AUFZEICHNEN. TRANSFORMIEREN – Wie Wissen über vergangene Aufführungen zugänglich werden kann.

Eine medientheoretische Skizze

Barbara Büscher (Leipzig / Köln)

 

 

 

Die Tätigkeit des Aufzeichnens gehört zu den Grundlagen der wissenschaftlichen und künstlerischen Forschung. Mit den Artefakten, die aus ihr resultieren, sind wir in Vermittlung und Präsentation von Aufführungen / Performances und deren Geschichte ständig konfrontiert. Aufzeichnen ist Teil der Kulturtechniken zur Bewahrung und Aufschlüsselung von Informationen. In spezifischer Weise tangiert diese Tätigkeit die Archivprozesse der Aufführungskünste: das Aufgeführte und Erlebte wird in Aufzeichnungen medial so transformiert, dass es kommunizierbar und in neuer, beweglicher Weise zugänglich werden kann.

Fragen an medial verschiedene Verfahren des Aufzeichnens, an die daraus resultierenden Artefakte und deren Verweis- bzw. Aussagepotential in Hinblick auf vergangene Ereignisse stehen im Mittelpunkt meiner folgenden Überlegungen.

 

 

Aufzeichnen als Verfahren

Wenn wir Dokumente oder Spuren von Performances bzw. Aufführungen als mediale Transformationen verstehen, deren technisch-apparative und ästhetisch-diskursive Bedingungen reflektiert werden müssen, so verbinden sich mit der Frage nach ihrem medialen Charakter solche nach den Ver­fahren ihrer Herstellung, nach den Methoden der Transformation und nach den damit verbundenen Handlungen zu ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung. Dokumente oder Spuren von Performances sind entweder Resultate von Prozessen des Aufzeichnens – sei es in Schrift, Zeichnung, Diagramm oder audiovisueller Speicherung, analog und digital –, oder sie sind dinghafte Reste, Relikte, von deren spezifischem „Eigensinn“ [Hahn 2015] hier allerdings nicht die Rede sein soll. Aufzeichnungen können als Handlungsanweisungen, Scores, Konzepte, Sammlungen von Bildern und Tönen der Aufführung / Performance voraus gegangen sein und / oder sie können das Ereignis beobachtend und begleitend aufgenommen werden. Für die Aspekte unterschiedlich zu beschreibender Evidenzbeziehungen zwischen medial verschiedenen Formen des Aufzeichnens und den Ereignissen, auf die sie referieren, sind nicht allein die Resultate, sondern ebenso die Prozesse und Aktivitäten des Aufzeichnens aufschlussreich. Das gilt z. B. für die Aufnahmemodi von Fotografie und Film, für die Bild-Bearbeitung und Zusammenstellung / Montage ebenso wie für Überlagerung und Relationierung verschiedener Verfahren, z. B. in der Schriftbildlichkeit (Diagrammatik).

 

Im Rahmen des Forschungsprojektes Verzeichnungen interessiert mich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, in welchen Funktionszusammenhängen welches Artefakt eine spezifische Aussagekraft hinsichtlich des vergangenen Ereignisses (der Performance, der Aufführung) erhält. Eine genaue Untersuchung, wann, wozu und mit welcher Technik Aufzeichnungen erstellt und wie sie verfügbar gemacht werden, ist Voraussetzung dafür, Prozesse einer Arbeit am Archiv zu systematisieren. Gleichzeitig impliziert sie eine methodische Reflexion, die den Anschluss an den Diskurs der Wissenschaftstheorie und -geschichte versucht, wie er in den letzten Jahren etwa anhand der Schriften Bruno Latours [z. B. Latour 1990] und Hans-Jörg Rheinbergers [Rheinberger 2001; Rheinberger 2005] initiiert worden ist. Studien zu den „Experimentalsystemen“ der Naturwissenschaften haben die Bedeutung der Aufzeichnungsapparate und -techniken für die Wissensproduktion herausgearbeitet und gezeigt, wie sie an Ergebnissen und Erkenntnissen ‚mit’schreiben.

„Wissen im Entwurf“, ein Forschungs- und Veröffentlichungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, hat die Frage nach den konstitutiven Bedingungen von Wissensgenerierung ins Zentrum gestellt und dabei durch verschieden thematisch fokussierte Beiträge der publizierten Bände die Verbindung zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Aufzeichnungspraktiken hergestellt. Aufzeichnen wird in diesem Projekt als Verfahren des Beschreibens, Protokollierens, Sammelns, Sichtens und An-Ordnens von Beobachtungen, Gedanken etc. im Medium der Schrift und der Zeichnung verstanden.

„Zeichnen und Schreiben, so kann man sagen, bilden die Basis für eine Zahl von Vorgehensweisen, deren Potential von keinen besonderen Wissenschafts- und Wissenstypen abhängig ist. Überall findet sich das ganze Repertoire der ’kleinen Werkzeuge des Wissens’.“ [Hoffmann, 8]

Christoph Hoffmann hat in der Einleitung zum ersten Band den hier von mir ebenso verwendeten Begriff des „Verfahrens“ erläutert und ihn deutlich an den Vorgang der Ausführung gekoppelt, also den Prozess, und gleichberechtigt neben das Resultat gestellt [Hoffmann, 15].

Die veröffentlichten Ergebnisse dieses Projekts können als Basis für die hier vorgestellten Überlegungen gelten:

„Im Schreiben und Zeichnen werden nicht nur Wissensbestände bewahrt und übermittelt. Es ergeben sich zugleich spezifische Möglichkeiten, Erfahrungen und Überlegungen neu zu ordnen. Schreiben und Zeichnen müssen auch als epistemische Verfahren verstanden werden, die im Akt der Aufzeichnung an der Entfaltung von Gegenständen des Wissens teilhaben.“ [Hoffmann, S.8]

Diese Tätigkeiten bzw. Prozesse umfassen eine Konfiguration von gestischen, medialen und konzeptuellen Elementen, ähnlich wie sie Rüdiger Campe (1991) oder Martin Stingelin (2004) als „Schreibszene“ beleuchtet haben. Vergleichbare Konfigurationen lassen sich auch für andere mediale Prozesse wie das Fotografieren, Filmen, Videografieren beschreiben.

Vom Aufzeichnen in verschiedenen medialen Konstellationen handelte die dritte Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft (2010) und formulierte Fragen, die sich ohne weiteres in unseren Gegenstandsbereich – den der Archivprozesse der Aufführungskünste – verlängern lassen:

„Dies provoziert nicht zuletzt Fragen danach, was sich wie eigentlich aufzeichnet. Was genau passiert im Prozess des Aufzeichnens? Inwieweit ist er kontrollierbar? Welche Verfahren, Gesten und Rhetoriken des Aufzeichnens bestimmen das Feld des Medialen? (…) Und inwieweit hängt die Wertschätzung eines Mediums von seinem Vermögen ab, etwas aufzeichnen zu können?

Gleichzeitig sind an das Aufzeichnen enorme Versprechen gekoppelt: auf einen Zugang zur Wirklichkeit, auf eine neue Sicht der Welt, auf Möglichkeiten, dem Vergessen zu entgehen.“ [Einleitung, 10]

 

Aufnahmemodi: Apparat-Operator-Komplex

Wenn wir also die Artefakte unseres (bisher nur) gedachten Archivs der Aufführungskünste als Resultate von Prozessen des Aufzeichnens verstehen, an dem sowohl technisch-apparative wie ästhetisch-diskursive Elemente einer jeweiligen historischen Konstellation mitschreiben, so müssen wir genau diese Bedingungen in Relation zum Artefakt, dem Aufgezeichneten, das uns als Ergebnis zunächst im Archiv vorliegt, mit'lesen'.

Zur Charakterisierung dieser Konstellationen scheint es mir hilfreich, den Begriff „Apparat-Operator-Komplex“ (Vilém Flusser) auf seine Brauchbarkeit zu untersuchen. Flusser hat den Begriff im Kontext seiner „Kommunikologie“ eingeführt, und er ist vergleichbar dem, was er an anderer Stelle als „Gesten“ [Flusser 1993] verschiedener, apparativ fundierter Bewegungen bzw. Tätigkeiten beschrieben hat. Das (analoge) Fotografieren dient ihm dabei als Modell:

„Die Funktion des Apparats und die des Operators sind miteinander verschmolzen. Es ist also ebenso zugleich richtig wie unrichtig zu sagen, der Fotograf sehe im Apparat ein Werkzeug, um sich ein Bild von seinem Begriff (seinem Standpunkt) zu machen, wie es zugleich richtig und unrichtig ist zu sagen, er sehe sich selbst beim Bildermachen als eine der Funktionen des Apparates, als eine Art Selbstauslöser.“ [Flusser 1998, 151]

Der „Apparat-Operator-Komplex“ umfasst die technisch-apparativen Bedingungen sowie die (daran gekoppelten) gestalterischen Entscheidungen der Fotograf_innen oder Filmer_innen, die z. B. an den spezifischen Stil einer Zeit anschließen [siehe dazu: Maude-Roxby 2007], eine Auffassung über das Dokumentarische implizieren u. ä.

„Das Verhältnis zwischen dem Fotografen und dem Apparat wird bei der Betrachtung der Geste des Suchens nach einem Standpunkt sichtbar. Man kann es das Verhältnis des funktionellen Entscheidens nennen. (…)

Bei seiner Suche nach einem Standpunkt bewegt der Fotograf den Apparat in Funktion seines Suchens, aber er sucht in Funktion des Mechanismus des Apparates. Er benutzt den Apparat beim Treffen seiner Entscheidungen, aber er trifft diese Entscheidungen im Hinblick auf den Apparat. Er bewegt sich also nicht etwa mit dem Apparat oder gegen ihn (…), sondern er befindet sich in einer komplexen Bewegung, in der es sinnlos wäre, zwischen ihm und dem Apparat zu unterscheiden. Die bei dieser Bewegung getroffenen Entscheidungen sind weder ‚menschlich’ noch ‚mechanisch’, sondern Entscheidungen des Komplexes Apparat-Operator.“ [Flusser 1998, 184/185]

 

Dass Flusser diesen Zusammenhang zwischen Apparat und Operator im Aufnahmemodus als eine Bewegung beschreibt, trifft sich mit der Überlegung, die Bewegungen vor der Kamera mit den Bewegungen hinter und mit der Kamera ins Verhältnis zu setzen, und dies als einen wesentlichen Aspekt des Aufnahmemodus zu verstehen. Anhand der Aussagen von für die frühe Performancegeschichte wichtigen Fotograf_innen wie Peter Moore und Babette Mangolte habe ich dieses Verhältnis in einem früheren Text thematisiert [Büscher 2009]. Dabei hat mich auch der Aspekt interessiert, ob man die Schnelligkeit des Auslösens und die intuitive Reaktion einer Fotografin / Kamerafrau als Variante eines simulierten Automatismus der Aufnahme verstehen könnte.

Eine solche Fragestellung ließe sich sinnvollerweise in Überlegungen zu den historischen Verfahren automatisierter Aufzeichnung einbetten, wie sie z. B. in der Chronophotographie eines Marey und Muybridge praktiziert wurden; oder sie ließe sich zu den neueren Methoden des Motion Capturing hin verlängern [Gunning 2006]. Das wiederum verweist auf die neuartigen, digital basierten Verfahren der Aufnahme, die nun Bildakquise heißt [Rothöhler 2013] und sich zwischen lens-captured und computer-generated hin und her bewegen kann, oder: an der nahtlosen Verschmelzung beider Modi interessiert ist [Rothöhler 2013, 40-49]. Die Veränderung der Flusserschen „Geste des Fotografierens“ durch Digitalisierung, z. B. in Hinblick auf das Verhältnis von Apparat / Programm, Operator und der notwendigen (Körper)Bewegung oder in Hinblick auf das Verhältnis von Aufnahmemodi und erweiterten Möglichkeiten der Nachbearbeitung, wäre zu konkretisieren.

Der Aufnahmemodus ist nur eine von verschiedenen Konfigurationen und konzeptionell zu verstehenden Transformationsschritten, die man beim Lesen der Archiv-Artefakte in Rechnung zu stellen hat; ebenso müssen Prozeduren von analogem und digitalem Bearbeiten der Aufnahmen, von Montage / Schnitt und referentielle Anordnung sowie deren je historische, technische und gestalterische Standards beachtet werden.

Aus der digitalen Bildproduktion ergeben sich gerade in Hinblick auf das Verhältnis von Objekt / Ereignis und Computergraphik / Datensatz / Bild neue und andere Fragestellungen, die in zentraler Weise die Evidenz-Bildung von Aufzeichnungen – sofern sie als Dokumentation von vergangenen Ereignissen gelten sollen – tangieren. So wie es z. B. Martina Heßler für die Visualisierungen der Wissenschaften formulierte:

„Die These wäre also, dass die Frage nach der Referenz von digitalen Wissenschaftsbildern hoch kompliziert ist, dass weder die simple Aussage eines Referenzverlustes, des Verlustes des Indexikalischen, noch umgekehrt die Behauptung eines indexikalischen Status tragfähig ist. Eine klare Trennung von indexikalischem und fiktionalem Bild lässt sich nicht so leicht ziehen; auf einer allgemeinen Ebene ist die Frage nach diesem Verhältnis unentscheidbar.“ [Heßler 2006, Abschnitt 20]

Stattdessen eröffnen die digitalen Bilder – also die Datensätze, die als Bilder dargestellt werden – durch die Möglichkeit der unterschiedlichen Operabilität, wie sie Birgit Schneider im Folgenden beschreibt – ein neues Verständnis von „beweglichem Zugang“, indem diese „Unterseite“ der Bilder [Manovich 2001] zu anderen Formen der Oberflächendarstellung genutzt werden kann.

„Digitale Bilder leisten grundsätzlich Verschiedenes: Sie bilden Sichtbares ab oder machen Unsichtbares sichtbar; sie visualisieren Datensätze, dynamische Prozesse und Datenstrukturen, simulieren Physiken, kartieren Messdaten, tabellieren, verrechnen, werten statistisch aus. Im einen Fall nehmen sie die Werkzeugpalette der Malerei in sich auf, im nächsten die Optik der Fotografie oder die optische Physik der Refraktion und in einem anderen das gesamte Arbeitsfeld des Diagramms und der Modellierung. Sie begegnen uns als Computergrafik, Simulation, Datenvisualisierung und Bildgenerierung.“ [Schneider 2009, 194]

 

Medial verschiedene Aufzeichnungsformen – unterschiedliche Referenzqualitäten

Einerseits haben wir als Resultat aus den Fallstudien unseres Projektes festgestellt, dass die Anordnung möglichst vieler medial verschiedener Artefakte zu einem vergangenen Ereignis / Aufführung die notwendige Bedingung sein sollte, um einen beweglichen Zugang zur Geschichte von Performance / Aufführungen zu gewährleisten – sowohl was ein virtuelles Archiv als Basis für Forschung angeht wie auch in Vermittlungsformaten wie z. B. Ausstellungen.

Andererseits können wir, kann man immer wieder feststellen, dass die Aufzeichnung in bewegten Bildern (Film / Video) als die Form der medialen Transformation angesehen wird, der die größtmögliche dokumentarische Aussagekraft zugetraut wird. Konkret: wenn wir über vergangene Aufführungen sprechen, ziehen wir Filmausschnitte heran und sprechen mit ihnen und über sie so, als sei das medial Konstruierte transparent. Dafür gibt es pragmatische Gründe, auch wenn sie letztlich nicht mit den medienanalytischen Betrachtungen übereinstimmen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der in der alltäglichen Praxis des Vermittelns Filme / bewegte Bilder aufgrund ihrer Nähe zur zeitlichen Ausdehnung der Ereignisse als Dokumente gelesen werden, möchte ich mit den folgenden Überlegungen überschreiten und kontextualisieren. Den verschiedenen medialen Formen des Aufzeichnens unterschiedliche Referenzqualitäten zuzuordnen, möchte ich als einen Versuch und Anfangspunkt für weitere Untersuchungen verstehen, als erste Skizze eines Forschungsprogramms:

 

1.

Bewegte Bilder, Fotografien sollen in Hinblick auf ihre Oberflächenreferenz beschrieben werden. Sowohl in Filmtheorien (Bazin, Kracauer) wie in Theorien zur Fotografie spielt der Aspekt eines spezifischen Verhältnisses zwischen Bild und Objekt eine Rolle. Aufzeichnen ist dann zu verstehen als Bewahren der Oberfläche von Erscheinungen, als Verschränkung von Ikonischem (Wahrnehmungsähnlichkeit) und Indexikalischem (Imprint, Spuren des Dagewesenen) in Anknüpfung an Charles S. Peirce. Der Diskurs um das Dokumentarische – sei es in Fotografie oder Film – dockt hier an und versucht diesen Referenzen auf die Spur zu kommen. Die weitere Differenzierung müsste die Unterschiede zwischen Pose und Schnitt in der Zeit [Deleuze 1996, 16-17] in Hinblick auf die Fotografie; (Dis)Kontinuitäten und Zwischenräume in Hinblick auf die Bewegung der Bilder in der Zeit; Repräsentation von Raum (2D und 3D) und Schärfentiefe; Anmutungsqualitäten und Geschichte der Verwendung von Schwarz-Weiß und Farbe (Wagner / Lethen) sowie Projektions- und Präsentationskontexte [screen dynamics, siehe Koch 2012; Rothöhler 2013] umfassen und so die Lesbarkeit dieser Artefakte in den jeweiligen Fachdiskurs einstellen und damit konfrontieren.

Anknüpfend an die oben erwähnten Differenzen und neuartigen Konfigurationen wäre in Hinblick auf Oberflächenreferenz zu bedenken, dass digitale Bilder selbst die Oberfläche einer Datenkonstellation sind, die als Unterfläche den eigentlichen Prozess steuert [Schneider 2009, 196/197 mit Verweis auf Manovich 2001].

 

2.

An Notationen, Scores, Diagrammen, Modellzeichnungen und ähnlichen Formen des Diagrammatischen interessiert mich vor allem deren Strukturreferenz, d. h. die Möglichkeit, Relationen innerhalb einer Aufführung / eines Ereignisses auf einer abstrahierenderen Ebene über graphische Modellierungen sichtbar zu machen.

„Schriften, Diagramme und Karten stellen nicht nur etwas dar, sondern eröffnen Räume, um das Dargestellte auch zu handhaben, zu beobachten und zu explorieren. (…) Stets dient die Zwischenwelt des Diagrammatischen sowohl dazu, zur Anschauung zu bringen, was anders nicht sichtbar werden kann, wie auch dazu, als Werkzeug und Reflexionsinstrument zu dienen.“ [Krämer 2010, 39/40]

Die Spezifität des Diagrammatischen zur Strukturbildlichkeit – wie es u. a. Sybille Krämer [Krämer 2005, 2010] genannt hat – interessiert mich vor allem in seiner Operativität, nicht nur als Veranschaulichung von etwas anderweitig bereits Aufgezeichnetem, sondern als eine Form genuiner Erkenntnisleistung und als „Anleitung zu einer bestimmten, nämlich experimentellen Form des Handelns“ [Wentz 2013 [unveröff.], 24].

Formen des Diagrammatischen wie Notationen oder Partituren, aber auch Grundrisse und Lichtpläne, können dabei sowohl Handlungsanweisung für die Realisierung von Aufführungen sein, Entwürfe für eine spezifische Realisierung oder eben Aufzeichnungen im Vollzug der Aufführung. Interessant und virulent werden diese Formen des Aufzeichnens für den gesamten Bereich der Aufführungskünste insbesondere dort, wo keine vorrangig narrative Strukturlogik zu identifizieren ist. Sie sind Abstraktionen von Materialität und sinnlicher Anschauung und legen insofern Strukturen frei, die das an der Oberfläche Sichtbare ebenso wie das unmittelbare Erleben hintergehen.

Der Begriff des Diagrammatischen könnte und sollte stärker als bisher für unser Themenfeld produktiv gemacht werden, z. B. indem man die beiden Projekte der Forsythe Company, Synchronous Objects und Motion Bank, in diesem Kontext auf ihren Erkenntnisgewinn untersucht.

 

3.

Was neben Erinnerungsprotokollen und offenen Interviews, geschriebenen und gesprochenen Erzählungen – also Formen der oral oder narrative history – Aufzeichnungsformen sein könnten, die meinen dritten Referenzaspekt, den des Atmosphärischen oder des situativen Erlebens betrifft, ist noch relativ undeutlich. Die Untersuchung und Beschreibung von Atmosphären, verstanden als affektives Eingebundensein in einen Raum und eine Situation, als Betonung des sinnlichen und leiblichen Wahrnehmens, ist ein wichtiger Gesichtspunkt in der Beschreibung jeder Kunsterfahrung und wäre – in ihrer jeweiligen historisch und kulturell unterschiedenen Kontextualisierung – notwendiger Bestandteil des aufbewahrenden Aufzeichnens.

„Die sich räumlich ausbreitenden Atmosphären einer Aufführung können als Zeichen Bestandteil eines theatralen Codes sein, allerdings sind sie zuallererst ein spürbares Phänomen, eine leiblich-affektive Anmutung des Dargebotenen.“ [Schouten 2007, 110].

Auch wenn das Herstellen von Atmosphären ein Aspekt jeder theatralen Inszenierung ist, tritt doch in den Aufführungsformen, die versuchen, eine narrative Logik zu unterlaufen oder zu verweigern, besonders deutlich hervor, wie sehr sie konstitutiv für das situative Erleben und Wahrnehmen sein können. Dabei rückt deutlich das Gesamte der Situation – des Raumes z. B. oder der Kommunzierenden – in den Fokus. Etwas, das im Aufzeichnen durch Fotografie und Film ebenso wie in den klassischen Formen des Diagrammatischen zumeist außer Acht gelassen wird, indem sie sich auf das Aufgeführte / Präsentierte (als Werk) konzentrieren. Vielleicht sollte für die Aufzeichnung von Atmosphären das Akustische eine wesentliche Rolle spielen, wie ein Beispiel, das Gernot Böhme ausbreitet, zeigt: für die Beschreibung der Atmosphäre einer Frankfurter Shopping Mall ließ er Sound-Bilder erstellen [Böhme 2012].

 

Diese drei Bereiche seien beispielhaft genannt, weitere Arten von Aufzeichnungen müssten ergänzt werden, ebenso wie Überlegungen und Untersuchungen zu Dingen, die als Reste und Relikte in wiederum anderer Weise auf vergangene Aufführungen / Performances verweisen. Aussagen über vergangene Ereignisse lassen sich nur auf der Basis der Komplementarität dieser vielfältigen Verfahren der Transformation machen; die Re/Kombination deren unterschiedlicher Resultate erst ermöglicht den „beweglichen Zugang“ zu den Ereignissen.

To be continued.

 

 

Literatur

Bazin, André. Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling (Hg.). Köln 1975.
Böhme, Gernot. „Flanieren in der Shoppingmall: Das Nord-West-Zentrum in Frankfurt“. In: Atmosphären: Dimensionen eines diffusen Phänomens. Christiane Heibach (Hg.). Paderborn 2012: 249-260.
Campe, Rüdiger. „Die Schreibszene. Schreiben“. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.). Frankfurt/M. 1991: 759-772.
Deleuze, Gilles. Das Bewegungsbild: Kino 1. Frankfurt/Main 1996.
Flusser, Vilém. Kommunikologie. Stefan Bollmann und Edith Flusser (Hg.). Frankfurt / Main 1998.
Hahn, Hans Peter (Hg.). Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive Auf die Welt des Materiellen. Berlin 2015.
Heßler, Martina: „Von der doppelten Unsichtbarkeit digitaler Bilder“. In: Zeitenblicke Nr. 3, 2006, www.zeitenblicke.de/2006/3/Hessler/index_html, zuletzt aufgerufen 29.9.2015
Hoffmann, Christoph (Hg.). Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung. Zürich / Berlin 2008.
Hoffmann, Christoph. „Festhalten. Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung“. In: Hoffmann 2008: 7-20.
Koch, Gertrud (Hg.). Screen Dynamics: Mapping the Borders of Cinema. Wien 2012.
Kracauer, Siegfried. Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1964.
Krämer, Sybille. „Operationsraum Schrift“. In: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. Gernot Grube / Werner Kogge / Sybille Krämer (Hg.). Paderborn / München 2005: 23-60.
Krämer, Sybille. „Notationen, Schemata und Diagramme: über 'Räumlichkeit' als Darstellungsprinzip. Sechs kommentierte Thesen“. In: Notationen und choreographisches Denken. Gabriele Brandstetter u.a. (Hg.). Freiburg 2010: 29-45.
Krauthausen, Karin und Omar W. Nasim (Hg.). Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs. Zürich / Berlin 2010.
Latour, Bruno. „Drawing things together“. In: Representation in Scientific Practice. Michael Lynch, Steve Wolgar (Hg.). Cambridge/Mass, London 1990: 19-68.
Manovich, Lev. Language of New Media. Cambridge/Mass. 2001.
Maude-Roxby, Alice (Hg.). Live Art on Camera. Southampton 2007.
Rheinberger, Hans-Jörg. Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001.
Rheinberger, Hans-Jörg. Epistemologie des Konkreten. Frankfurt/Main 2005.
Rothöhler, Simon. High Definition. Digitale Filmästhetik. Berlin 2013.
Schneider, Birgit. „Wissenschaftsbilder zwischen digitaler Transformation und Manipulation. Einige Anmerkungen zur Diskussion des ‚digitalen Bildes‘“. In: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.). Bielefeld 2009: 188-200.
Schouten, Sabine. Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater. Berlin 2007.
Stingelin, Martin. „Schreiben“. In: Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Ders. (Hg.).München 2004: 7-21.
Vorhoeve, Jutta (Hg.). Welten schaffen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Konstruktion. Zürich / Berlin 2011.
Wagner, Monika und Helmuth Lethen (Hg.). Schwarz-Weiß als Evidenz. „With black and white you can keep more of a distance. Frankfurt/Main/New York 2015.
Wentz, Daniela. Bilderfolgen. Diagrammatologie der Fernsehserie. Diss. Weimar 2013 (unveröff.).
Wittmann, Barbara (Hg.). Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung. Zürich / Berlin 2009.

 

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