Aufbereitung und Verfügbarmachung von „klassischen“ Archivalien (wie es im Rahmen der Archiv Galerie schon ansatzweise geschehen ist und weiter geschieht). Vor allem werden wir uns auch damit auseinandersetzen müssen, wie die enorme Fülle an mittlerweile fast ausschließlich und in unterschiedlichen Formaten digital produzierten Dokumenten für eine künftige archivarische Überlieferung gesichert und erschlossen werden kann.

 

 

Sabine Brantl (München) ist Historikerin. Nach ihrem Studium in München und Wien leitet sie seit 2005 das Historische Archiv im Haus der Kunst, wo sie seit 2014 als Kuratorin tätig ist. Sie kuratierte unter anderem die Ausstellung "Geschichten im Konflikt. Das Haus der Kunst und der ideologische Gebrauch von Kunst 1937-1955" (2012) und ist verantwortlich für die Archiv Galerie, einen permanenten Ausstellungsraum zur Geschichte des Haus der Kunst (seit 2014). 2007 veröffentlichte sie die Monografie "Haus der Kunst, München. Ein Ort und seine Geschichte im Nationalsozialismus".

 

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[1] Bauliche Änderungen im Inneren, die nach dem Krieg als „architektonische Entnazifizierung“ des Gebäudes galten und die Erinnerung an das unliebsame Erbe verdecken sollten, wurden rückgängig gemacht, um den Blick auf die Ursprünge des einstigen nationalsozialistischen Kunsttempels freizulegen und eine offene Auseinandersetzung mit dem Raum und seiner Geschichte zu ermöglichen.
[2] Sabine Brantl, Haus der Kunst, München. Ein Ort und seine Geschichte im Nationalsozialismus, München 2007.
[3] Ein Großteil der Informationen aus den Kontenbüchern des „Hauses der Deutschen Kunst“ ist seit Oktober 2011 auch öffentlich über die Datenbank www.gdk-research.de zugänglich, die 2010/11 vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, Deutschen Historischen Museum, Berlin und Haus der Kunst entwickelt wurde.
[4] Vgl. Sabine Brantl, „Historisches Archiv Haus der Kunst“. In: Der Archivar, Jg. 58/2005, Heft 4, S. 280.
[5] Peter A. Ade, Picasso, Kokoschka und all die anderen ... Meine abenteuerlichen Jahre für die Kunst, München 2001, S. 33.
[6] Informationen zur Archiv Galerie auf der Webseite des Haus der Kunst: http://www.hausderkunst.de/ausstellungen/detail/archiv-galerie/
[7] Ursprünglich entstand das zweifarbige Spruchband für das Spertus Institute of Jewish Studies in Chicago. Die Wortkette enthält umgangssprachliche Begriffe aus dem Jiddischen, die in das heutige US-amerikanische Englisch Eingang gefunden haben. Die Farben des Spruchbandes – gelb auf schwarz – sollen an die Aufnäher erinnern, mit denen die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung stigmatisierten. Sie stehen im Spannungsverhältnis zu den Worten, mit denen die Bewohner der jüdischen Ghettos im Dritten Reich ihrer Einigkeit und ihrem Trotz Ausdruck verliehen. Diese Verknüpfung der Farbe der Täter mit der Sprache der Opfer ist eine für Bochner typische subtile Provokation. Sie soll Diskussionen auslösen, um eine “verloren gegangene Stimme“ wieder zu erwecken.
[8] Vgl. hierzu die von Sabine Brantl und Ulrich Wilmes kuratierte Ausstellung „Geschichten im Konflikt. Das Haus der Kunst und der ideologische Gebrauch von Kunst 1937-1955“, die vom 10. Juni 2012 bis 13. Januar 2013 anlässlich des 75. Jahrestags des Haus der Kunst gezeigt wurde. Die Ausstellung untersuchte die nationalen und internationalen Bezüge der Geschichte des Haus der Kunst und der Moderne im Zeitraum von 1937 bis 1955. Informationen zu dieser Ausstellung auf der Webseite des Haus der Kunst: http://www.hausderkunst.de/ausstellungen/detail/geschichten-im-konflikt-das-haus-der-kunst-und-der-ideologische-gebrauch-von-kunst-1937-1955/
[9] Materialien zu den Ausstellungen, die von 1949 bis zur Gründung der Stiftung Haus der Kunst gGmbH 1992 im Westflügel des Gebäudes stattfanden, befinden sich im Archiv der Ausstellungsleitung e.V. im Haus der Kunst. Dieser Verein wurde 1948 von den Münchner Künstlergenossenschaften Neue Gruppe, Secession und Neue Münchner Künstlergenossenschaft gegründet. Zweck und Aufgabe der Ausstellungsleitung war die Veranstaltung der Großen Kunstausstellung München (seit 2013 Biennale der Künstler) und die Durchführung von Themenausstellungen und Retrospektiven der klassischen Moderne. 2014/15 Umbenennung in Künstlerverbund im Haus der Kunst München e.V.