Performative Writing – Schreiben als Kunst der Aufzeichnung

Isa Wortelkamp (Berlin)

 

 

 

 

Mit der kritischen Revision wissenschaftlicher Schreibweisen, die seit den 1990er Jahren vor allem im angloamerikanischen Diskurs von PerformancetheoretikerInnen wie John Freeman, Ronald J. Pelias, Peggy Phelan oder Della Pollock unter dem Begriff des Performative Writing unternommen wurde, wird das Schreiben als Akt und Aktion sowie als Prozess und Produktion des Schreibenden in seinen eigenen Bedingungen reflektiert. Es kommt zu einer Verschiebung des Was zum Wie, wodurch auch die Gestalt und Gestaltung von Struktur und Textur des Geschriebenen sicht- und lesbar werden.

Der Beitrag untersucht Verfahren des Performative Writing hinsichtlich ihrer Relevanz für aufführungsanalytische Konzepte des Schreibens innerhalb der Tanz- und Theaterwissenschaft. Damit schließt er an methodologische Überlegungen an, die Veränderungen, die das Theater seit dem sogenannten Performative Turn in den 1990er Jahren erfahren hat, verstärkt in die Verfahren der Aufführungsanalyse einzubeziehen [Fischer-Lichte 2001]. Wurde dabei das Performative meist als Problem für eine aufführungsanalytische Betrachtung herausgestellt, so wird es hier als Potential für ein wissenschaftliches Schreiben verstanden. Die im Kontext des Performative Writing diskutierten Konzepte eines Schreibens über und als Performance liefern dabei wertvolle Impulse für eine aufführungsanalytische Praxis. Fluchtpunkt der Überlegungen bietet an dieser Stelle die grafische Dimension des Schreibens, die hier ausgehend von den theoretischen Konzepten von Della Pollock und Peggy Phelan diskutiert und auf eine aufführungsanalytische Schreibpraxis übertragen werden.

 

 

Aufzeichnung der Aufführung

Die Aufzeichnung der Aufführung vollzieht sich neben der Schrift auch durch Bild- und Tonmedien, die jeweils unterschiedliche Verfahren des Umgangs und der Ausgestaltung mit sich bringen. Im Blick auf die aufführungsanalytische Praxis des Schreibens betont der Begriff der Aufzeichnung den medialen und materiellen Aspekt der schriftlichen Übertragung der Aufführung, wie er in den unterschiedlichen Verfahren des Schreibens zum Tragen kommt. In Anlehnung an die rhetorische Disziplin der Ekphrasis ließe sich die Praxis des Schreibens über die Aufführung selbst als eine Kunst, eine Kunst der Beschreibung verstehen:

εκφρασις Ausspruch, Erklärung, ist der Akt des εκφαινω a. trans. (vor)zeigen, zum Vorschein oder ans Licht [...] bringen, sehen lassen, insb. deutlich zeigen, offenbaren, kundtun, enthüllen, anzeigen, deutlich erklären od. beginnen. b) intr. hervorscheinen, leuchten, erscheinen, sichtbar oder ruchbar werden, sich zeigen, zum Vorschein kommen, hervorkommen. [...] εκφραζω poet. genau erzählen oder beschreiben.[1]

Mit der Aufführung ist die Kunst der Beschreibung gefordert, etwas zum Vorschein zu bringen, was selbst nur für eine begrenzte Zeit in Erscheinung tritt. Ohne hier die Geschichte des Verlustes, wie sie die Auseinandersetzung mit der transitorischen Eigenschaft des theatralen Ereignisses seit Lessings Ausführungen in der Hamburgischen Dramaturgie [Lessing 1958: 5] geprägt hat, fortschreiben zu wollen, so stellt die medienspezifische Eigenschaft der Aufführung doch eine besondere Herausforderung für ihre Beschreibung dar. Die Konzentration der Wahrnehmung auf die Situation des Ereignisses erfordert eine spezifische Form der Aufmerksamkeit, die mit Sigmund Freud als eine ‚gleichschwebende’ beschrieben werden kann, insofern die Fülle unterschiedlicher und flüchtiger Eindrücke den Analysierenden dazu anhält, offen zu bleiben für die Bewegungen der Wahrnehmung ohne sich bereits im Vorfeld oder im Verlauf des Geschehens auf einen bestimmten Zugang festzulegen.[2] Dieser analytische Prozess ist für Freud jedoch durch die Aufzeichnung gefährdet, insofern sie die ‚Aufführung’ in eine andere lesbare Form bringt, ihr Sinn zuschreibt – sie (bereits im Vorfeld) verzeichnet. Seine Empfehlung an den Analysierenden besteht hingegen darin:

sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ‚gleichschwebende Aufmerksamkeit’ [...] entgegenzubringen. Man erspart sich auf diese Weise eine Anstrengung der Aufmerksamkeit, die man doch nicht durch viele Stunden täglich festhalten könnte, und vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen: man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes und folgt bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen. Man darf darauf nicht vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird. [Freud 2000: 171]

Diesem Gedanken folgend, würde die Kunst der Aufzeichnung darin bestehen nicht und nichts zu fixieren, sondern die Prozessualität der Wahrnehmung im Schreiben lesbar werden zu lassen. Schreiben zeigt sich darin als eine Arbeit an der Erinnerung, die verändert und vergisst. Und zwar an einer Erinnerung, die nicht auf das Ereignis begrenzt ist, sondern im Schreiben selbst wieder zum Vorschein – zu Aufführung – kommt. Schreiben wird damit als Akt der Übertragung verstanden, der sich seinerseits als performatives Geschehen vermittelt.

 

 

Zum Konzept des Performative Writing

Als Orientierung können dabei performancetheoretische Konzepte eines – vorwiegend wissenschaftlichen – Schreibens gelten, die Ende der 1990er Jahre im Kontext des sogenannten Performative Turn unter dem Begriff des Performative Writing diskutiert wurden. Den Hintergrund dieser maßgeblich poststrukturalistisch geprägten Diskussion bildet eine Verlagerung einer kultur- und theaterwissenschaftlichen Perspektive von der Textualität hin zur Performativität, mit der neue und andere Fragestellungen in den Vordergrund treten: „What are the conceptual consequences of thinking about culture as a verb instead of noun, process instead of a product? Culture as unfolding performative invention instead of a reified system, structure or variable?” [Conquergood 1991: 190] Eine mögliche Antwort auf die kulturellen Entwicklungen, die Dwight Conquergood unter der Überschrift „The Rise of Performance“ beschreibt, sieht dieser in wissenschaftlichen Verfahrensweisen, die sich durch eine „rhetorical reflexivity“ auszeichnen.[3] [Conquergood 1991: 191] Sibylle Peters hebt im Rekurs auf Conquergood die Verbindung rhetorischer Reflexivität mit Praktiken des wissenschaftlichen Schreibens hervor hervor, die für sie eine Loslösung wissenschaftlicher Repräsentationsformen markieren:

’Performative Writing’ meint in diesem Zusammenhang eine Art der Textproduktion, die den Text nicht in erster Linie im Bezug auf thematische Kohärenz des darin Dargestellten begreift, sondern von der Zeitlichkeit der Vorgänge des Schreibens und Lesens (Écriture/Lektüre) her. [...] Statt in erster Linie etwas zu referieren, geht es um das, was in der materialen Performanz des Schreibens und Lesens tatsächlich geschieht. [Peters 2003: 101]

Die Perspektive des Schreibenden orientiert sich, Peters folgend, weniger an der Ebene des Dargestellten als an der Ebene der Darstellung selbst, wodurch das Schreiben selbst in seiner Prozessualität und der Text in seiner Materialität und Medialität reflektiert wird. Evidenz verlagert sich somit von der Plausibilität des Dargestellten hin zu einer „Evidenz im medialen Geschehen selbst“. [Peters 2003: 101]

 

Eine wichtige Vertreterin eines performativen Schreibens ist Peggy Phelan, die in ihrer Studie Unmarked. The Politics of Performance [Phelan 1993] die Aufführung in ihrer Verschiedenheit von der Ökonomie der Reproduktion hervorhebt:

Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representation of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology. Performance’s being, like the ontology of subjectivity proposed here, becomes itself through disappearance. [Phelan 1993: 146]

Das Dokument einer Aufführung kann demnach immer nur eine Spur der Erinnerung sein, die das Vergangene vergegenwärtigt. Diese Vergegenwärtigung impliziert stets eine Veränderung und ein Vergessen. Was Phelan mit der künstlerischen Auseinandersetzung von Sophie Calle mit der Vergänglichkeit und der Abwesenheit des Kunstwerks[4] in das Zentrum ihrer Überlegungen rückt, ist ein Umgang mit dem abwesenden Ereignis, mit dem die Beschreibung oder das Erinnerungsbild selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird. So verfasste Calle zu den gestohlenen Malereien des Isabella Stewart Gardner Museums in Boston auf der Grundlage von Erinnerungen der Besucher Beschreibungen, die sie gemeinsam mit Fotografien der Kunstwerke ausstellte. Damit wird der Austausch zwischen Kunstgegenstand und -betrachter zum Teil der Beschreibung und diese im Sinne Austins zur performativen Aussage. Nicht die Reproduktion oder Repräsentation der Aufführung, sondern die Aufzeichnung gelangt selbst als ‚Kunst der Beschreibung’ in den Blick.

To attempt to write about the undocumentable event of performance is to invoke the rules of the written document and thereby alter the event itself. [...] The challenge raised by the ontological claims of performance for writing is to re-mark again the performative possibilities of writing itself. [Phelan 1993: 148]

Das Potential des performativen Schreibens als ein prozessualer Akt, der in und durch das Medium des Textes Evidenz erzeugt, hat insbesondere die Performancetheoretikerin Della Pollock in ihrem 1998 erschienenen Text Performative Writing betont:

[…] writing as doing displaces writing as meaning; writing becomes meaningful in the material, dis/continuous act of writing. Effacing itself twice over – writing becomes itself, becomes its own means and ends, recovering to itself the force of action. After-texts, after turning itself [sic] inside out, writing turns again only to discover the pleasure and power of turning, of making not sense or meaning per se, but making writing perform: Challenging the boundaries of reflexive textualities; relieving writing of its obligations under the name of ‘textuality’; shaping, shifting, testing language. Practicing language. Performing writing. Writing performatively. [Pollock 1998: 75]

Dieses Verständnis bildet den Hintergrund der insgesamt sechs Kriterien, die Pollock für das Konzept eines performativen Schreibens ausdifferenziert, ohne es dabei jedoch zu einem Modell erklären zu wollen. Vielmehr sieht sie gerade in der analytischen Flexibilität und Pluralität der Erscheinungsformen und Bedeutungsmöglichkeiten des performativen Schreibens eine Verbindung zu den Eigenschaften von Performance.

Die sechs Kriterien beziehen sich auf die Eigenschaften des Evokativen, des Metonymischen, des Subjektiven, des Nervösen, des Zitierens und der Wirkungsmacht des Schreibens. Sie seien im Folgenden in ihren für diesen Zusammenhang wesentlichen Zügen wiedergegeben:

 

Performative Writing is evocative.

Performatives Schreiben ist evokativ insofern es Abwesendes anwesend werden lässt, ohne seine Bedeutung durch das referentielle System der Sprache zu repräsentieren, sondern sie im Zwischenspiel von Leser und Schreiber neu und anders entstehen zu lassen. „Performative Writing [...] does not describe, in a narrowly reportorial sense, an objectively verifiable event or process but uses language like paint to create what is self-evidently a version of what was, what is, and/or might be.“ [Pollock 1998: 80]

 

Performative Writing is metonymic.

Performatives Schreiben geht bewusst mit den metonymischen Eigenschaften der Sprache um, die aus der Differenz und nicht aus der Identität von Zeichen und Bezeichnetem herrühren. Dabei spielt es mit dem unendlichen Feld der Repräsentation bis hin zur Durchstreichung und Verschiebung des Schreibens selbst: „In the ironic turns of its own self-consciousness, metonymic writing thus tends also to displace itself, to unwrite itself at the very moment of composition, opening language to what it is not or can never be. Writing performed in extremis becomes unwriting.“ [Pollock 1998: 83] Ein Effekt des metonymischen Umgangs ist der Einsatz von grafischen Elementen und grammatikalischen Zeichen, die die Materialität des Textes hervorheben. In dem Verweis auf die materiellen Signifikationsprozesse des Textes unterläuft das performative Schreiben die Differenz zwischen dem (gedruckten) Erscheinungs- bzw. Schriftbild und der affektiven und prozessualen Zeitlichkeit, in der es sicht- und lesbar wird.

 

Performative Writing is subjective.

Die Subjektivität des performativen Schreibens sieht Pollock, fern von einem Verständnis der Selbstbezüglichkeit und -bespiegelung des schreibenden Subjekts, in der Transparenz seiner Motive und Kontexte: „[…] what I want to call performative writing does not project a self, even a radically destabilized one, as much as a relation of being and knowing that cuts back and forth across multiple ‚devisions’ among selves, contexts, affiliations such that, as Elspeth Probyn notes, ‘the self is not simply put forward, but [...] is reworked in its enunciation.’“ [Pollock 1998: 87][5]

 

Performative Writing is nervous.

Performative Schreiben ist nervös, indem es verschiedene Geschichten, Theorien, Praktiken und Diskurse durchkreuzt ohne sich dabei festzulegen, sondern offen und ruhelos zeitliche und räumliche Grenzen durchläuft. Darin folgt es einem körperlichen Modell, in dem sich Wissen in einem fortlaufenden Prozess von Übertragungen konstituiert. Im Rekurs auf Michel Foucault beschreibt Pollock das nervöse Schreiben als ein genealogisches: „It takes its pulses from a specially Foucauldian sense of history as a discontinuous recurrence of disciplines and practices, of ‘interpretations’ incorporated in history as events.“ [Pollock 1998: 91]

 

Performative Writing is citational.

Performativen Schreibens arbeitet zitierend, indem es sich innerhalb von bereits Geschriebenem reflektiert und inszeniert: „Citational writing figures writing as rewriting, as the repetition of given discursive forms that are exceeded in the ‚double-time’ of performing writing and thereby expose the fragility of identity, history, and culture constituted in rites of textual recurrence.“ [Pollock 1998: 92] Von Differenzen durchzogen, stellt das zitierende Schreiben das dem Schreiben immer schon innewohnende Zitieren aus, markiert es als solches in einer Ansammlung von Zitaten anderer oder eigener im Verhältnis zu einem bestehenden Diskurs.

 

Performative Writing is consequential.

Der letzte und sechste Punkt betrifft die Konsequenz des performativen Schreibens, im Sinne eines folgerichtigen und wirkungsmächtigen Umgangs, in dem es Schreiben als Handlung und Ereignis praktiziert, das sich innerhalb einer Gesellschaft und ihrer Institutionen verantworten muss. Indem es die Performativität der Sprache aufgreift, stellt es seine eigene (Handlungs-) Kraft und (Wirkungs-) Macht heraus, mit der die Verantwortlichkeit von Lesendem und Schreibenden aufgerufen ist. „In this struggle at least, performative writing seems one way not only to make meaning but to make writing meaningful.“ [Pollock 1998: 97]

 

 

Analyse des Performativen als performative Analyse – ein Schreibprojekt

Vor diesem Hintergrund ließe sich eine Analyse des Performativen selbst als eine performative Analyse verstehen, insofern sie den Prozess des Schreibens als Akt und Aktion reflektiert und inszeniert. Dabei wird gerade die mediale Differenz von Aufführung und Aufzeichnung zum Potential eines aufführungsanalytischen Schreibens, das nicht länger im Zeichen des Verlustes, sondern in seiner eigenen Zeitlichkeit zu lesen ist. Als performativer Akt erfordert das Schreiben selbst eine ‚gleichschwebende Aufmerksamkeit’ für die (Wieder-) Aufführung der eigenen Wahrnehmung im und als Text. Die Mit- oder Nachschrift folgt nicht der Verzeichnung einer wahrgenommenen Wirklichkeit, sondern einer Wirklichkeit der Wahrnehmung, die im Schreiben aufgerufen wird. Der so entstehende Text ist ein Gefüge von wechselseitigen Durchdringungen vergangener und gegenwärtiger Eindrücke eines Ereignisses, dessen Zeitlichkeit im Schreiben anhaltend fortwirkt. Gerade die Übertragung von der Aufführung in die Aufzeichnung erfordert die sprachliche Gestaltung, die es vermag, Resonanzen und Evidenzen zwischen dem Beschriebenen und Geschriebenen zu evozieren. Weniger die thematische Kohärenz des Dargestellten, als die Evidenz der Darstellung steht im Zentrum des performativen Schreibens. Es kommt zu einer Verschiebung vom Was zum Wie, die in ihren Konsequenzen für eine grafische Gestaltung des Schreibens zu untersuchen ist. Über ihre reproduzierende und konservierende Dimension hinaus erscheint Schrift in ihrer Materialität und Medialität selbst als Ergebnis und Voraussetzung einer Lese- und Schreibbewegung.

 

 

 

 

Abb. 1/2 Fotos: Isa Wortelkamp

 

 

Diesem Verständnis einer performativen Analyse folgte ein Schreibprojekt namens Schrift|Stücke, das im Rahmen des Freischwimmer Festivals 2012/13 in den Berliner Sophiensælen stattfand und das aus meinem Seminar zum Thema des Performative Writing mit Studierenden des Masterstudiengangs der Theater- und Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin hervorgegangen war. Das Projekt unternahm eine Übertragung grundlegender Konzepte zum performativen Schreiben auf unterschiedliche Formen und Formate der Aufzeichnung zu einzelnen Aufführungen. Während des gesamten Festivals entstanden innerhalb und außerhalb des Publikums ‚Schriften’ zu ‚Stücken’, die nach und nach die Wand des Foyers der Sophiensæle füllten. Während Mitschriften im Zuschauersaal ganz unmittelbar die Wahrnehmung der Aufführung ‚zu Papier brachten’, waren im Foyer an fünf Schreibtischen mehrere Schreibende zu beobachten, die auf je unterschiedliche Weise nachträglich Aufzeichnungen zu ihren Erinnerungen an die Aufführungen verfassten. Das Schreiben wurde auf diese Weise selbst zur Aufführung und als Schriftstück für die Zuschauer sicht- und lesbar.

 

Abb. 3 (Tafel 10-15) Stephanie Neumann

 

In den Mitschriften, die während den Aufführungen entstanden, stand der selektierende und transformierende Akt des Schreibens im Vordergrund.[6] In einer nachträglichen Dokumentation des Projektes formulierte eine Studentin ihre Erfahrung der Mitschrift wie folgt:

Was oder vielmehr wie wähle ich, als Schreibende, aus? Ordne ich nun meine Aufzeichnungen chronologisch? Bildet das Blatt eine Art Karte der Bühne, in die ich die Bewegungen am entsprechenden Ort eintrage oder setze ich unzusammenhängende Eindrücke so auf mein Papier, dass die innerbildliche Spannung interessant ist? Schneller als ich über die beste Formulierung nachdenken kann, bringt mein Schreiben eine Spur aufs Papier. Das Blatt wird zum Ereignis, es bedingt das textliche Geschehen.[7]

 

Die Gleichzeitigkeit von Aufzeichnung und Aufführung legt verschiedene Notationsformen nahe. Grafische Elemente durchkreuzen die wörtliche Beschreibung einzelner Gedanken, dokumentieren den Verlauf des Geschehens, verzeichnen Bühnenraum, Bodenwege und Standorte der Darsteller. Es entstehen Aufzeichnungen, die als grafisches Kondensat der Aufführung Evidenz erzeugen – als Ein- und Übertragung des zeitlichen und räumlichen Gefüges einer unaufhaltsamen und unhaltbaren Wahrnehmung. Durch die Mitschrift wird die Aufführung ‚mit dem Stift in der Hand ’[8] wahrnehmbar, treten der verzeichnende Blick und die auf einen Leser hin gerichtete Geste des Schreibenden hervor. Präsent ist damit auch stets die Frage, was sich wie durch die Aufzeichnung der Aufführung vermitteln lässt und was nicht.

Die weiteren Aufzeichnungen entstanden außerhalb der Aufführung im Nachtrag und aus der Erinnerung an das Geschehen an den Tischen im Foyer. Ihre Entstehung war für die Zuschauer unmittelbar nach dem Verlassen der Aufführung zu verfolgen.

 

 

Abb. 4 Foto: Gerhard Ludwig

 

So auch die Aufzeichnungen von Andrea Loppacher, die sie unter dem Titel Geheimschrift verfertigte. Mit einem transparenten Natrongemisch brachte sie in einem ersten Durchgang einzelne Gedanken zur Aufführung zu Papier, die sie in einem nächsten Schritt mit Traubensaft überschrieb, wodurch das Geschriebene allererst sicht- und lesbar wurde. In Szene gesetzt wurde auf diese Weise die Schriftwerdung, die in ihrer prozessualen Materialität als Spur einer Schreib- und Lesebewegung hervortrat. Der Übergang von der Unlesbarkeit der Schrift hin zu ihrer Lesbarkeit verwies dabei auf die Zeitlichkeit der Aufzeichnung, die in unmittelbarer Beziehung zur Zeitlichkeit der Aufführung wahrnehmbar wurde.

 

 

 

Abb. 5/6 Fotos: Isa Wortelkamp / Stephanie Neumann

 

Im Schreibprojekt von Helen Follert stand die Geste der Zeichnung im Akt des Schreibens im Vordergrund. Auf einem transparenten Papier verfasste sie grafische Kommentare zu den Aufführungen unter Einbezug der zeitlichen und räumlichen Bedingungen der Aufzeichnung. Die Eindrücke der Aufführung überlagern sich mit denen der Aufzeichnung selbst und prägen das so entstehende Schriftbild. In ihm wird der Untergrund des Schreibtischs ebenso sichtbar wie der eigene Körper der Zeichnenden wodurch die Zeitlichkeit des Schreibprozesses als Akt der Über- und Eintragung innerhalb verschiedener Wahrnehmungsbedingungen hervortritt.

 

 

 

 

Abb. 7/8 Fotos: Gerhard Ludwig / Stephanie Neumann

 

Unter dem Titel o. T. widmete sich Antje Krause der Intimität des Schreibens als kontemplativer und (selbst-) reflexiver Akt. Abgeschirmt hinter einer Kabine aus Plexiglas, notierte sie ihre Erinnerungen an die vorangehende Aufführung mit schwarzer Tinte auf einem weißen Zeichenblock, von dem sie einzelne Blätter abtrennte, um sie aufzuhängen oder zu verwerfen. Der Leser wurde zum Zeugen des Schreibprozesses und gewann Einblick in die Gedankenwelt des Schreibenden, der mit dem Leser die Wahrnehmung der Aufführung teilte, sie durch die Aufzeichnung mitteilte.

 

 

Abb. 9 Foto: Isa Wortelkamp

 

Im dem Projekt (r)übertragen von Martin Lodzky wurden die Hände des Schreibenden durch eine Kamera gefilmt und über einen Splitscreen gleichzeitig zu dem entstehenden Text an die Wand übertragen. Für den Zuschauer erfahrbar werden dabei die Szene des Schreibens am Tisch und die Projektion des Prozesses des Schreibens als körperlicher und geistiger Akt und der Produktion des Textes. Der Computer tritt als Schreib- und Denkraum in zeitlicher und räumlicher Abgrenzung zum Ort der Aufführung hervor. Seine medientechnische Disposition bestimmt den Entstehungsprozess des Textes, der als kontinuierlicher Akt der Entscheidung und Veränderung bewusst zu werden vermag.

 

 

Abb. 10 Foto: Stephanie Neumann

 

 

In dem Projekt The Critic is Present von Eva Biringer wurde der Computer als Arbeitsplatz des Kritikers in Szene gesetzt. Der Kritiker schreibt auf, was andere ihm sagen. Der Zuschauer ist eingeladen, seine eigene Kritik zu schreiben bzw. schreiben zu lassen, wodurch sich die Autorschaft des Kritikers und das Schreiben als Instrument der Macht relativieren. Das kritische Schreiben wird auf diese Weise als dialogisches Prinzip zwischen Kritiker und Zuschauer in Szene gesetzt – als gemeinsame Produktion, die am Ort der Aufführung ausgestellt, in ihren eigenen Bedingungen sicht- und lesbar wird.

 

Die Verbindung von Sichtbarkeit und Lesbarkeit verbindet die verschiedenen Formen des Schreibens, das hier in seiner Performativität im Sinne der Hervorbringung eines Ereignisses und Ausführung einer Handlung in den materiellen und medialen Bedingungen ihres Erscheinens in Szene gesetzt war. Und zwar sowohl als Denk- und Schreibprozess, der sich in den verschiedenen Schrift-Stücken fixiert findet und in dieser Fixierung sowohl sprachlich als auch grafisch Verbindungen zwischen Aufführung und Aufzeichnung herstellt und nachvollziehbar werden lässt. Fanden die Aufzeichnungen hier in unmittelbarer Nähe zur Aufführung statt – hinter der Wand des Bühnenraums –, so verweisen sie doch auf eine raumzeitliche Übertragung, die stets mit der aufführungsanalytischen Praxis des Schreibens einhergeht. Diese Übertragung als prozessualen und materiellen wie medialen Akt im Schreiben zu reflektieren und zu markieren, weist die Aufzeichnung der Aufführung als eine Kunst aus, die Performativität des Ereignisses in der Lektüre neu und anders hervorzubringen.

 

 

Isa Wortelkamp (Prof. Dr. phil.) lehrt und forscht in der Theater- und Tanzwissenschaft. Von 2008-2015 war sie Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Dort leitete sie das DFG-Forschungsprojekt "Bilder von Bewegung - Tanzfotografie 1900-1920". Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen promovierte sie an der Universität Basel mit der Arbeit Sehen mit dem Stift in der Hand - die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung (Freiburg im Breisgau 2006). 2003-2008 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin in Anbindung an den Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts der LMU München und als Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik, Studiengang Tanz in Köln. 1998 gründete sie dort das Tanz-Performance Kollektiv ArchitekTanz. In ihrer Forschungsarbeit untersucht sie die Verhältnisse von Aufführung und Aufzeichnung, Choreographie und Architektur sowie von Bild und Bewegung.

 

 

 


[1] [Menge 1913]
[2] Eine ausführliche Übertragung der Idee der Psychoanalyse auf die Aufführungsanalyse hat Hans-Friedrich Bormann unternommen.: [Bormann 2012]
[3] Dort heißt es: „Following Turner and others, I want to keep opening up space for non-discursive forms, and encouraging research and writing practices that are performance-sensitive.“ [Conquergood 1991: 191]
[4] Dislocations. Ausstellung. 20.10.1991 bis 07.01.1992, Museum of Modern Art, New York.
[5] Pollock zitiert Probyn [Probyn 1993: 2].
[6] Das Projekt der Mitschriften wurde geleitet von Mary-Ann Schubert.
[7] Maja Zimmermann „Gedanken zum Schreibprojekt und den Möglichkeiten des Performative Writing“, in: Schrift | Stücke. Dokumentation eines Schreibprojekts zum Performative Writing. Hg. v. Isa Wortelkamp unter Mitarbeit von Melanie Pohle und Maja Zimmermann. Unveröffentlicht.
[8] Vgl. Wortelkamp 2006.

 

 

 

Literatur
Bormann, Hans-Friedrich. „Bewegungen der Aufzeichnung. Über Aufführungs-Analyse“. In: Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, Isa Wortelkamp (Hg.) Berlin 2012: 21 – 51.
Böhm, Gottfried und Helmut Pfotenhauer (Hg.). Beschreibungskunst  Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995.
Conquergood, Dwight. „Rethinking Ethnography: Towards A Critical Clutural Politics“. In: Communication Monographs, Vol. 58, No. 2, 1991: 179 – 194.
Fischer-Lichte, Erika. Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen 2001.
Freud, Siegmund. Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. [1912] In: ders., Studienausgabe. Ergänzungsband (= Schriften zur Behandlungstechnik), Frankfurt a. Main 2000: 196 – 180.
Lessing, Gotthold Ephraim. Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann. Stuttgart 1958.
Menge, Hermann (Hg.): Griechisch-Deutsches und Deutsch-Griechisches Wörterbuch. Berlin-Schöneberg 1913.
Peters, Sibylle. „Performative Writing 1800/2000? Evidenz und Performanz in der medialen Refiguration des Wissens“. In: Performativität und Ereignis. Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.). Tübingen/Basel 2003: 99 – 116.
Phelan, Peggy. Unmarked. The Politics of Performance. London und New York 1993.
Pollock, Della. “Performing Writing”. In: The Ends of Performance. Peggy Phelan und Jill Lane (Hg.). New York 1998.
Probyn, Elspeth. Sexing the Self: Gendered Positions in Cultural Studies. New York 1993.
Wortelkamp, Isa. Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg i. Br. 2006.

 

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