Patrick Bossatti: Zeichnungen und Tanzerfindungen
Laurent Sebillotte (Paris)
Zustands-Zeichnungen
Bei der Analyse seiner Arbeiten zur Tanzdarstellung bemerkte Patrick Bossatti (1961-1993), ein ausgebildeter Zeichner, aber auch Tanzkritiker, der in beiden Feldern darum bemüht war, seine Begeisterung für das junge Choreografieschaffen im Frankreich der 1980er Jahre zu übersetzen, dass „jedes Mal, wenn ein Künstler versucht, die Raumbewegungen des Tänzers, des bewegten Körpers ins Plastische zu übersetzen“, d. h. zu versuchen, das nicht Vorhandene oder das, was „das menschliche Auge nicht wahrzunehmen gewohnt ist“ darzustellen, eine „gemeinte Welt“ (monde signifié) zum Vorschein kommt und eine Generalisierung körperlicher Zustände, eine Konzeptualisierung seiner Form eröffnet und diesen einzelnen Körper „aus seiner besonderen Geschichte“ herauslöst.
Bossatti ging es darum, den Ursprung der Bewegung zu erfassen in der je eigenen Körperlichkeit des Interpreten: „Nicht den Tanz zeichnen, sondern die Tänze; nicht die Figur, die Haltung oder die Form, sondern die Bewegung, die auf sie zueilt, genau jenen Moment vor dem Denken zeichnen, da der Körper sozusagen organisch auf eine Frage antwortet, die ihm gestellt wurde.“ „Ich notiere nicht die Choreografie im Lauf ihrer Festlegung“, so erklärte Bossatti immer wieder, sondern „ihre Aufführung“.
„Ich habe versucht, jenen kostbaren Aspekt einzufangen, den Rohzustand der Ausführung, noch ehe sie Teil eines Werkes wird und im Dienste eines Themas oder eines Gedankens steht. Was ich umschreiben wollte, war das, was seinen Weg durch den Organismus genommen hatte und sich in aller Plötzlichkeit ausstellte, in völliger Offenheit, und den Pfad elementarer Wahrnehmungen unverblümt und abrupt enthüllt. […] Diesem exakten Moment des Auftauchens von Bewegung galt mein eigentliches Interesse. […] Es war eine Übung in der Notation von Zuständen, Sekundenbruchteilen, da der Körper sich ausstellt, ohne zu denken.“
Der Künstler wird so zum Zeugen jenes Augenblicks diesseits des Tanzes, da „die Bewegung ihre Inkarnation findet und sich dem Chaos elementarer Wahrnehmungen entwindet“.
Tanz aus Papier
Nach sieben Jahren der Beobachtung im Studio beginnt Bossatti, „ohne den visuellen Anhaltspunkt eines bewegten Körpers und ohne dessen Elan übertragen zu müssen“, seine zeichnerische Arbeit. Indem er nicht mehr den Tanz aufzeichnet, wie er durch die Körper der Tänzer und in ihnen hervortritt, sondern das Tanzen, „verdoppelt“ er den Reiz: „Reglos im Herzen der Bewegung und zugleich in ihr und außer ihr“, entwirft er Abbilder einer noch nicht gewordenen Natur, imaginäre Figurationen, keine Umschriften, sondern Anmutungen, ohne jede Vorschrift, nur vereinzelte Silhouetten, die in einem Skizzenbuch „sich von Pose zu Pose entwickeln“, „wobei die Anordnung und der Abstand der Zeichnungen auf der Seite, ihre Entgegensetzung so etwas wie Rhythmus oder Elan anzeigt“, ganz so wie gelegentliche Randbemerkungen eine bestimmte Bewegungsqualität nahelegen.
Ende 1987 macht der Zeichner dem Tänzer Bertrand Lombard ein Spiralheft zum Geschenk, das unter dem Titel Mana danse de nada die Formation eines frei erfundenen und grafisch repräsentierten Tanzes enthält. Der Tänzer nimmt es als eine Art Partitur und beschließt, sie auszuführen. „Zunächst war es eine Erzählung (un conte), Bilder ohne Text (récit), Skizzen, eine Ansammlung erfundener Körper“, schrieb eine Rezensentin; eine andere erkannte stattdessen eine Abfolge von Silhouetten ohne Logik, doch untereinander verbunden „in Form von ungleichen lateralen Bezügen, Abfolgen rhythmischer Alternanzen: also alles, was es an Freiheit gegenüber einem vorgegebenen visuellen Rahmen braucht, und sei es auch nur ein Blatt Papier, um wirklich etwas beitragen zu können zu dem, was man einen ,Tanz’ nennt.“ Ein „Tanz des Nichts“ (nada), der sich schließlich „ausdehnt und in einen Körper wirft“.
So manifestiert sich der Tanz und verschwindet die Zeichnung in einer verkörperten Form, die sie zugleich denaturiert und belebt, indem sie eine Bewegung hervorbringt, die doch immer nur zu ihrer Reduktion auf einen einzelnen Strich verurteilt ist. Denn in diesem unerhörten Dialog eines Künstlers und eines Tänzers, die im Raum der Aufführung stets gegenwärtig sind und bei dem jeder der Autor des Werkes des anderen wird, kehrt der Tanz bei jeder Ausführung zur Zeichnung zurück.
Mana danse de nada ist eine grafische Erfindung, die Tanz wird, um sogleich wieder gezeichnet zu werden, wobei er im Laufe der Jahre immer neue grafische Repräsentationen hervorbringt, die sich ebenso entwickeln wie der getanzte Tanz, ohne dass Zeichnung oder Bewegung jemals die Führung über das andere innehätten; so erzählt er die Geschichte eines „aus der Zeichnung geborenen Tanzes, der immer wieder zu ihr zurückkehrt“, einer „intimen Zeremonie“, die zwangsläufig öffentlich wird, weil jener Dialog zwischen Zeichner und Tänzer bald darauf selbst als Aufführung neuer Art auftauchen wird, mit wachsendem Erfolg.
Internet: http://mediatheque.cnd.fr/spip.php?page=patrick-bossatti
Patrick Bossatti, Mana Danse de nada, Blatt 11 aus einer Serie von 12 Lithographien, 1992;
mit freundlicher Genehmigung der Mediathek des Centre national de la danse, Paris
aus dem Französischen von Franz Anton Cramer
Laurent Sebillotte (Paris) studierte Literaturwissenschaft und Informatik. Nach mehrjähriger Berufserfahrung im Finanzsektor und Verlagswesen wurde er 1999 Leiter der Mediathek des neugegründeten französischen Nationalen Tanzzentrums (Centre national de la danse) und betreut seitdem Bibliothek und Archivbestände, die fortlaufend ausgebaut werden. In engem Austausch mit dem beruflichen Umfeld entwickelt er Leitlinien der Erschließung tanzspezifischer Sammlungen und berät Compagnien bei Archivprozessen. Er ist heute Leiter des Bereichs Überlieferung, Audiovisuelle Medien und Publikationen des Centre national de la danse.