(Auf-)Zeichnung von Bewegung

Elisabeth Heymer (Berlin)

 

 

 

I.

Zeichnung wird häufig als ein Medium verstanden mithilfe dessen man seine Idee direkt auf das Papier bringen kann. Diese vermeintliche Unmittelbarkeit von Zeichnung hat historisch zu der Vorstellung geführt, Zeichnung sei besonders eng mit dem Denken verknüpft bzw. bilde eine direkte Projektion der Ideen des Künstlers. Gleichzeitig steht die Zeichnung auch mit der Mimesis[1], der Nachahmung der Natur in enger Verbindung: Die Darstellung des menschlichen Körpers ist über Jahrhunderte ein bevorzugtes Thema der Zeichnung. Die Zeichnung dient dem Studium des Naturvorbilds und zur Verbesserung der Kenntnisse von Anatomie und Proportionen. Diese Charakteristika der Zeichnung, sowohl ihre mimetische Funktion als auch die unmittelbare Sichtbarmachung von gedanklichen Prozessen sollen im Folgenden in ihrer Beziehung zu Performance Art betrachtet werden.

Für die Performance Art können Zeichnungen einen dokumentarischen Charakter annehmen, darüber hinaus aber auch Teil der Performance selbst werden. Sie kommen beispielsweise als Entwurf für die Performance zum Einsatz, wobei ihr Status als Kunst in diesem Sinne sogar von den Künstlern selbst erst allmählich reflektiert wird [vgl. Etchells 2014: 78-81]. Zeichnungen können, wie jene für die One Minute Sculptures von Erwin Wurm, als Instruktion für den Betrachter dienen, selbst aktiv zu werden, um das Kunstwerk erst entstehen zu lassen. Zeichnungen, die vor Publikum oder für die Aufzeichnung einer Kamera entstehen, verdeutlichen noch stärker die performative Dimension von Zeichnung.

In den für die vorliegende Betrachtung ausgewählten Beispielen [Swi:t] Home: One Year of my Life von Elena del Rivero sowie Va Heng Noodle Family von Morgan O’Hara geht es nicht um die vorbereitende Rolle der Aufzeichnung des künstlerischen Prozesses, sondern dieser selbst ist wesentlich das Kunstwerk. Wie gezeigt werden wird, verdeutlichen beide Arbeiten auf unterschiedliche Weise zeitliche Vorgänge und machen sie auf ihre spezifische Art und Weise für den Betrachter erst sichtbar.

 

 

II.

Leon Battista Alberti (1404-1472), einer der wichtigsten Kunsttheoretiker der Renaissance, nennt in seinem grundlegendem Werk Della Pittura die Zeichnung den „Vater“ der anderen Künste Malerei, Skulptur und Architektur. Dies deutet einerseits auf die grundlegende Funktion hin, welche die Zeichnung für die anderen Künste einnimmt, macht aber indirekt deutlich, dass ihr weniger eine eigenständige, autonome Bedeutung als Kunstwerk zustand [Alberti 2000: 98]. Die Zeichnung diente als erste Annäherung an das Thema, als Skizze für eine Komposition, die später in einem anderen Medium vollständig ausgeführt werden sollte.

Auch in der künstlerischen Ausbildung war die Zeichnung eine notwendige Grundlage. In den Akademien war es von der Renaissance bis zum Ende des 19. Jahrhunderts üblich, sich zunächst im Abzeichnen von antiken Plastiken und in Aktstudien zu üben. Zu Beginn waren die angehenden Künstler auf das Kopieren von Vorbildern beschränkt, bevor sie eigene Ideen frei umsetzen durften. Durch diese jahrelangen Übungen sollte die Hand dem Geist gehorchen.[2] Ähnliches lässt sich auch für die Geschichte der Ausbildung im Tanz konstatieren. Im klassischen Ballett muss der Körper erst in jahrelangen, immer gleichen Übungen diszipliniert und geformt werden. Beide Ausbildungen verfolgen das Ziel, den Körper mit Exaktheit nach dem eigenen Willen bewegen zu können und absolute Kontrolle über ihn zu erlangen.

Die Verbindung zwischen Geist und Hand wurde in der Zeichnung manifest. Vasari prägte hier den Begriff des disegno, der nicht nur Zeichnung an sich meint, sondern auch die Idee, die der Künstler verfolgt und in Zeichnung ausdrückt. Er rückt damit von einer reinen Naturnachahmung ab und gesteht dem Künstler einen schöpferischen Sinn zu. Daraus entwickelte der manieristische Kunsttheoretiker Federico Zuccari (1542-1609) die Begriffe des disegno interno und disegno esterno [vgl. Zuccari 1607]. Während disegno esterno die sichtbaren Linien meint, die man traditionell als Zeichnung versteht, ist der disegno interno das innere Bild bzw. die Vorstellung des Künstlers, aus denen er die sichtbare Zeichnung erst schaffen kann. Auch der Tanz ist lange als eine Möglichkeit für den Tänzer verstanden worden, sein Inneres auszudrücken.[3]

Während die Zeichnung bis ins 19. Jahrhundert somit eine untergeordnete Funktion einnahm, hat sie in der Gegenwart Konjunktur. Die Zeichnung als eine prozesshafte Kunstform und ihr performatives Potential wurde in einigen Ausstellungen der letzten Jahre reflektiert.[4] Eine unmittelbare Verbindung zwischen Zeichnung und Tanz bzw. Performance der Gegenwart zeigte 2011 die Ausstellung dance/draw im Institute of Contemporary Art Boston und ein Sonderheft des Journal of Performance and Art 2014.[5] Zuletzt wurde die Bedeutung von Zeichnung in der Arbeit der Pionierinnen des postmodernen Tanzes der sechziger Jahre, Trisha Brown und Simone Forti, in Solo-Ausstellungen neu bewertet.[6]

Trisha Brown hat Zeichnung vielfältig in ihren Arbeiten eingesetzt, sowohl in der Planung einer Performance als auch während Performances selbst. Sie zeichnet ihre eigenen Körperteile und die Bewegungen ihres Körpers. Dies geschieht so unmittelbar, dass sie, um Bewegungen der Füße zu zeigen, auch mit eben jenen zeichnet. Dies schließt Virtuosität, wie sie das klassische Verständnis der Zeichnung vorsieht, beinahe aus; die Linien zittern. Zugleich lässt es aber zu, die Bewegung des eigenen Körpers direkt aufzuzeichnen: Die Bewegung des Fußes wird von eben jenem auf das Papier gebracht. Die Idee der Unmittelbarkeit wird hier insofern konsequent weiter gedacht:

„The dance is the current of line that courses over paper and along the muscles and tendons and bones of the body that the dancer draws inside herself. There is no distinguishing the dance from the drawing. The drawing dances the dancer. The dancer draws the drawing.“ [Lord 2011: 20]

 

Trisha Brown zeichnet vor Publikum während der Performance. Das als intim, der Sphäre des Studios zugerechnete Medium der Zeichnung wird hier vor die Augen des Betrachters gestellt.

 

Video Trisha Brown Drawing/Performance, Walker Art Center 2013,
https://www.youtube.com/watch?v=U7DQVW6qRq8 (18.4.2015)

 

 

Während Morgan O’Hara zwar wie Trisha Brown während der Performance zeichnet, dabei sich jedoch nicht auf die Bewegungen des eigenen Körpers konzentriert, produziert Elena del Riveros Arbeit zwar Spuren des eigenen Körpers, sie werden jedoch erst über einen langen Zeitraum sichtbar. Jenseits einer rein mimetischen Darstellung von Bewegung suchen beide Künstlerinnen nach Wegen, die Zeichnung zur Darstellung von Bewegung zu nutzen.

 

 

III. Elena del Rivero

Elena del Riveros Arbeit [Swi:t] Home: One Year of my Life (2001) entstand über einen Zeitraum von einem Jahr. Die Künstlerin hatte den Boden ihres Appartements, das gleichzeitig ihr Studio beherbergt, mit handgeschöpften, 152 × 102 cm großen Papierbögen ausgelegt, die auf dem Boden befestigt wurden. Die handgemachten Papierbögen aus einem fast stoffähnlichen Papier waren in der Dieu Donné Papermill in New York entstanden. Während des Jahres ordnete del Rivero die Blätter nach einem festgelegten Rotationsschema neu an, sodass sie nach und nach das Studio und die Wohnung durchliefen.

 

 

http://www.the-paraclete.com/gallery/works-on-papers/swit-home/1_2_entrance_web

 

So konnten sich die Spuren des täglichen Lebens auf den Papierbögen abzeichnen. In Zusammenarbeit mit der Dieu Donné Papermill wurden die Beschädigungen, welche das Material erlitten hatte, aufwendig ausgebessert. Dann wurden die einzelnen Papierbögen zu fünf großen Papierarbeiten zusammengefügt, denen die Künstlerin den Namen Dishcloth gab. Tatsächlich sehen die Arbeiten wie überdimensionierte Stoffstücke aus, denen die Künstlerin blaue und rote Streifen an den Rändern aufstickte, um handelsübliche Geschirrtücher nachzuahmen. Auch die Installation der Arbeiten im Drawing Center in New York 2001 greift die Idee des Handtuchs auf. Die Arbeiten wurden nur an einer Ecke fixiert und aufgehängt, sodass das Papier in Falten, ganz wie ein Stoffhandtuch, herab fällt.

 

 

http://www.the-paraclete.com/gallery/works-on-papers/swit-home/6_1_drawingcentre_swithome_5_dishcloths_web

 

 

Die Materialität des Papiers und seine skulpturale Qualität, seine gewebeartige Struktur und seine Schwere werden dadurch hervorgehoben. Die Beschaffenheit ist pergamentartig. Das Material erinnert an die organische Struktur von Haut. Folgt man dieser Analogie, so werden die hinterlassenen Spuren zu Narben, Verletzungen, die behutsam ausgebessert werden.[7] Der Kreislauf aus Zerstörung und Ausbesserung des Materials verweist auf den Prozess der Papierherstellung selbst:

„Destructive treatments to the paper, deliberately imposed by the artist or not, and the steps taken to nurture the material back to a state of equilibrium, have in fact become the ‘image’.“ [Takahashi 2006]

 

Del Rivero lotet mit dieser Arbeit die Grenzen der Zeichnung aus. Eine Zeichnung als Ergebnis des ‚Stift in der Hand’ ist hier nicht zu finden. Stattdessen wird der Fokus auf das Papier, die Oberfläche, gelenkt, die so von Spuren gezeichnet ist. Das Material rückt in die Nähe von Haut, auf der keine eindeutigen Linien zu erkennen sind, die bewusst mit einem Stift gezogen wurden. Stattdessen bleiben auf dem Papier Spuren zurück, die die Künstlerin mit ihrem Körper hinterlassen hat, Fußspuren ebenso wie verschütteter Tee. Das Papier zeigt ein Jahr des Lebens der Künstlerin. Der Titel [Swi:t] Home: One Year of my Life bildet einen ironisch lesbaren Kommentar auf die Verheißung des Heimes als Privatheit und Quelle höchsten Glücks. Die phonetische Schreibweise erlaubt sowohl die Assoziation an „sweet“ wie auch „suite“, welches das private Heim als luxuriösen Rückzugsort stilisiert.[8] Diese Spuren der Privatheit werden nun ausgestellt. Teil der Installation waren außerdem ein Grundriss des Apartments mit Einzeichnung der Positionen der Blätter und eine weitere skulpturale Arbeit mit dem Titel Nest, das aus den Resten der Papierblätter geformt ist und ein überdimensioniertes Vogelnest darstellt. Auch diese Aspekte geben in Form von Spuren einen Einblick in den privaten Lebensraum der Künstlerin, ihr Heim. Die Spuren bleiben jedoch unvollständig. Sie sind nur zart auf dem Papier zu erkennen. Der Betrachter kann zwar Spuren des Lebens der Künstlerin sehen, aber es lassen sich daraus ganz unterschiedliche Schlüsse ziehen. Eher als dass man tatsächlich etwas über das Privatleben der Künstlerin aus den Spuren erfährt, laden die Werke den Betrachter zur Imagination möglicher Ereignisse ein, auf welche die Spuren verweisen könnten. Die Arbeiten sind nicht eindeutig „lesbar“.

Die Frage der Mimesis wird hier verkompliziert. Zwar zeichnet del Rivero nicht nach der Natur, aber mit dem fertigen Dishcloth ahmt sie einen Alltagsgegenstand nach, dem man normalerweise keine Beachtung schenkt, sondern nur als Mittel nutzt, um Schmutz zu entfernen, um die Spuren des Alltags, die man hinterlässt, zu beseitigen. Die Naturnachahmung, lange als eine zentrale Aufgabe der Zeichnung verstanden, dehnt del Rivero aus und schafft eine Nachahmung, bei der realer Schmutz und Ablagerungen von sechs Monaten auf Papiergrund verdichtet werden. Die Spuren sind in gewisser Weise sogar a-mimetisch, da sie direkter Abdruck eines wirklich Dagewesenen sind. Hier kann man einen Bezug zur Fotografie herstellen, die schon zu Beginn ihrer Entstehung als Abdruck theoretisiert wurde.[9] William Fox Talbot, der als Erster ein Buch mit eingefügten Fotografien herausgab, schreibt der Fotografie einen hohen Gehalt an Realismus zu und nennt sein Werk Pencil of Nature. Nicht der Mensch mit seiner Hand, sondern die Natur selbst habe die Fotografien gezeichnet.

Del Riveros Arbeit knüpft an diese Theorien des Abdrucks an. Vergleichbar mit den Langzeitbelichtungen, die in der Frühzeit der Fotografie notwendig waren, um überhaupt etwas sichtbar werden zu lassen, lässt del Rivero die Blätter über einen langen Zeitraum liegen, sodass sich die Spuren überlagern und stärker sichtbar werden. Erst über diesen langen Zeitraum und die Überlagerungen können verschiedene Stellen, die stärker genutzt wurden, hervor treten. In einem einzigen Werk können die Spuren eines halben Jahres zusammen sichtbar werden. In gewisser Weise übersteigt die Arbeit del Riveros die Mimesis und zeigt stattdessen wirkliche Spuren des Es-ist-so-gewesen[10], die durch ihre Überlagerung jedoch unlesbar werden.

 

 

IV. Morgan O’Hara

Morgan O’Haras Arbeit Live Transmission Macau – Morgan O’Hara and Va Heng Noodle Family aus dem Jahr 2010 ist Teil einer Serie, an der die Künstlerin seit 1989 arbeitet.

 

https://www.youtube.com/watch?v=JZmhmxdz-vw

 

Dabei erstellt sie Zeichnungen mit dem Bleistift, indem sie die Bewegungen von Menschen bei ihrer alltäglichen Beschäftigung nachzeichnet. Meist benutzt die Künstlerin beide Hände und zeichnet simultan mit der rechten und linken Hand. Zum Teil arbeitet sie sogar mit mehreren Stiften in einer Hand. Je nachdem, wie das Modell, nach dem O’Hara arbeitet, seine Hände einsetzt, entscheidet sich, wie viele Stifte sie gebraucht. So benutzt sie mehrere Stifte bei der Aufzeichnung eines Cellospielers, um die unterschiedlichen Bewegungen der einzelnen Finger am Instrument wiedergeben zu können.[11]

Die Arbeit, sowohl die der Künstlerin als auch die Arbeit der chinesischen Nudelmacherfamilie, wird durch ein Video dokumentiert. Bei der hier betrachteten Arbeit handelt es sich um ein fünfminütiges Video, das einen Arbeitsprozess mit seinen verschiedenen Schritten zeigt. Über den Großteil des Videos sind die aus dem Titel als Familie Va Heng identifizierbaren Personen bei der Verarbeitung von Teig zu Nudeln zu sehen; über das Kneten des Teiges zum Ausrollen und das Schneiden in Nudelform durch eine Maschine bis zur Portionierung. Die komplizierten Arbeitsschritte sind chronologisch hintereinander geschnitten, wobei der Bildausschnitt vor allem auf die Arbeit der Protagonisten mit den Händen fokussiert ist; selten sind die Personen im Ganzen zu sehen. Erst in der zweiten Hälfte des Videos ist auch Morgan O’Hara im Bild. Sie sitzt an einem Tisch, auf dem der letzte Arbeitsschritt der Nudelherstellung vorgenommen wird: Die Nudeln werden von Hand in gleich große Portionen geteilt und geordnet, gewissermaßen mit den Fingern durchgekämmt und schließlich mithilfe eines Setzrings zu kleinen, gleich großen Bündeln in eine große Form gesetzt.

O’Hara hält in jeder Hand einen gespitzten Bleistift und verfolgt in höchster Konzentration die Bewegungen der Frau, welche die Nudeln ordnet. In Echtzeit überträgt sie die Handbewegungen auf das Papier. Sie lässt den Blick selten von der Arbeit der Frau und wirft kaum kontrollierende Blicke auf ihr Papier. Bei längerer Betrachtung wird deutlich, dass die Frau mit der einen Hand die Nudeln ordnet und auf eine Länge bringt, während sie sie mit der anderen Hand zu den runden Bündeln formt. Zum Ende des Videos werden Fotos der Aktion eingeblendet und schließlich die zwei entstandenen Zeichnungen. Auf beiden kann man zwei verschiedene Zeichenbewegungen unterscheiden: längliche, dicht an dicht gesetzte Striche und daneben versetzt spiralartige Gebilde, die zu einem großen Rund zusammengedrängt sind. Durch unterschiedlich starken Druck der Bleistiftspitze sind die vertikalen Striche in der Mitte dicker als an ihren Enden. Auch bei Betrachtung des Nudelkämmens bemerkt man, dass in der Mitte der Bewegung die zum Kämmen aufzuwendende Kraft steigt. Die Dynamik des Durchkämmens und die dafür benötigte Energie in ihrer Zeitlichkeit bilden sich so auch in der Zeichnung ab. Die Vielzahl der sich überlagernden Striche, die den einzelnen Zug zurücktreten lassen, lässt sich auch auf die Vielzahl der einzelnen Nudeln zurückbeziehen, die wie Linien im Raum einer Ordnung unterworfen werden.

O’Haras Arbeit lässt sich durchaus in die Tradition von Zeichnung einordnen, zu der ein langes Training der Hand, in ihrem Fall sogar beider Hände notwendig ist, um möglichst exakt mitzeichnen zu können. Einerseits zeigt sich in O’Haras Zeichenweise eine Kontrolle und strenge Konzentration auf das Sichtbare – fast wie ein Seismograph zeichnet sie die Bewegung auf –, andererseits ist die Zeichnung keine reine Auf-Zeichnung, denn O’Hara trifft durchaus während des Prozesses kompositorische Entscheidungen. In dem Beispiel sieht man, dass sie die Linien in zwei Bereiche auf dem Papier aufteilt: die lange gezogenen und die kreis- und spiralförmigen. Auch wann sie eine Zeichnung beendet ist eine kompositorische Entscheidung der Künstlerin. Sie selbst schreibt:

„This work is the opposite of automatic writing. Relaxed mental concentration and precise attention to the subject is basic. Rather than becoming ‘lost’ in the process, I attempt to be totally present in order to transmit as closely as possible whatever action I am following.“ [O’Hara 2014: 2]

 

Ohne die Kenntnis der Umstände, in der sie entstanden ist, ist an der Zeichnung nicht erkennbar, dass es sich um die zeichnerische Umsetzung einer Nudelproduktion handelt. Figuration und Abstraktion vermischen sich. Wie Del Rivero führt O’Hara das Konzept der Mimesis auf eine neue Ebene. Die Rollenverteilung von Zeichnerin und Modell knüpft an eine traditionelle Vorgehensweise an, bei der die Zeichnerin in genauer Beobachtung ihres Modells dessen Bewegung mitzeichnet. O’Hara zeichnet jedoch nicht den Körper des Modells, sondern die Bewegung selbst. Ihr Interesse liegt darin, den Prozess darzustellen. Gleichzeitig ist dieses Sehen von Bewegung immer ein vermitteltes, das über die Zeichnung in ein anderes Medium übertragen wird (der Begriff der Übertragung kommt im Titel der Serie Live Transmission vor). Durch das Video ist es für den Rezipienten möglich, ein vergleichendes Sehen zu betreiben zwischen dem Abbild und der Bewegung selbst.

 

 

V.

O’Hara und Del Rivero thematisieren Bewegungen des Alltags. Darüber hinaus thematisiert vor allem del Rivero den Bereich des Privaten in ihrer Arbeit. Das Private, Intime, ist auch dem Medium der Zeichnung in seiner Geschichte zugeordnet worden. Da das Format im Gegensatz zur Malerei kleiner ausfiel und wie bereits ausgeführt die Zeichnung eher als Vorstudie diente, wurde sie im privaten Kreis betrachtet und diskutiert und nicht öffentlich präsentiert:

„The parallels between the adjectives used to characterize drawing and those used to characterize the private are uncanny: concealed, domestic, special, personal, restricted, finite. One can easily extend the list contingent, fragile, troublesome to see, ephemeral.“ [Lord 2011: 24]

 

Auch den Zeichenvorgang selbst, unsichtbar für den Betrachter, verborgen im Atelier vollzogen, fasste man als intimen Akt auf. Die feministische Theorie hat die Dichotomie herausgearbeitet, wonach das Weibliche implizit mit dem Privaten assoziiert wurde, während das Männliche umgekehrt dem Öffentlichen zugeordnet war:

„Ein zentrales feministisches Anliegen [...] besteht in der Kritik an der Konstruktion einer öffentliche Sphäre männlicher Dominanz und einer privaten Sphäre, die weiblich besetzt und strukturell untergeordnet ist [...].“ [Paul-Horn 1998: 49]

 

Dies rückt del Rivero in den Vordergrund, wenn sie den vermeintlich weiblichen Bereich der Hausarbeit, das Sweet Home hier in monströse Spültücher fasst und ausstellt, damit öffentlich macht.[12] Das kleine, intime Format des Papiers wird hier so stark vergrößert, dass es den Betrachter fast erschlägt. Auch O’Hara stellt ein traditionelles Verständnis der Zeichnung infrage, da sie den Akt des Zeichnens sichtbar und den Prozess zum wesentlichen Teil des Kunstwerks macht.

Beide Künstlerinnen suchen über die Zeichnung nach einem Weg, Zeitlichkeit darzustellen und Bewegung sichtbar zu machen. Die Performance Art wird häufig per se als ephemer definiert. Das Flüchtige mache gerade das Wesen der Performance aus. So konstatiert Peggy Phelan, alle Überreste der Performance seien eben nicht mehr Teil der Performance:

„Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so it becomes something other than performance.“ [Phelan 1993: 146]


Dieses berühmt gewordene Statement ist bereits vielfach infrage gestellt worden. Performative Zeichenformate wie bei Trisha Brown und auch Morgan O’Hara werfen die Frage auf, wie die bestehen bleibenden Zeichnungen aus der Performance dann zu bewerten sind. Sie haben einen eigenständigen Wert und sind doch ohne ihren Entstehungszusammenhang nicht vollständig. Daher stellt sich die Frage, ob sie dann überhaupt als ein eigenständiges Werk zu denken sind.

Bei del Rivero bekommen wir gerade nur die Überreste zu Gesicht und die Abwesenheit des Körpers wird durch seine hinterlassenen Spuren virulent. Die Performance selbst, das Leben eines halben Jahres, ist für die Betrachter nicht sichtbar. Dagegen ist bei O’Hara das Video neben der entstandenen Zeichnung ein Dokument, das uns die aufgezeichnete Bewegung sehen lässt. Bei Betrachtung des Videos führt die Beobachtung von O’Haras Zeichnungsvorgang dazu, dass man auch die Handgriffe der Nudelherstellerin genauer betrachtet und den Rhythmus und die Komplexität der Arbeit wahrnimmt. Auch O’Hara macht hier sichtbar, was normalerweise verborgen bleibt. Zwar zeugen beide Arbeiten von der Einmaligkeit der Performance, aus der sie entstanden sind. Doch ist bei diesen Kunstwerken der Fokus von der Performance selbst viel mehr auf das Ergebnis verschoben. Statt nur als Relikt eines vergangenen Ereignisses betrachtet zu werden, als eine Art Werkzeug, um Rückschlüsse auf das vergangene Ereignis zu ziehen, bilden die Zeichnungen von O’Hara und del Rivero vielmehr eigenständige Kunstwerke, denen eine performative Dimension inhärent ist. Sie sind tatsächlich etwas anderes als die Performance selbst, doch das bedeutet weder, dass der Bezug zur Performance für die Arbeiten nicht wesentlich bliebe, noch dass sie keinen eigenständigen Wert als Kunstwerke hätten.

 

 

VI. Über Aufzeichnung hinaus

Wie gezeigt werden konnte, loten beide Künstlerinnen das Konzept der Mimesis aus. Während O’Hara in gewisser Weise die Tradition der Zeichnung nach dem lebenden Modell weiterführt, verzichtet del Rivero sogar auf das Zeichengerät und lenkt den Blick auf kaum sichtbare Spuren, die sich über einen langen Zeitraum überhaupt erst so akkumulieren konnten, dass sie sichtbar werden. Durch den bei del Rivero stark gedehnten Prozess kommen Spuren des alltäglichen Lebens zur Sichtbarkeit. Ähnlich wie auf die Fotografie kann man die Theorie des Abdrucks auf del Riveros Arbeit anwenden. Der Abdruck bezeugt, dass etwas wirklich geschah. Die Spuren verweisen auf vergangene Ereignisse, die dem Betrachter selbst verborgen bleiben. Del Riveros Arbeiten ermöglichen so, den langen Zeitraum eines halben Jahres mittels sich überlagernder Spuren zu visualisieren.

Bei O’Hara ist das Verhältnis von Modell und Zeichnerin keines, bei dem man der Zeichnung Vorrang geben könnte, denn sie ist ohne die Kenntnis des handwerklichen Vorgangs nicht vollständig zu erfassen. O’Hara übersteigert das Konzept der Naturnachahmung so weit, dass die Zeichnung ohne das Vorbild nicht zu verstehen ist. Bei O’Hara ist das Verhältnis insofern ein mimetisches, als sie sich über die Zeichnung dem Vorgang der Nudelherstellung annähert und zu eigen macht. Sie schafft ein Abbild, das gegenüber dem Vorbild eine eigene Form ausbildet. Diese Innovation ist ein wesentliches Kriterium der Mimesis: sie unterscheidet sich von einer Imitation durch ein Element der Differenz: „Nicht die Herstellung des Gleichen, sondern die Erzeugung des Ähnlichen ist das Ziel [...].“ [Gebauer u. Wulf 1998: 373] Bei del Rivero liegt das mimetische Element der Arbeit in der Nachahmung eines Geschirrtuchs mit Material, dass mit realen Resten der empirischen Welt bedeckt ist. Die Spuren selbst sind dagegen nicht mimetisch, da sie auf Abwesendes verweisen, das wirklich so geschehen ist. Die Spuren sind keine Übersetzung eines Vorbilds in eine symbolische Form, sondern bezeichnen sich selbst.

Das Verhältnis von Performance Art und Zeichnung ist hier eines, bei dem die Zeichnung Bewegung auf ihr eigene Weise sichtbar machen kann. Die Zeichnungen bieten Spuren vom Ereignis, sind dabei aber eigenständiges Kunstwerk. Wie die Arbeit del Riveros zeigt, kann der Fokus sogar ganz auf die Zeichnung als einzigen sichtbaren Teil des Kunstwerks verschoben werden. Mehr als reine Aufzeichnung bilden die Zeichnungen O’Haras und del Riveros einen Kommentar zu Bewegung und verhandeln dabei auf vielfältige Weise das Konzept der Mimesis als eine Antwort auf die Performance Art.

 

 

 

 

 

Elisabeth Heymer (Berlin) hat ihren Bachelor of Arts an der Ruhr-Universität Bochum in Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte abgeschlossen. Derzeit schreibt sie ihre Master-Arbeit im Fach Kunstgeschichte im globalen Kontext mit dem Schwerpunkt Europa und Amerika an der Freien Universität Berlin mit dem Titel „Friedrich Nietzsches Totenmaske im Turmzimmer der Thielska Galleriet - eine Untersuchung des kuratorischen Displays“ (Arbeitstitel). Nach ihrer Arbeit als studentische Hilfskraft des DFG-Projekts „Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste“ (HZT Berlin/HMT Leipzig) ist sie nun als studentische Hilfskraft von Jun.-Prof. Dr. Isa Wortelkamp (Tanzwissenschaft FU Berlin) tätig.

 

 



[1] Mimesis ist ein Konzept, dessen Bedeutung sehr vielschichtig ist und nicht einfach bloß mit Nachahmung im Sinne einer Kopie übersetzt werden kann, sondern auch ein schöpferisches Moment enthält, vgl. Gebauer u.Wulf 1998.
[2] „Wie dem auch sei, der disegno bedarf, wenn er dem Urteilsvermögen die Erfindung einer Sache abgerungen hat, einer flinken Hand, die dank vieler Jahre Studium und Übung in der Lage ist, jedwede Schöpfung der Natur mit Feder, Griffel, Kohle, Stift oder anderem treffend zu zeichnen und wiederzugeben.“, Alberti 2000: 99.
[3] Die aus der Renaissance stammende Vorstellung des disegno und der damit verbundenen idea in der Zeichentheorie, die letztlich den geistigen Inhalt über die Form stellt, ist in der Gegenwart von der Konzeptkunst aufgegriffen worden, vgl. Beyer 2009: 192.
[4] Vgl. u.a. die Ausstellungen Zeichnung als Prozess. Aktuelle Positionen der Grafik, 26. Juni bis 31. August 2008, Folkwang Museum Essen; Live/Work: Performance into Drawing, 31. Januar bis 21.Mai 2007, MoMA New York; On Line. Drawing through the Twentieth Century, 21. November 2010 bis Februar 2011, MoMA New York.
[5] Vgl. dance/draw, 7. Oktober 2011 bis 16. Januar 2012, The Institute of Contemporary Art Boston, sowie PAJ, Vol. 36, Nr. 2, Mai 2014.
[6] Vgl. Trisha Brown: So that the audience does not know whether I have stopped dancing, Ausstellung Walker Art Center Minneapolis, Minnesota, 18. April-20. Juli 2008; und Simone Forti. Mit dem Körper denken. Eine Retrospektive in Bewegung, Ausstellung Museum der Moderne Salzburg 18. Juli-9. November 2014. Ein weiteres Beispiel ist Joan Jonas, die die Bedeutung der Zeichnung für ihre Arbeit als Performance-Künstlerin in einem Interview deutlich macht, vgl. Jonas, Marranca, MacDonald 2014: 35-57.
[7] Mina Takahashi weist darauf hin, dass del Rivero sich für die Reparatur der Blätter eine Technik aneignete, die aus dem Mittelalter stammt und zur Reparatur von teurem Pergament aus Kälberhaut, dem vellum, genutzt wurde. Durch Nähen wurden Risse wieder zusammengefügt. Vgl. Takahashi 2006, o. S.
[8] Linda Yablonsky führt diese außerdem darauf zurück, dass Englisch nicht die Muttersprache von del Rivero sei, vgl. Yablonsky 2012.
[9] Vgl. Fox Talbot 1844-1846. Zur Rolle der Fotografie als Abdruck, Spur und Index vgl. außerdem Geimer 2009.
[10] Roland Barthes benutzt diesen Begriff, um die Tatsache zu beschreiben, dass die Fotografie einen Moment festhält, der in der Vergangenheit tatsächlich so passiert ist, vgl. Barthes 1989: 87.
[12] Auch die Verwendung einer als weiblich konnotierten Technik, das Zusammennähen der einzelnen Papierblätter, verweist auf die patriarchalischen Verhältnisse in der Kunstgeschichte, die Nähen bestenfalls als Kunsthandwerk auffasst und damit der „eigentlichen“ und freien Kunst unterordnet.

 

 

 

Literatur
Alberti, Leon Battista: Della Pittura – Über die Malkunst, hg. v. Oskar Bätschmann u. Sandra Gianfreda, Darmstadt 2000.
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, Frankfurt / M. 1989.
Beyer, Andreas: „Idea“, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. von Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2009: 189-192.
Etchells, Tim: „(Two Minutes very Peaceful): A Note on Drawings for Performance“, in: PAJ, Vol. 36, Nr. 2, Mai 2014: 78-81.
Fox Talbot, William: The Pencil of Nature, London 1844-1846.
Gebauer, Gunther und Christof Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Hamburg 1998.
Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009.
Jonas, Joan, Bonnie Marranca, Claire MacDonald: „Drawing myself in“, in: PAJ, Vol. 36, Nr. 2, Mai 2014: 35-57.
Lord, Catherine: „Out of Line“, in: dance/draw, Ausst.-Kat. Institute for Contemporary Art Boston, Ostfildern 2011: 19-25.
O’Hara, Morgan: „Live Transmission/Performative drawing“, in: PAJ Vol. 36, Nr. 2, Mai 2014: 2-5.
Paul-Horn, Ina: „Das Spannungsfeld von öffentlichem und privatem Bereich. Ein Angelpunkt geschlechterdifferenzierenden Nachdenkens über Politik“, in: Geschlecht und Eigensinn: feministische Recherchen in der Politikwissenschaft, hg. von Eva Kreisky, Birgit Bauer, Wien u.a. 1998: 49-56.
Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York 1993.
Takahasi, Mina: „The Life of Paper“, in: At Hand. Ausst.-Kat. Valencia IVAM; Patio Herreriano, Valladolid, Spanien 2006: o. S.
Yablonsky, Linda: Elena del Rivero [Swi:t] Home: One Year of my Life, Broschüre für Creative Capital 2012.
Zuccari, Federico: L’idea de’ pittori, scultori e architetti, 1607.

 

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