Archivbildung im Tanz aus der Sicht des Archivars

Laurent Sebillotte (Paris)

 

 

Noch vor dem Hinweis auf die „Archivgesten“ (wie Jacques Derrida sie nennt[1]), mit denen das Überdauern von Archivgut in denjenigen Institutionen sichergestellt wird, denen es anvertraut wurde (in Frankreich insbesondere das Centre national de la danse – CND), gilt es zu bestimmen, was dieses Archivgut im Bereich des Tanzes sein könnte oder jedenfalls wie es sich uns, den Fachleuten des Dokuments, darstellt in der Erstsicht, der Verzeichnung und Ordnung, d. h. aus dem pragmatischen Blickwinkel, der zu unserem Beruf gehört.

Schon oft und seit langem und noch weit ehe das Thema „Archiv“ in Mode gekommen ist, wurde gesagt, die Theateraufführung sei selbstreferenziell und bleibe im Kern außerhalb ihrer selbst nicht darstellbar; Archivalien beziehen sich demnach auf ein schon Vergangenes und seine Spuren.

 

Undarstellbare Aufführung und immaterielles Körpergedächtnis

„Eine Theateraufführung ist ihre einzig mögliche Darstellung“ und in gewisser Hinsicht ihr einziges „Vermächtnis“, schreibt etwa Laurent Rossion [Rossion 2007: 248f.]. Daher wäre jedes Objekt, das die vergangene Existenz einer Aufführung bedeutet, noch nicht einmal ein Ersatz oder ein Substitut, kein Artefakt, kein Teil und keine Reproduktion, sondern ein Indiz, das nur sagen kann, „etwas ist gewesen, ein Ereignis hat stattgefunden, Leben hat sich ereignet“. Weshalb man über das Archiv sagen könnte, es besteht aus Indizien des theatralen Aktes, es ist die Asche des „spectacle vivant“.

Jeder Anspruch, Tanz als Werk zu re-präsentieren, ist vergeblich. Ebenso wie jeder Anspruch, ihm eine Wahrheit zu verleihen. Wir haben es hier mit künstlerischem Handeln zu tun, das einer performativen Praxis entstammt, deren Hauptmerkmal darin besteht, in der Gegenwart zu sein, und von der man sich – jenseits eines unmittelbaren Zugangs oder einer direkten Überlieferung – langfristig eingestehen muss, dass der Historiker sie nicht als Zuschauer „erlebt“ hat, und auch nicht der Tänzer, der sich womöglich im Nachhinein der Einstudierung einer Rolle widmet, die er selbst nie als Interpret „erlebt“ hat, ebenso wenig wie der Künstler, der eine Art choreografische Reaktivierung versucht.

Weil die Aufführung „als Tun erfolgt“, „ist sie nicht von der Zeit abzulösen, in die sie sich einschreibt“ [Pouillaude 2006: 14]. Analyse, Aneignung, Rekonstruktion oder Neu-Interpretation von Werken müssen sich notwendig auf Spuren stützen, die „außerhalb des Ereignisses konserviert sind“ [Béjoc und Boulouch 2005: 45]. Anderen wie etwa Simone Hecquet und Sabine Prokhoris scheint die Suche nach einem „›Original‹, nach einem unveränderlichen und unveränderten Original, der ›Ich-Inkarnation‹ des Choreografen, die sich im Tanz manifestiert“ [Hecquet und Prokhoris 2007: 123], insgesamt absurd. Die Reproduktion der Aufführung ebenso wie seine Aufzeichnung oder Notation bleiben eine Täuschung, das Bild eines Schon-Vergangenen, der Verweis auf einen Gegenstand „außerhalb der Zeit“. [Pouillaude 2006: 14] Ebenso wäre dessen Archivierung illusorisch, insofern sie leichtfertig darauf abzielt, das Werk weiterzugeben oder ihm Dauer zu verleihen.

Im Übrigen beharren viele Künstler und Theoretiker auf der Vorstellung, das eigentliche Gedächtnis sei jenes der Körper, in denen sich Bewegung und Tanz überhaupt erst realisieren, noch ehe eine Form in Raum und Zeit zusammengefügt werden kann, und stützen sich dabei auf ein Denken des Tanzes als Erfahrung. Der Tanz, so schreibt Laurence Louppe, bringt keine „fixierten Formen“ hervor: „Er entsteht als Tun. Analyse und Weitergabe dieses Tuns bedienen sich nicht des Zeichens, sondern der Affizierungen zwischen den ›Zuständen‹, deren Maß und energetische Qualitäten die Bewegung entwickelt. Erfassen und Lesen dieser Tatsachen können nur unmittelbar erfolgen.“ Und sie führt weiter aus: „Tanz duldet weder Aufschub noch Einpassung in irgendeinen Mechanismus der Übersetzung. Ja, die Bewegung produziert Lesbarkeit [le mouvement produit des lisibilités], aber nur wenn man sie direkt von dem organischen Gewebe abnimmt, aus dem sie hervorgegangen ist.“ [Louppe 1994: 10] Dieses Gewebe, diese Symphonie des Lebendigen, ist nicht archivierbar. Und in Bezug auf ihr Kapital an direkter Erfahrung sind Spuren – sofern sie existieren – immer defizitär. Ihr Nutzen ergibt sich allenfalls in der körperlichen Erinnerungsarbeit der Interpreten.

Eigentlich befasst sich der Archivar, will man es ohne Umschweife sagen, nicht so sehr mit der choreografischen Überlieferung, sondern mit dem im weitesten Sinne dokumentarischen Erbe, welches aus dem Feld des Choreografischen hervorgeht. Was also kann der Archivar jenen entgegenhalten, die die Bedeutung oder, was für ihn noch schlimmer wäre, den Nutzen dieser Dokumente bezweifeln, die doch immer nur nachgeordnet und partiell sein können?

Wenn solche „Wächter“ der Bewegung ihre Skepsis gegenüber Dokumenten zum Ausdruck bringen, welche Schwäche vermuten sie eigentlich dahinter? Zweifellos deren Unvermögen, Spuren zu hinterlassen, die in ihren Augen angemessen wären, und zwar nicht in sich selbst, sondern im Hinblick auf einen bestimmten Gebrauch, den sie daraus ziehen oder zumindest möglich machen möchten: ein Werk wieder aufnehmen, neu einstudieren, weitergeben, neu lesen, die „Ausführungs“-Realität der Bewegung wiedergeben, eine Analyse der Entwicklung von Körpertechniken leisten usw. Für sie rechtfertigt sich das Archiv durch seinen Nutzen: Welches Gedächtnis für wen? Welches Gedächtnis wirkt?

Der Archivar befasst sich sozusagen mit dem Dokument, ohne sich seiner zu bedienen. Der Nutzen des Archivs für spätere Befragungen ist nicht sein Problem. Er verfährt beim Tanz nicht anders als bei jeder anderen menschlichen Aktivität: kontextualisieren, ordnen, beschreiben, Bezüge herstellen, und anstatt auf das zu verweisen, was fehlt, ist er bemüht, alle Information zugänglich zu machen, die im Dokument enthalten ist. Für ihn unterscheiden sich Archivalien zum choreografischen Schaffen oder zur tänzerischen Praxis eigentlich nicht von denen, die aus anderen flüchtigen oder performativen Tätigkeiten entstehen. Denn was wären etwa direkte Spuren eines Verkaufsgeschäfts, einer Beratung, einer liturgischen Zeremonie, der Gartenarbeit, des Lehrberufs und noch vieler anderer menschlicher Tätigkeiten, darunter auch die Kriegführung?

Um also diese Einführung ins Thema zusammenzufassen: Das Archiv als Ersatz, der lediglich aussagt, dass etwas gewesen ist, Beleg dafür, dass ein Ereignis oder eine Handlung stattgefunden hat, enthält nur Überbleibsel. Das Material des Archivars ist eben nicht jenes Flüchtige, das sich allem Wunsch nach Re-Präsentation widersetzt, sondern jene materiellen Spuren, die absichtlich oder unabsichtlich hinterlassen werden und ohne die es keine immaterielle Dauer und auch keinen Gedächtniswert [empreinte mémorielle] gäbe [Bonniol und Crivello 2004: 7f.].

 

Indirekte Spuren

Wenn also die Theater- oder Tanzaufführung nur schale Überreste und leere Zeichen an direkten Spuren hinterlässt, die anschließend von der Bühne gefegt werden, so gibt es doch zahlreiche indirekte Spuren als Quellen für die Analyse. Dokumente zu den „Autoren“ der Aufführung. Schriften, Notizen, Aufzeichnungen und Dokumente im Zusammenhang mit den Vorstellungen. „Theater-“ oder „Aufführungsdokumente“ (Kostüm- und Bühnenbildskizzen bzw. -modelle, Plakate, Programmhefte „und alles, was das Aufführungsgeschäft täglich hervorbringt“). Sodann Dokumente, die „aus dem Stück hervorgehen“: Partituren, Inszenierungsprotokolle, Fotos, Zeitungsartikel. Und schließlich auch „Folgeerscheinungen der Aufführung“: Filme, Videos, Aufzeichnungen, grafische Darstellungen [Guibert 1994: 67].

Man könnte auch andere Einteilungen vornehmen: private und/oder persönliche Unterlagen, die man ebenso behandeln würde wie solche von Gelehrten, Wissenschaftlern, Schriftstellern oder sonstigen bedeutenden Persönlichkeiten; Materialien zu Produktion und „Vertrieb“ der Werke (wenn man Compagnien und Spielorte als Unternehmen begreift) von unterschiedlichem juristischen und ökonomischen Belang.

Die Spuren choreografischer Arbeit unterscheiden sich jedenfalls von denen der Performancekünstler, die dem Gebiet der bildenden Kunst zugeschlagen werden. So umfasst etwa bei Gina Pane eine „Handlungszubereitung“ („cuisine d’une action“), wie sie selbst es nennt, drei Phasen: die „Vorbereitung“, „konkretisiert in Zeichnungen, Texten und Vorab-Fotografien“; die „Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität: die Handlung selbst“; schließlich die letzte Phase, in der die Künstlerin „Fotografien der Handlung und die farbliche Gestaltung im Labor“ festlegt. [Pane 2004: 35f.] Die Handlung ist erst abgeschlossen, wenn sie sich jenseits ihrer Aufführung und Produktion in situ dann in Bildern dargestellt findet.

Im Bereich des Tanzes ist man somit weit entfernt von der Hervorbringung eines Archivs (Abbild oder Produkt der Handlung), „das jeden Schritt der Kreation fixiert“ und es erlaubt – oder zumindest die Illusion ermöglicht –, „den Ablauf der Handlung lesen zu können“. [Rouquet 2005: 10; vgl. auch Béjoc und Bouloch 2005] Gleichwohl kann das Archiv den Kontext und die Geschichte einer menschlichen Unternehmung lesbar machen, und zwar die Intention der Werke, die Bedingungen ihres sozialen Erscheinens und ihrer Rezeption, ihre künstlerischen Bestandteile. Man könnte sagen, dass Archive im Tanz den Referenten zwar nicht wiedergeben, wohl aber ein brauchbares Bild von ihm überliefern. Ein Bild, das man in jeder Etappe nicht des Werkes selbst, aber seines Lebenszyklus benennen kann, von der Konzeption bis zu seiner möglichen Wiederaufnahme.

Ganz global erzählen Archivalien im Tanz oft sehr viel über die Entstehung eines choreografischen Werks in seiner Zeit, über ihren Rang in der Karriere eines Künstlers, über seine Kompositionsweise, schließlich auch über dessen Wirkung auf das Publikum, seinen Platz im individuellen und kollektiven Gedächtnis, wo es bisweilen die Entstehung neuer Archivalien bewirkt. Und oft kann man Bestände danach einteilen, wie sie sich auf die Entstehungsweise des Werkes beziehen, auf die Zeit der Aufführung und die Zeit des Gedächtnisses, die Zeit der sekundären Spuren und der Überlieferung.

Manchmal divergieren diese Quellen oder vermögen es auch in ihrer Verbindung nicht, alle Fehlstellen des Bildes zu ergänzen, sie bilden sozusagen ein Archiv-Puzzle, dessen Teile trotz all unserer Anstrengungen inkohärent bleiben. Zu dem Stück Der Titan von Rudolf Laban liefern uns die erhaltenen Dokumentpuzzleteile ein wertvolles und umfassendes Bild, bei dem gleichwohl zahlreiche Fragen offen bleiben.

Komplementarität, Konvergenz und Divergenz eines Bestandes
Beispiel „Titan“ von Rudolf Laban (Archiv Albrecht Knust – Schenkung Roderyk Lange)

 

 

 

 

 

 

 

Der Bestandsbildner

Ohne also „die Zukunft eines Werks der darstellenden Kunst“ und das „Leben der Spuren“ [Guibert 2000: 25] zu verwechseln, arbeitet der Archivar für den Historiker, der nichts gesehen hat und dessen Analyse und Einschätzung der Werke notwendig über Spuren erfolgen muss, die „über das Ereignis hinaus bewahrt werden.“ [Béjoc und Boulouch 2005: 45] Der Archivar ist der Garant des trivialsten Aspekts am Dokument, als käme es ihm zu, es so nahe wie möglich an dessen Entstehungszusammenhang zu knüpfen, noch ehe man es zum Sprechen bringt. Denn er muss zuallererst erläutern, wie und durch wen das Dokument überhaupt entstanden ist und wie es sich zu anderen Dokumenten verhält, über die man verfügt und die zusammen „das“ Archiv bilden.

Archive bestanden früher hauptsächlich aus Urkunden, aus denen Rechte und Pflichten ihrer Eigentümer nachweisbar waren. Im 19. Jahrhundert hat eine andere Vorstellung diese hauptsächlich juristische Funktion verdrängt: das historische Interesse, welches die organisierte und abgeschirmte Bewahrung bestimmter Dokumente rechtfertigte, von denen sich die laufenden „Akten“ unterschieden, welche in der Verwaltung verbleiben oder gar vernichtet werden konnten.[2] Nach und nach hat sich dann die Vorstellung von ganzen „Archivbeständen“ gegenüber den einzelnen „Archivalien“ durchgesetzt. Und seitdem sind es nicht mehr die Besonderheiten dieses oder jenes Dokuments, die ihm seinen Wert verleihen, sondern die Gesamtheit von möglicherweise sehr unterschiedlichen Dokumenten, die einen Archivbestand auszeichnen.

Was aber ist ein Archivbestand? Es ist die Gesamtheit von Dokumenten gleich welcher Art – also gleich welchen Datums, welchen Typs oder welcher Form –, die von einer beliebigen juristischen oder natürlichen Person, und zwar öffentlich oder privat, im Laufe ihrer Funktionen und Tätigkeiten hervorgebracht oder von ihr empfangen wurden und die sie bewahrt, manchmal auch organisiert hat als Folge ihrer Tätigkeiten und Handlungen, und das meist zum Zweck ihrer späteren Nutzung.[3] Jedes Stück in einem solchen Bestand ist eine „Archivalie“, die ihren vollen Wert nur erhält, wenn man sie im Zusammenhang der anderen Archivstücke betrachtet, unter denen sie ihren Platz gefunden hat. Der Archivbestand ist gewissermaßen ein Abbild der Aktivitäten der Person oder Körperschaft, die ihn gebildet hat oder noch bildet.

„Ebenso wie jede Tätigkeit sich nicht auf eine einzelne Handlung beschränkt, sondern sich aus einer Abfolge von Handlungen zusammensetzt, die niemals isoliert und unabhängig von denen existieren, die ihnen vorausgehen und die ihnen folgen, ebenso stellen alle Dokumente, die aus der Durchführung einer Handlung hervorgehen oder sie bedingen, notwendige Teilhandlungen dar, die untrennbar verbunden sind mit den vorausgehenden und den nachfolgenden“, wie der Archivwissenschaftler Bruno Delmas formuliert. [Delmas 2006: 50]

„Bestandsbildner“ nennt man die natürliche oder juristische Person, deren Archiv in gewisser Hinsicht die fragliche Tätigkeit organisch repräsentiert. Die Person wird sich bisweilen „schwerlich vorstellen, dass man nur aus ihren Hinterlassenschaften eine Abfolge von Ereignissen ablesen kann und dass ihre Papiere für die allgemeine Geschichte von Interesse sein können“.[4] So kümmern sich etwa Choreografen oder Compagnie-Leiter nur selten um die Frage, was sie an Spuren aufbewahren könnten oder sollten. Und wenn sie die Bedeutung verstehen und den Mangel bisweilen beklagen, ist es oft schon zu spät. Für den Bestandsbildner, der ganz in der Tätigkeit und dem Geschäft aufgeht, sind Dokumente oft nur Gedächtnisstützen für ihn selbst. Als Archivgut betrachtet, bieten sie aber viel mehr: die „Überreste menschlicher Praxis“. [Anheim 2004: 179] Die Rolle des Archivars besteht darin, diese Praktiken zu erkennen, voneinander abzugrenzen und in eine Gesamtdarstellung einzufügen, um das Ordnungsmuster des Archivbestandes zu entwickeln, durch das der Forscher später Zugang erhält.

 

 

Archivarische Methoden und Praktiken

Eine Archivalie hat oft mehrere Bezüge: Der Archivar muss deshalb zuerst einmal wissen, aus welchem Tätigkeitsfeld sie hervorgegangen ist. Und er muss dabei beachten, was die gewachsene Struktur des Archivbestandes über den Bestandsbildner erzählt. Die Tätigkeiten eines Künstlers oder diejenigen, welche den Kontext festlegen, in dem das Werk entstanden ist, sind meist vielfältig: Kreation, Produktion, Aufführungsgeschichte, Rahmenaktivitäten, Elemente der Entstehung (Konzeptentwicklung, dokumentarische Recherchen etc.), Folgewerke (Partitur, Film, Foto, bildende Kunst), diverse Kommentare und Aussagen, kritische Rezeption, Weitergabe u.v.m.

 

 

 

Ebenso wie die Tätigkeiten eines Bestandsbildners sich verändern können und sich dann auch die Art der Unterlagen ändert, dabei aber immer ein gleicher Bestand bleiben, nämlich der des Bestandsbildners, ebenso kann umgekehrt ein gleiches Tätigkeitsfeld, etwa die Entwicklung der „gymnastique harmonique et rythmique“ durch Irène Popard (1894-1950) und ihre Nachfolger, ein in mehrere Teilbestände untergliederter Gesamtbestand entstehen, wie er dann von den „Amis d’Irène Popard“ überliefert ist.

Ein Tätigkeitsfeld / mehrere Bestandsbildner
Beispiel des Bestands Irène Popard

 

Ein anderes Beispiel bildet das Archiv François Malkovsky. Im CND ist es als Bestand eines Pädagogen verzeichnet und trägt den Titel „Fonds Association Mouvement-Musique — Archives relatives à François Malkovsky“, teilt sich aber in zwei große Gruppen auf: einerseits die Materialien, die von der Association Mouvement-Musique zu dem Tänzer und Pädagogen Malkovsky zusammengetragen wurden, andererseits jene Materialien, die sich auf die Verbreitung seiner Arbeit und seiner Lehre durch den Verein selbst beziehen.

Mehrere Bestandsbildner / Zwei Tätigkeitsgebiete
Beispiel des Archivs François Malkovsky

 

Wieder anders verhält es sich mit der engen Verbindung zwischen einem choreografischen Werk von Christophe Haleb und seiner künstlerischen Umformung durch den Fotografen Cyrille Weiner, also ein Folgewerk, das indessen nicht nur Abbild ist, sondern dem Schaffensprozess konsubstanziell, eine künstlerische Arbeitsweise, bei der man deutlich machen muss, dass sie nicht auf nur einen Künstler zurückgeht, sondern eine kollektive Arbeitsweise darstellt, die man am besten unter dem Namen der Compagnie (in diesem Fall: „La Zouze“) verzeichnet.

Ein Werk / mehrere „Urheber“
Beispiel des Bestands La Zouze

 

Es gilt also, den organischen Zusammenhang eines Archivbestandes zu respektieren, die Verbindung mehrerer Dokumente untereinander sowie die Person des Bestandsbildners selbst, so wie er ist und wer er auch sei in dem unlöslichen Zusammenhang seiner Existenz und seines Tuns. Das geht zurück auf das heilige Prinzip der Bestandsbewahrung, ein Theorem, das alle archivarischen Eingriffe leitet: das Provenienz-Prinzip, die Bewahrung der Gesamtheit in ihrer gewachsenen Struktur, die Bewahrung der ursprünglichen Ordnung.

 

Provenienz-Prinzip:

  • Dokumente, die auf einen Bestandsbildner zurückgehen, werden nicht mit anderen vermischt.
Bestimmung des Bestandes und des Bestandsbildners (Dokumente mit ähnlichem Betreff, aber unterschiedlicher Herkunft werden nicht zusammengeführt).

 

Wahrung der Integrität des Bestands:

  • Der Archivbestand wird in seiner ursprünglichen Zusammensetzung erhalten, ohne sachfremde Unterteilungen, ohne nicht autorisierte Entfernung oder Zufügung fremder Stücke.

 

Wahrung der ursprünglichen Ordnung („innere Struktur des Bestands“):

  • Die gegebene Ordnung der Dokumente wird bewahrt oder soweit möglich wiederhergestellt. Die innere Erschließung durch den Bestandsbildner bleibt erhalten.

 

Für die Erschließung eines Archivbestandes wird der Archivar stets die Grundprinzipien seiner Disziplin beachten. Ist die Ordnung verloren, muss man sich bemühen, die ursprüngliche organische Ordnung zu erkennen, wobei man sich auf die Kenntnisse zum Bestandsbildner beruft. Oder auch auf ein Verständnis seiner Arbeitsweise, ähnlich wie es bei literarischen Werken die Philologen tun. In Zweifelsfällen kann man noch die Motivation hinzuziehen, die für die Übergabe des Archives maßgebend war. Archive sind Spuren der Gegenwart (die sie zu verfügbaren Archiven macht) ebenso wie der Vergangenheit (Überreste).

Diesen Maßgaben steht oft ein gewisser Pragmatismus entgegen, und es kann sehr wohl vorkommen, dass man ein Ordnungsverfahren durch ein anderes ersetzt: Wenn etwa die Anordnung der Dokumente, wie sie dem Archivar übergeben werden oder wie er sie vorfindet, offensichtlich eine andere ist als die ursprüngliche, die man meist leicht wiederherstellen kann. Wenn man es mit einer Reihe von Dossiers oder Einzelstücken zu tun hat, die wenig über die Arbeitsweise oder den Bestandsbildner aussagen, sondern sich auf Dritte beziehen, etwa Ereignisse, Orte und Ähnliches, kann man sie alphabetisch statt chronologisch ordnen, natürlich vorausgesetzt, dass man diesen Eingriff dokumentiert.

Daher ist etwa die komplexe (und manchmal obskure) Organisation der Korrespondenz von Albrecht Knust, dem Theoretiker der Kinetographie Laban, beibehalten worden; sie umfasst mehr als 20.000 Briefe, die sich in eine „allgemeine“, eine „alphabetische“ sowie in thematische Gruppen aufteilen.[5] [Sebillotte und Challet-Haas 2007]

Eine Tätigkeit / unterschiedliche Serien
Das Beispiel der Korrespondenzen Albrecht Knust

 

Umgekehrt kann man auch die anscheinend völlig willkürliche Verzeichnung der „Papierschnipsel“ des Theoretikers Pierre Tugal vorschlagen; Splitter der Entstehung eines Denkens, Wiederverwertung von Texten und Notizen für ein Buch über „Tanzkritik“, das Themen aufgreift, an denen er bereits während seiner Tätigkeit an den Archives internationales de la danse (A.I.D.) gearbeitet hatte. Doch diese Ordnung, welche das Durcheinander ersetzt, in welchem die Unterlagen im Archiv angekommen sind, basiert in Wirklichkeit auf einer akribischen Autopsie der materiellen Ähnlichkeiten wie etwa Tinte, Papier, Klebungen, Nummerierung und Paginierung etc. – eine andere Lesart war unmöglich.

Ein Buchprojekt / verstreute Archivalien
Beispiel des Teilbestandes „Vallée aux Loups“ innerhalb des Bestandes Pierre Tugal

 

Gleichzeitig gilt es, gewisse ursprünglich separierte Dokumentgruppen gleichsam zu vernachlässigen und sie in die Chronologie der Werke einzuordnen, denn sie beziehen sich auf spezifische Tätigkeiten, die zwar zur allgemeinen Tätigkeit einer Tanzcompagnie oder eines Choreografen zählen, aber aufgrund ihrer Besonderheit auch unabhängig betrachtet werden könnten: einerseits Produktion und Werbung, andererseits Technik. Diese Tätigkeitsfelder und die daraus entstandenen Archivgruppen sagen nur indirekt etwas über den choreografischen Entstehungsprozess aus, können diesem aber beigefügt werden. Aus pragmatischen Gründen übergeht man deren einzelne Bestandsbildner, behält aber die jeweilige Ordnung bei. In all diesen Fällen besteht die Hauptaufgabe des Archivars darin, jenseits der bloßen Erschließung einer gegebenen Menge von Dokumenten und noch vor der eigentlichen, mehr oder weniger endgültigen Ablage in den geeigneten materiellen Bedingungen, ein Erschließungssystem für diese Archivbestände auszuwählen, anzupassen, zu vervollständigen oder abzuändern.

Oft wird einem bestimmten Dokument unter all den Stücken, aus denen sich Bestände, Teilbestände, Gruppen, Untergruppen, zusammenhängende Serien und andere Archivbestandteile zusammensetzen, zu einem späteren Zeitpunkt besondere Aufmerksamkeit zuteil, es wird wie eine Reliquie exhumiert, als Beweis oder kostbarer Beleg für ein verschwundenes Werk, eine bislang übersehene Quelle, die den historischen Blick verändert und die Einschätzung einer Epoche, eines Ereignisses oder einer Arbeitsweise zu korrigieren erlaubt. Doch ist es eben nicht die Aufgabe des Archivars, dieses oder jenes Dokument zu interpretieren, sondern eine Struktur sichtbar zu machen, welche die Dokumente untereinander verbindet, und aufzuzeigen, was man die „Überlieferungsgeschichte“ nennt, also die Geschichte der Dokumente selbst, nicht die Geschichte, die sie möglicherweise zu schreiben erlauben. Seine Rolle ist es, die Bestandteile einer Archivgruppe zu beschreiben, sodass man sie wieder auffinden kann, indem man sie in ihren ursprünglichen Kontext oder ihre physische Organisation einordnet.

 

Überlieferung und Erschließung eines Bestandes

  • Erläuterungen zum Bestandsbildner und zum Kontext der Archivbildung
  • Überlieferungsgeschichte: Neben der ursprünglichen Ordnung des Bestandes auch die Einzelheiten seiner Bewahrung und Abgabe beschreiben
  • Überlieferungsform: direkt oder indirekt, unmittelbar oder zeitversetzt abgegeben?
  • Gegebenenfalls auf die Veränderung oder den Verlust der ursprünglichen Ordnung hinweisen
  • Hinweis auf jedweden materiellen oder systematischen Eingriff in die Bestandteile einer Archivgruppe

 

 

Motivationen des Archivs

Wie gelangen Dokumente zu uns und wie wird über ihre Archivierung entschieden? Die öffentlichen Archive sind von jeher aus der institutionellen Sorge um administrative Quellen entstanden und folgen genau festgelegten Protokollen. Sie unterliegen meistens der Abgabepflicht, die in Organigrammen festgelegt ist und die Nutzungsdauer von Dokumenten regelt, sodass sie entweder laufende Archive, Zwischenarchive oder Archive auf Dauer werden, wobei im Laufe der Zeit dieser Status sich verändern kann und ein einzelnes Dokument entweder vernichtet oder dauerhaft aufbewahrt wird. Demgegenüber sind Privatarchive – deren Bedeutung erst vergleichsweise spät anerkannt wurde –, nach ihrer Übergabe an einen juristisch verlässlichen Träger, in sich weit weniger genau definiert. Gewöhnlich werden sie nur ausnahmsweise in die Obhut von Archivdiensten aufgenommen. Zwar gibt es keine gesetzliche Definition eines Privatarchivs, doch lässt sich über den Bestandsbildner und über sein Tätigkeitsgebiet der private Charakter eines Bestandes bestimmen. Man könnte zusammenfassen, dass Privatarchive immer von privaten Bestandsbildnern stammen, dass aber ein privater Bestandsbildner (natürliche oder juristische Person) sowohl öffentliche wie private Archive hervorbringen kann, je nachdem, welcher Art sein Tätigkeitsgebiet ist, das sich im Archivgut darstellt.[6]

Auch heute noch zählen zum Bereich der Privatarchive vor allem Bestände der „großen Familien“, von Militärs, Parteien, Politikern, Gewerkschaften und wichtigen Verbänden, religiöse, wirtschaftliche und finanzpolitische Bestände sowie Nachlässe von Gelehrten, Schriftstellern oder Wissenschaftlern, manchmal auch von Architekten, weitaus seltener aber von anderen Künstlern oder Kreativen. Im CND verwahren wir bereits etwa 100 Nach- und Vorlässe von Choreografen, Pädagogen, Notatoren und anderen Persönlichkeiten aus dem Bereich des Tanzes. Das ist in der Archivlandschaft ein gewaltiger Umschwung. Und es sind ausnahmslos private Archivbestände von Personen oder „privaten“ Organisationen (eine Compagnie oder ein Verein bilden „Privatarchive“).

Gleichzeitig taucht immer öfter in den Reden wie auch in den „Zielvereinbarungen“ für Leiter kultureller Institutionen – etwa die nationalen choreografischen Zentren – das Desiderat vermehrter Bemühungen im Bereich Gedächtnisbildung und Archivierung auf. Aber es ist nicht leicht, die Tätigkeit eines „künstlerischen Leiters“ an einem nationalen choreografischen Zentrum, der im öffentlichen Auftrag handelt, von der Tätigkeit abzugrenzen, die ihm unmittelbar als Person bzw. Urheber zukommt (und umgekehrt): nämlich die eines Schöpfers von choreografischen Werken, die im Übrigen nicht immer von der Tätigkeit des Interpreten abgetrennt werden kann, für die er möglicherweise in derselben Einrichtung angestellt ist.

Geht es um die Bewahrung von Beständen solcher Persönlichkeiten, so ist zwar nirgends das Kriterium festgelegt, auf das sich diese besondere Aufmerksamkeit stützen und sogar die Einschätzung als historisches Archiv rechtfertigen könnte, doch erlangen Privatarchive, wie sie im Rahmen dieser Tätigkeit entstehen, zunächst ihre Einschätzung als Bestand, sodann ihre Übergabe und schließlich ihre Wahrung und Valorisierung, durch eine Abfolge von Willensbekundungen, die es stets nachzuweisen gilt.

In unserem Zusammenhang bedeutet dieser unbedingt private Status von Künstler- oder Compagnie-Archiven im Bereich der Choreografie – und zwar ganz besonders, wenn diese Fragen noch zu Lebzeiten erwogen werden – die vollständige Freiheit des Bestandsbildners, über sein Archiv zu verfügen, es zu organisieren, es zu vernichten oder zu übergeben, einzelne Teile zu verändern oder in die innere Struktur einzugreifen. Mit Blick auf solche Bestände kann man also von mehreren Bewertungsschritten ausgehen, die vom Bestandsbildner und dem Archivar vorgenommen werden und an deren Ende die Einigung darüber steht, eine bestimmte Masse von Dokumenten als historisch einzuschätzen, dem ein historischer Wert beizumessen ist.

Historiker kennen diese gemachte Dimension des Archivs nur zu gut. Aber in unserem Bereich, wo mit Georges Banu „die unvollständige Spur des Theaters entweder Unzufriedenheit oder Träumereien hervorruft“ [Banu 2006: 33], und mehr noch, wenn es sich um zeitgenössisches Archivgut handelt, das weitgehend geordnet ist und dessen Übergabe sich fast immer auf eine Art Vertrauensverhältnis mit demjenigen stützt, der es später zugänglich macht, hier also ist es besonders wichtig einzuschätzen, worum es geht, wenn man die Unterlagen eines Künstlers in einen Archivbestand umwandelt.

Im Tanz wie im Theater gibt es, um noch einmal Georges Banu zu zitieren, diejenigen, „die sich am Flüchtigen berauschen“, und jene, die sich wünschen, dessen „Verheerungen zu mildern“ oder „die Auswirkungen gering zu halten“. [Banu 2006: 29f.] Diese Fragen wurden in der Vergangenheit oft mit dem Hinweis auf die unmögliche Bewahrung choreografischer Werke und ihrer Bindung an die Gegenwart des Körpers vernachlässigt, während man heute umgekehrt und vielleicht ein wenig abstrakt davon träumt, alles oder fast alles aufzuheben im Namen einer neuen Doxa, die zweifellos die Substitute zu hoch bewertet, die uns von den Werken bleiben, wie der gegenwärtige Run auf die Digitalisierung aller visuellen (und anderen) Spuren choreografischer Schöpfungen bezeugt.

Jede „Archivierungsmaßnahme“ hat weit mehr mit der Zukunft als mit der Vergangenheit zu tun, wie Nathalie Léger, Direktorin des Imec[7], erklärt: „Weil im Archiv der Anfang darin besteht, alles, was der Überlieferung entstammt, zu sortieren, zusammenzufassen und dann Signaturen zu vergeben, ist zu fragen, was diese Maßnahmen implizieren, was sie problematisieren und hervorbringen hinsichtlich der Identität ihrer Bestandteile“. [Léger 2002: 8] Der Archivbildner bleibt, jedenfalls zu Lebzeiten, konsubstanziell mit den Dokumenten verbunden, die er uns anvertraut hat, auch und gerade wenn er den Besitz all jener im Laufe seiner Existenz oder seiner beruflichen Tätigkeit hergestellten und zusammengetragenen Materialien abgetreten hat. Und bis hin zum Historiker muss jeder auf diese Stimme hören, die aus den Dokumenten spricht, eine Stimme, die trotz der scheinbaren Erstarrung in den Archiven tönt, wenn man sie nur hören will.

Daher sagt die Entstehung des Archivs im Laufe der beruflichen Tätigkeit des Künstlers, seine mehr oder weniger durchdachte Bewahrung und dann die Übergabe vieles aus über seine Geisteshaltung und seine Arbeitsbedingungen, sein unstetes Dasein, das Medieninteresse, welches er erweckt hat und noch immer erweckt, über alle möglichen Anfragen, die an ihn gerichtet wurden und noch immer gerichtet werden, sein Verhältnis zum Schreiben, seine Organisationsfähigkeit usw. In jedem Fall kann man aus der Art der Archivbildung, vor allem aber aus der Entscheidung, das Archiv abzugeben, das (nicht immer von Anfang an ihm selbst bewusste) Anliegen entnehmen, seine „Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft“ zu bekräftigen sowie seine „Anerkennung zu Lebzeiten oder posthum“ [Artières 2005: 9f.] einzufordern. So sichert man sich eine ewige Ruhestätte, ein Prunkgrab: Archiv als Reinkarnation.

 

 

Intention und Objektivierung

Klar ist also, wie auch Étienne Anheim und Olivier Poncet schreiben: „Die Umwandlung von Dokumenten in ein Archiv ist in keiner Weise natürlich oder selbstverständlich. Archivierung operiert mit der Konstruktion von Kategorien, welche die Archivistik beachten muss. […] Es gibt eben nicht auf der einen Seite die Konservierung, die Fakten und die Archivare und auf der anderen Seite die Lektüre, die Interpretation und die Forscher.“ [Anheim und Poncet 2004: 3] Vielmehr „stehen beide Berufe hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Vergangenheit auf derselben Seite, nämlich auf der Seite einer Arbeit an der Kritik.“ [Anheim und Poncet 2004: 6] Archive sind das Ergebnis von Praktiken, deren Abfolge und innere Logik man wiederherstellen muss. Die Dokumente sind erschlossen und zugänglich, sie stehen dem Forscher in einer schon vorher festgelegten Ordnungsstruktur zur Verfügung und auch entsprechend einer Motivation und eines Dispositivs, die sie erst zum Archiv gemacht haben – es ist daher ein Gegenstand, noch ehe es Inhalte hat.

So ist die Geschichte eines Archivbestandes „notwendige Voraussetzung seiner Auswertung“ [Anheim und Poncet 2004: 11], denn sie bestimmt über die Art und Weise, in der der Historiker sie sichten und nach den Regeln seiner Disziplin auswerten wird. Und jedes Mal, wenn man sich dem Phantasma des außergewöhnlichen, besonders aussagekräftigen oder bewegenden Dokuments hingibt und es als Reliquie versteht, in der die Aura im Sinne Walter Benjamins wieder aufzuleuchten scheint, sollte man sich in Erinnerung rufen, dass es unabhängig vom verschwundenen Werk oder der vergangenen menschlichen Tätigkeit, die es hervorgebracht hat, immer historisch und kulturell determinierte Kriterien sind, zugleich konkret und spezifisch, die jene seltenen Spuren zu kostbaren Archiven zusammengeführt haben, welche die Bühnenkunst und die Arbeit des Körpers hinterlassen konnten. Und man sollte sehr bescheiden sein, wenn man sie zum Sprechen bringen möchte.

Im Idealfall sollte der Archivar keinerlei Faszination für seinen Gegenstand hegen und auch kein bestimmtes Geschichtsbild verfolgen, schließlich ist sein Handeln auf sehr lange Zeiträume ausgelegt. Der Forscher dagegen sollte immer genau Rechenschaft darüber ablegen, wie er sich in eine Gegenwart, eine Epoche oder eine Schule einbringt. Der erste befasst sich mit der Entstehung des Archivs und erschließt die Dokumente entsprechend der Form ihrer Entstehung und Überlieferung, ohne zu fragen, wovon sie sprechen. Der zweite untersucht das Dokument auf Spuren der Gegenwart ebenso wie der Vergangenheit. Und anstatt im Archiv die Bestätigung für das zu suchen, was er bereits definiert hat, ist es mit François Furet angemessener, dass sein Dialog mit den Archivalien „niemals selbst schon ein Thema wird“ [Furet 2007: 21].

In „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ schreibt Walter Benjamin: „Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein.“ [Benjamin 1990: 28]

Man könnte auch sagen, als Gegenwärtiges. Zum Abschluss lässt sich formulieren, dass der Archivar als Beauftragter für eine Aktenmasse, die in einen Archivbestand umgewandelt wurde, die Verankerung dieser materiellen Spuren in der Zeit bekundet und sie dann, im Einklang mit ihrem Urheber, als Forschungsmaterial für den Historiker bereithält. Dieser Historiker, so sagt Giorgio Agamben, „wählt aus der unbeweglichen und endlosen Masse der Archive nicht zufällig oder willkürlich seine Dokumente aus, [sondern] folgt dem unsichtbaren Faden der Schreibungen, die hier und jetzt ihre Lektüre einfordern“ [Agamben 2008: 83].

Wenn also „die Problematik des Archivgebrauchs in der Art und Weise besteht, wie man es befragt und liest, um einen Forschungsgegenstand zu konstruieren“ [Cerutti et al. 2006: 8], dann besteht das Handlungsfeld des Archivars darin, für denjenigen einzustehen, der ihm die Materialien als Spuren übergeben hat und der Vermittler seiner Intention, aber auch der Geschichte seiner Dokumente zu sein, damit sie anschließend für sich selbst darüber sprechen können, was sie hervorgebracht hat. Und auch, damit diese Dokumente in der Analyse dessen, der sie studiert, noch etwas anderes werden, nämlich Träger von Geschichte(n), geschrieben in der Gegenwart. Auch das kann ein künstlerischer Akt sein. Vielleicht bezieht sich der Ausdruck „lebendiges Archiv“ eben darauf. Ist die Perspektive einmal vorgegeben und treffen sich in der wissenschaftlichen Analyse oder der „Reaktivierung“ einige der von den Dokumenten nahegelegten Fluchtlinien, geht der Blick auf andere Gebiete – den Archivar gehen sie nichts mehr an.

 

aus dem Französischen von Franz Anton Cramer

 

 

 

Laurent Sebillotte (Paris) studierte Literaturwissenschaft und Informatik. Nach mehrjähriger Berufserfahrung im Finanzsektor und Verlagswesen wurde er 1999 Leiter der Mediathek des neugegründeten französischen Nationalen Tanzzentrums (Centre national de la danse) und betreut seitdem Bibliothek und Archivbestände, die fortlaufend ausgebaut werden. In engem Austausch mit dem beruflichen Umfeld entwickelt er Leitlinien der Erschließung tanzspezifischer Sammlungen und berät Compagnien bei Archivprozessen. Er ist heute Leiter des Bereichs Überlieferung, Audiovisuelle Medien und Publikationen des Centre national de la danse.

 

 

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[1] Für Derrida [Le futur antérieur de l’archive] „liegt in der archivischen Aufbereitung ebenso viel (aktives oder passives) Vergessen wie Erinnern.“ Er spricht gar von einer „Gewalt der Filterung“. [Zitiert nach Léger 2002: 47]
[2] Im Deutschen unterscheidet man diesbezüglich „Registratur“ und „Archiv“. [Anm. i. O.]
[3] Im französischen Archivgesetz heißt es: „Ein Archiv bezeichnet eine Gesamtheit von Dokumenten gleich welchen Datums, Bewahrungsorts, gleich welcher Form oder welchen Typs, die von einer juristischen oder natürlichen Person, einer öffentlichen oder privaten Einrichtung oder Behörde in Ausübung ihrer Tätigkeit produziert oder von ihr empfangen worden sind.“ Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass nicht jedes Aktenstück einer Institution oder Person zwangsläufig eine Archivalie ist. Oft finden sich unter der Gesamtheit der Unterlagen auch Stücke, die sich im Laufe der Zeit „angesammelt“ haben oder deren Bewahrungslogik eher intentional denn organisch zu nennen ist. Ein Archivdokument im strengen Sinne ist unmittelbares Ergebnis oder notwendiger Bestandteil der Tätigkeit des Bestandsbildners.
[4] Siehe Manuel d’archivistique [Handbuch des Archivwesens]
[5] Zu Fragen des Umgangs mit Korrespondenzen als Archivbestandteile siehe: Archive épistolaire et Histoire, hg. von Mireille Bossis und Lucia Bergamasco, Paris: éditions Connaissances et Savoirs 2007.
[6] Siehe hierzu Les archives privées: manuel pratique et juridique [Privatarchive: praktische und juristische Handreichung]
[7] Institut Mémoires de l’édition contemporaine

 

 

 

Literatur

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