Keimzellen der Avantgarde - Yasuo Ozawas „Tokyo Experimental Performance Archive“

Ulrike Krautheim (Tokyo)

 

 

 

 

Die japanische Theateravantgarde vor dem Verfall zu bewahren; der Impuls, Soforthilfe für bereits im Prozess der Zersetzung befindliche Filmrollen zu leisten – das war die Initialzündung für Yasuo Ozawa, sich mit der Archivierung von Arbeiten im Bereich der Performance-Künste zu befassen. Ozawa, der als Produzent experimenteller Musik- und Tanzperformances tätig ist, hört im Jahr 2005 bei einer Zusammenkunft von Theaterleuten durch Zufall von einer Serie von Videomitschnitten herausragender japanischer Theater- und Butoh-Aufführungen aus den 1970er Jahren, die unbearbeitet im Haus eines Privatmannes lagern und zunehmend vergammeln. Das Filmmaterial enthält zum Beispiel Dokumentationen von Arbeiten der Butoh-Legenden Kazuo Ohno und Dairakudakan

sowie der Angura (Underground)-Theaterbewegung, unter anderem Aufführungen von Juro Karas Jokyo Gekijo und Makoto Satohs Black Tent Theatre. Die Filme repräsentieren damit eine der dynamischsten Phasen der japanischen Theaterkultur des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, in der sich die Suche nach einer originär japanischen Identität und ihren theatralen Ausdrucksformen in einem breiten Spektrum innovativer Theaterbewegungen artikuliert – als Gegenentwurf zum westlich geprägten Shingeki, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Japan Einzug gehalten hatte.

Ozawa sieht akuten Handlungsbedarf. Doch bei den verantwortlichen japanischen Institutionen stößt er auf taube Ohren. Er trägt sein Vorhaben, diese wertvollen Dokumente der japanischen Theatergeschichte zu erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, bei verschiedenen Akteuren des Kulturbetriebs vor, findet zunächst aber kaum Gehör. Schließlich gelingt es im Jahr 2008, mit Hilfe von Fördergeldern der japanischen Agency for Cultural Affairs etwa 50 der mehreren hundert Videos zu digitalisieren und zu archivieren.

Vielleicht ist es, wie oft in Japan, der Effekt eines kulturellen Re-imports, der die japanischen Kultureinrichtungen stärker für Fragen der Archivbildung sensibilisiert. Die von Ozawa digitalisierten Videos werden 2010 in die Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art aufgenommen und erfahren durch die Beachtung im Ausland auch im japanischen Kontext eine Aufwertung. Trotzdem müssen noch mehrere Jahre vergehen, bis Ozawa ein Archivprojekt angehen kann, das den bisherigen, mit heißer Nadel gestrickten Aktivitäten nach dem Motto „Retten, was noch zu retten ist“, ein systematischeres Vorgehen entgegensetzt. Im Jahr 2014 initiiert er das Tokyo Experimental Performance Archive, ein zunächst auf die Dauer von drei Jahren angelegtes Projekt, das sich, in Erweiterung der vormaligen Aktivitäten Ozawas, explizit auf die Möglichkeiten des Internets als Medium zur Archivierung von Arbeiten im Bereich der Performing Arts beruft.

 

 

Tokyo Experimental Performance Archive, Performance von Kota YAMAZAKI,
Club SuperDeluxe, Tokyo, 23.09.2014, © bozzo

 

Im ersten Jahr werden sechs Performances von Künstlern, die der japanischen zeitgenössischen experimentellen Musik- und Tanzszene zuzurechnen sind, filmisch dokumentiert und auf einer projektbezogenen Website im Internet veröffentlicht. An drei Abenden im Zeitraum Juli bis September 2014 werden im Tokyoter Club SuperDeluxe jeweils zwei Performances gezeigt und filmisch dokumentiert. An allen drei Abenden kombiniert Ozawa jeweils eine Produktion aus dem Bereich Tanz- und Körperperformance mit einer Arbeit aus der experimentellen Musik. Beteiligt sind die Künstler Ko Muroboshi und Kota Yamazaki, im engeren oder weiteren Sinne dem zeitgenössischen Butoh verpflichtet, Contact Gonzo, eine rein männlich aufgestellte Gruppe, die ihre Wurzeln in der Kontaktimprovisation hat, sowie die Musiker Atsuhiro Ito, Aki Onda und Otomo Yoshihide, die derzeit in sehr vielfältigen Kontexten der internationalen Musikszene aktiv sind, dabei aber ihre musikalische Prägung durch die „Underground“-Szene kontinuierlich als Reservoir neuer Ausdrucksmittel kultiviert haben.

 

 

Tokyo Experimental Performance Archive, Performance von Ko MUROBOSHI,
Club SuperDeluxe, Tokyo, 30.08.2014, © bozzo

 

Begleitend organisiert Ozawa eine Konferenz, bei der Fachleute aus den Bereichen Kulturpolitik und Urheberrecht mit Künstlern zusammentreffen und Prämissen für kulturelle Archive in Japan diskutieren. In den Jahren 2015 und 2016, dem Zeitraum, für den die Weiterführung des Archivs durch Zuwendungen des Arts Council Tokyo fürs Erste gesichert ist, wird sich die Zahl der Performances, die im Rahmen von Ozawas Projekt archiviert werden können, in einer ähnlichen Dimension bewegen. Die spärliche Zahl von sechs Performances im Jahr, die fast zeitlupenartige Geschwindigkeit, mit dem das Tokyo Experimental Performance Archive seinen Bestand erweitert, veranschaulichen vor allem zwei Aspekte der Situation, mit denen sich kulturelle Archive in Japan derzeit konfrontiert sehen.

Erstens: Auf die umwälzende Bedeutung des Internets für die Speicherung und den Transfer von Wissen und die weitreichenden Aktivitäten privater Firmen wie Google und YouTube bei der Archivierung und Auswertung von Big Data wird in Japan vergleichsweise spät und immer noch zögerlich reagiert. Wo die Europäische Union mit umfassenden Archivprojekten wie der Portalseite Europeana zumindest Versuche unternimmt, die US-amerikanische Archiv-Hegemonie zu kontern und eine europäische kulturelle Identität zu artikulieren, liegt Japan in diesem Bereich nach wie vor im Dornröschenschlaf. Bislang fehlt es hier an juristischen Sonderregelungen für Kunstarchive als Plattformen eines öffentlichen Kultur- und Wissensreservoirs. Aus diesem Grund scheitern Archivprojekte oft an der kaum zu überblickenden Zahl von Rechteinhabern, deren Einverständnis für die Veröffentlichung von Dokumentationen der betreffenden Produktionen notwendig wäre.

Um derartige Urheberrechtsprobleme von vornherein auszuschalten, schlägt Ozawa den umgekehrten Weg ein. Er dokumentiert nicht Aufführungen, die ohnehin auf den Spielplänen der Tokyoter Theater- und Veranstaltungshäuser stehen, sondern sorgt erst einmal dafür, dass die Aufführungen, die er dokumentieren will, überhaupt stattfinden. Im Tokyoter Club SuperDeluxe organisiert er im Sommer 2014 Wiederaufnahmen ausgewählter Performances zum Zweck ihrer Archivierung, wobei der Dokumentationsprozess unter Anwesenheit von Publikum stattfindet. Diese Verfahrensweise ermöglicht Ozawa, die rechtlichen Bedingungen für die Dokumentation der entsprechenden Arbeiten bereits vorab vertraglich abzusichern. So fungiert er beim Tokyo Experimental Performance Archive als Produzent und Archivar zugleich, eine Doppelrolle, die ihm zwar rechtliche Komplikationen erspart, aber auch Produktionskosten erzeugt, die bei Dokumentationsprozessen sonst nicht anfallen.

Zweitens: Die vergleichsweise geringe Fördersumme von maximal 4 Millionen Yen pro Jahr (ca. 40.000 Euro), die der Arts Council Tokyo für Langzeitprojekte wie das Tokyo Experimental Performance Archive bereitstellt, zeigt den noch sehr zögerlichen Umgang der japanischen Kulturförderung mit dem Themenkomplex „kulturelle Archive“. Rechtsanwalt Kensaku Fukui, Urheberrechtsspezialist und Teilnehmer an Ozawas Konferenz, führt aus: „Das Budget, das in Japan von der öffentlichen Hand für Archive im kulturellen Sektor bereitgestellt wird, liegt bei 5 bis 10 Milliarden Yen (ca. 50 bis 100 Millionen Euro), das entspricht weniger als 5% der Summe, die beispielsweise Frankreich pro Jahr für Archivprojekte ausgibt.“ Das Jahresbudget der Nationalen Parlamentsbibliothek (Kokuritsu Kokkai Toshokan), die im Moment das größte nationale digitale Kulturarchiv in Japan erstellt, beträgt derzeit 20 Millionen Yen, das entspricht im Vergleich zu dem Budget, das jährlich für den Straßenbau in Japan aufgewendet wird, einem Teilstück von 25 cm Straße.

 

 

Tokyo Experimental Performance Archive, Performance von Atsuhiro ITO,
Club SuperDeluxe, Tokyo, 30.08.2014, © bozzo

 

Ein Zuwachs von sechs Performances pro Jahr – der Umfang von Ozawas Archiv animiert zum Anstimmen der Ballade vom Tropfen auf dem heißen Stein. Die Unmöglichkeit, mit seinen Dokumentationsaktivitäten ein umfassendes Bild von den Vorgängen in einem Segment der japanischen Performanceszene in einer bestimmten Zeitspanne zu entwerfen, verleiht Ozawa aber umgekehrt die Freiheit der radikalen Subjektivität. Auf die Frage, nach welchen Kriterien er im ersten Jahr seines Projekts die Performance-Künstler für die Archivierung ausgewählt habe, führt er an, dass es darauf eine offizielle und eine inoffizielle Antwort gebe. Dankenswerterweise spart er sich die offizielle Version:

„Ich lag zu dieser Zeit gerade mit einem Leistenbruch im Bett und konnte mich kaum bewegen. Deshalb konnte ich die Verhandlungen mit den Künstlern, die ich einladen wollte, nicht persönlich führen. Ich habe daher alle Beteiligten per E-Mail gebeten, bei meinem Projekt mitzumachen. Aus diesem Grund habe ich ausschließlich mit Künstlern zusammengearbeitet, mit denen ich schon Arbeitsbeziehungen hatte, Leute, die mir vertraut waren. Von allen habe ich habe fast auf der Stelle Antwort bekommen: ‚Ich bin dabei’. Wenn ich jetzt an diese Zeit zurückdenke, als ich flach lag und all diese Mails rausgeschickt habe, finde ich, dass ich in einer ziemlich guten Zeit lebe. In gewisser Weise habe ich es mir in Bezug auf die Auswahl der Künstler leicht gemacht, aber so war eben die Situation zu diesem Zeitpunkt. Trotzdem kann ich für alle beteiligten Künstler sagen, dass sie meinem Begriff von ‚experimentell’ entsprechen. Sie arbeiten in sehr unterschiedlichen Feldern der Kunst, haben aber alle kontinuierlich experimentelle Arbeitsweisen erprobt und weiterentwickelt.“

Den Begriff „experimentell“ im Titel seines Archivs sieht Ozawa weniger im Sinne einer Abgrenzung gegenüber einem wie auch immer definierten „Establishment“, sondern in erster Linie pragmatisch – als Mittel, künstlerische Gattungen nicht isoliert voneinander zu behandeln und stattdessen ein Feld für den Dialog zwischen den besonders in Japan stark segmentierten Kunstgenres und Publikumsschichten anzustoßen:

„Der Begriff ‚experimentell’ im Titel des Archivs gibt mir den Freiraum, Gattungsgrenzen außer Acht zu lassen, performative Arbeiten sehr verschiedenen Typs zusammenzuschnüren. Manche sind eher im Musikbereich angesiedelt, andere im Bereich von Körper-/Tanzperformance und wieder andere sind näher am Theater. Nur durch solche Kreuzungen und Durchkreuzungen können Archive als Motor für Austausch und Kreativität funktionieren. Ich möchte keine Leichen sammeln und einbalsamieren. Nicht wie in einer Bibliothek, wo im Keller dann fein säuberlich beschriftete Akten lagern. So etwas ist aus meiner Sicht kein Archiv, sondern eine Form der Einlagerung. Ein Archiv aber lebt von seiner Verwertung. Die Materialien müssen für jedermann sichtbar und zugänglich sein und für die Nutzer als Inspirationsquelle für deren eigene Ausdrucksformen wirken. Zum Beispiel diejenigen, die beim Tokyo Experimental Performance Archive zuerst einmal an der Plattenspieler-Performance von Otomo Yoshihide hängen bleiben, das sind vielleicht englische Noise Music Fans: Die sehen dann zufällig auch die anderen Performances und denken ‚Nanu, was ist das denn?’ Genau darum geht es mir.“

Im Gegensatz zu herkömmlichen historischen Archiven, die sich vornehmlich an eine elitäre Gruppe von Wissenschaftlern und Forschern richten, sieht Ozawa seine Adressaten vor allem als Kreative: Praktiker, die das Archiv als Plattform nutzen können, sich für ihre Arbeit relevante Informationen und künstlerische Anregungen zu verschaffen. Und, in nicht allzu ferner Zukunft, so Ozawas Vision, soll das Archiv die Eigenschaften der Wissensspeicherung und des sozialen Netzwerks miteinander verbinden. Die noch begrenzten Kommunikationsfunktionen, über die sein Archiv bislang verfügt, will er ausbauen, so dass die Nutzer zunehmend in Austausch miteinander treten und möglicherweise auch zukünftige Kollaborationen initiieren können. „Das sind im Moment noch Luftschlösser, aber es wäre zum Beispiel auch denkbar, dass Künstler, deren Arbeiten auf der Seite archiviert sind, in irgendeiner Stadt auf der Welt, wo es ein Interesse von Seiten des Publikums gibt, live auftreten, zusammen mit Künstlern vor Ort. Diese Veranstaltung hieße dann vielleicht Tokyo Experimental Performance Archive in New York.

 

Tokyo Experimental Performance Archive, Performance von Aki ONDA,
Club SuperDeluxe, Tokyo, 23.09.2014, © bozzo

 

 

Sehnsuchtsort Tokyo

Dass Ozawas Archiv trotz seiner Verortung im Internet und damit der Loslösung von konkreten geographischen Bindungen noch mit dem Lokalkolorit und den Konnotationen des Wortes „Tokyo“ operiert, ist nicht nur der finanziellen Förderung durch den Arts Council Tokyo geschuldet, sondern auch Ozawas Biographie, die möglicherweise stellvertretend für viele japanische Kunstschaffende seiner Generation ist.

„Ich komme ursprünglich aus der Präfektur Nagano. In der Stadt, wo ich damals wohnte, halten nur zwei Züge pro Tag, das war kulturelles Niemandsland. Nur durch Medien wie Fernsehen und Zeitschriften hatte man einen Zugang zur Welt. Tokyo war für mich ein Sehnsuchtsort, so wie New York oder Paris. Das war auch der Grund, warum ich vor 20 Jahren nach Tokyo gezogen bin. Tokyo war der Ort, wo man ausländische Künstler erleben konnte. Man wartete darauf, dass sie nach Japan kamen, und sie kamen dann auf jeden Fall nach Tokyo. Zu dieser Zeit war Tokyo noch ein Ort der Begegnung. Ein anderer Aspekt der Faszination Tokyos ist, dass es hier alles gibt und auch wieder nichts. Andere Städte in Japan wie Okayama oder Kyoto sind in hohem Maße durch ihre traditionelle Kultur determiniert, aber in Tokyo herrscht eine Kultur des ‚scrap and build’. Es gibt hier weniger diese festgefügten Kulturgüter, an denen man sich wohl oder übel abarbeiten muss. Dinge sind in einem permanenten Prozess des Entstehens und Verschwindens. Man kann nie zur Gänze erfassen, was eigentlich gerade los ist. Das führt dazu, dass man beginnt, seine eigenen Wunschvorstellungen auf die Stadt zu projizieren. Die ganze Stadt funktioniert in diesem Sinne wie ein Medium, eine riesige kollektive Projektionsfläche. Aber das hat sich durch das Internet in den letzten Jahren stark verändert. Man ist jetzt jederzeit mit der ganzen Welt verbunden und kann sich Informationen beschaffen. Das heißt, man braucht diesen Schritt von den ländlichen Räumen in die Großstadt eigentlich nicht mehr. Dadurch wird sich die Rolle urbaner Ballungsräume als Träger und Mittler von Informationen stark verändern. Oder besser gesagt, sie hat sich schon verändert.“

Obschon also die Rolle, die bisher die Großstädte für die Strukturierung des kulturellen Lebens und den Informationstransfer eingenommen haben, durch das Medium Internet stark im Wandel begriffen ist, operiert Ozawa bei seinem Archiv noch bewusst mit dem Klang, den Vibrationen, die der Name „Tokyo“ aussendet. Auch wenn einige der Künstler, deren Performances von Ozawa im Jahr 2014 archiviert wurden, nicht oder nicht mehr in Tokyo leben, repräsentieren sie für Ozawa doch einen charakteristischen „Tokyo Spirit“, jene Kultur des „scrap and build“, die sich inzwischen bereits zunehmend auf den virtuellen Raum des Internets verlagert hat und im Begriff ist ihre konkrete geographische Anbindung einzubüßen. Vielleicht artikuliert Ozawas Archiv auf diese Weise auch eine Reminiszenz an die kreative Vitalität eines Ortes, die bereits im Verschwinden begriffen ist und zweifellos in den kommenden Jahren im Zuge der kulturellen Aktivitäten rund um die Olympischen Spiele 2020 zunehmend in eine von Bürokraten genormte und kontrollierte Kultur der Repräsentation transformiert werden wird.

 

Tokyo Experimental Performance Archive, Performance von Contact Gonzo,
Club SuperDeluxe, Tokyo, 18.07.2014, © bozzo

 

 

Die Kunst des Kopierens

Zwei Performances, die Ozawa im Rahmen der Konferenz vom September 2014 als Teil seines Archivprojekts präsentierte, zeigen, wie die zunehmende Verfügbarkeit filmischer Quellen historischer Aufführungen im Internet die aktuelle Theaterkultur in Japan beeinflusst und neue Fragestellungen aufwirft. Der Tänzer und Performer Takao Kawaguchi zeigt Auszüge aus seiner Performance About Kazuo Ohno, in der er Passagen früher Arbeiten der Butoh-Legende Ohno rekonstruiert. Kumotaro Mukai tanzt einen Ausschnitt aus einer Arbeit von Tatsumi Hijikata, der als Begründer des Genres Butoh angesehen wird. Beide Performances wählen die Verfahrensweise, vollkommene Kopien ihrer Vorbilder zu liefern.

„Diese Tendenz wird nun zu guter Letzt auch in Japan sichtbar – dass man sich mit einer Arbeit, zum Beispiel mit einer Choreographie aus der Vergangenheit intensiv beschäftigt, sie sozusagen ‚in sich aufnimmt’. Dieser Prozess kann dann den Ausgangspunkt bilden für die Entstehung von etwas Neuem. Im Musikbereich, in der Literatur und Mode ist es schon lange üblich, sich aus dem Zitatenschatz, den die Arbeiten aus der Vergangenheit im Sinne eines überdimensionalen Archivs liefern, ungehemmt zu bedienen und die Elemente, die man dort vorfindet, neu abzumischen. Im Bereich Theater und Tanz ist man bisher immer davon ausgegangen, dass Innovation bedeutet, etwas Neues, noch nie Dagewesenes herzustellen. Dass man jetzt anfängt, Ansätze aus der Vergangenheit kritisch zu reflektieren und neu zusammenzusetzen, halte ich für einen wichtigen und spannenden Prozess.“

Dass gerade die legendären Performances der Butoh-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre in Japan ein ergiebiges Material für eine solche Art der Auseinandersetzung mit Fragen der Innovation, mit der Wechselbeziehung von Original und Kopie liefern, ist womöglich der Ambivalenz geschuldet, die diese Arbeiten in Bezug auf ihre Stellung in der japanischen Theatergeschichte innehaben. Für die traditionellen japanischen Theaterformen wie Noh, Kabuki und Bunraku, deren ästhetische Praxis als kollektives Kulturgut von Generation zu Generation weitergegeben wird, haben westlich geprägte Ideen der künstlerischen Innovation und des Bühnenwerks als Repräsentation eines subjektiven Blicks keine Relevanz. Mit Butoh hingegen entsteht nach dem 2. Weltkrieg eine performative Kunstform, die sich von dem Kanon der tradierten japanischen Bühnenkünste loslöst und eine radikal subjektive Form physischer Präsenz auf der Bühne zur Diskussion stellt. Die Performances des Butoh sind in hohem Maße an die physische Verfasstheit sowie den Bewusstseinszustand ihrer Schöpfer gebunden und entziehen sich damit der Definition eines verallgemeinerbaren methodischen Instrumentariums. Dies rückt die Handlungen auf der Bühne in die Sphäre des Unbeschreiblichen, Unnahbaren und befördert einen Personenkult, bei dem besonders die erste Generation der Butoh-Legenden von der Gemeinde ihrer Schüler und Anhänger als geniehafte Lichtgestalten verehrt werden.

In diesem Zusammenhang entfaltete die von Kawaguchi und Mukai vorgenommenen Rekonstruktionen historischer Butoh-Performances ihre Sprengkraft als Tabubruch gegenüber der hermetischen und auratischen Präsenz der Butoh-Meister. Die Aneignung der Bewegungsabläufe der Butoh-Performances im Sinne eines bloßen physischen Materials, das auf andere Personen übertragbar und dadurch analysierbar ist, löst einen Prozess der Entmystifizierung aus. Die Missachtung des im Butoh gängigen Personenkults durch Kawaguchi und Mukai zeigt den Wunsch nach einem Aufbrechen hierarchischer Strukturen und der Erschließung der ästhetischen Verfahrensweisen des Butoh als kollektiven Rohstoff für zukünftige künstlerische Auseinandersetzung.

 

 

10-Jahres-Plan?

Wo wird das Tokyo Experimental Performance Archive in zehn Jahren stehen? Nach der Langzeitperspektive seines Archivs befragt, wird noch einmal deutlich, mit wie vielen Unbekannten Ozawa seine Gleichungen derzeit erstellen muss.

„Aus zehn oder zwanzig dokumentierten Arbeiten wird noch kein Archiv, da bleibe ich im Bereich des ‚Hobbyismus’ stecken. Ein Umfang von hundert Arbeiten wäre für mich das Minimum, um zu zeigen, was hier in Tokyo los ist. Aber im Moment bekomme ich auch unter großen Bemühungen nicht mehr als sechs Arbeiten pro Jahr archiviert. Das wären in zehn Jahren also sechzig Arbeiten. Das ist zumindest mal eine Zielvorgabe. Im Moment mangelt es in Japan noch an systematischen kulturpolitischen Maßnahmen in Bezug auf die Erstellung und Pflege von öffentlichen Archiven. Man ergeht sich darin, auf das schon Bestehende einfach ein bisschen Soße zu gießen. Im Hinblick auf diese Situation habe ich mir gedacht, dass man eben erstmal irgendwo anfangen muss. Und habe dann mit der Arbeit an meinem Archiv begonnen, mit sehr geringem Budget. Vor dem Hintergrund der begrenzten Mittel ist das Archiv eines, das aus meiner ganz persönlichen Sicht heraus entsteht. Wenn ich das ordentlich machen wollte, müsste ich all meine Energien da hineinsetzen und vermutlich einige Leute einstellen. Aber im Moment betreibe ich das eben ganz allein. Deswegen halte ich es für das Effektivste, wenn ich einige Künstler, deren Arbeiten man in zwei oder fünf Jahren vielleicht nicht mehr sehen kann, in meinem Archiv ‚einfriere’. Das ist für mich unter den gegenwärtigen Bedingungen die einzig praktikable Methode. Man sagt ja, dass im Jahr 2045 die Fähigkeiten der Computer das menschliche Gehirn überholen werden. Dann können die Computer die Archive wahrscheinlich selbst erstellen und ich werde gar nicht mehr gebraucht. Aber bis das soweit ist, mache ich erstmal weiter.“

Ozawas Pragmatismus im Umgang mit dem zu archivierenden Material, seine Bereitschaft zum stetigen Verwerfen und Neu-Erfinden seiner eigenen Methoden sind nicht unbedingt Eigenschaften, die man mit dem klassischen Bild des Archivars in Verbindung bringen würde. Doch gerade dieser unorthodoxe, stets improvisierende Umgang mit den eigenen Strategien ist es, die Ozawa im Zuge der unbefriedigenden kulturpolitischen Situation in Japan handlungsfähig macht.

Dass Ozawas Projekt von dem umfangreichen Geldregen, der im Vorfeld der Olympischen Spiele auf die Tokyoter Kulturszene ausgeschüttet wird, unmittelbar profitiert, ist nicht zu erwarten. Eine Gruppe von Bürokraten wurde zwar auf das Tokyo Experimental Performance Archive aufmerksam und erschien zu einem Hearing in Ozawas Büro. Ozawa sollte seine Vorstellungen zum kulturellen Beiprogramm der Olympiade darlegen:

„Ich habe mich mächtig ins Zeug gelegt und eine Präsentation von zwei Stunden vorbereitet. Meine Ideenskizze sah vor, dass man bei der Olympiade 2020 auf die typischen Großevents mit Festcharakter weitgehend verzichtet und stattdessen auf Netzkultur setzt, das Internet als extensive Plattform für kulturellen Austausch etabliert. Nach meiner Präsentation habe ich von den Bürokraten der Stadt Tokyo lange nichts gehört. Nach ein paar Monaten wurde mir dann eine Broschüre zugeschickt, in der die Pläne für das Kulturprogramm der Olympischen Spiele dargestellt waren. Geplant sind: Großevents mit Festcharakter.“

Ozawa selbst hat sich bereits entschieden, den Bannkreis des Phantasmas „Tokyo“ – zumindest zeitweise – zu verlassen. Er wird ab Sommer 2015 seine zweite Arbeitsbasis in der Stadt Okayama im Westen Japans etablieren.

 

Tokyo Experimental Performance Archive, Performance von Otomo Yoshihide,
Club SuperDeluxe, Tokyo, 18.07.2014, © bozzo

 

 

 

Yasuo OZAWA gründet das Japan Performance/Art Institute im Jahr 2008 und formuliert bei seiner Tätigkeit als Produzent von Arbeiten im Bereich Performance Art, zeitgenössischer Tanz, zeitgenössisches Theater, Medienkunst und Musik eine individuelle Perspektive, die herkömmliche Genregrenzen außer Acht lässt. Seit 2007 veranstaltet er jährlich das Performancefestival HARAJUKU PERFORMANCE+. Von 2010 bis 2011 ist er als Commissioner für das Nam June Paik Art Center in Südkorea tätig. Seit 2014 betreibt Ozawa das Archivprojekt Tokyo Experimental Performance Archive, welches das Potential des Mediums Internet für die Erstellung und Pflege von Archiven erforscht. 
http://t-epa.com
http://j-pai.net

 

Ulrike Krautheim (Tokyo) Dramaturgiestudium in Leipzig. Lebt seit 2004 in Japan. Nach Tätigkeiten im Veranstaltungs- und Konzertmanagement von 2008 - 2013 Produktionskoordinatorin beim Festival/Tokyo. (www.festival-tokyo.jp) 2012 - 2013 Ko-Direktorin des Residenzprogramms "Residency East Asia Dialogue" (http://r-ead.asia). Seit 2013 Koordinatorin beim Japan Media Arts Festival (http://j-mediaarts.jp/?locale=en). Für das Festival / Tokyo 2014 programmierte sie die Filmprogramm Twisting the Knife – Christoph Schlingensief’s Art of Social Perturbation. Im Frühjahr 2015 arbeitete sie als „cooperate dramaturge“ beim Festival Bo:m, einem jährlich stattfindenden Festival für interdisziplinäre Künste in Seoul. (http://festivalbom.org/home)

 

 

 

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