Überlegungen zum Körper als Archiv


Julia Wehren (Basel)

 

 

 

2005 begeben sich Thomas Lebrun (F) und Foofwa d’Imobilité (CH) mit Mimésix auf eine Art Spurensuche nach dem, was bleibt im Tanz und sich tänzerisch weitervermitteln lässt. Konzipiert als Nummernrevue, trägt das Stück den Untertitel Conferdanse sur l’approprioception chorégraphiquec [Glon/Suquet 2011: 5], ein Wortspiel aus den Begriffen „appropriation“ (Aneignung) und „proprioception“ (kinästhetische Wahrnehmung). Es stellt die Aneignung des Wahrgenommenen durch die Anbindung der Propriozeption an die „appropriation“ als einen „Besitz“ (frz. „propriété“) des Körpers der Tänzer aus, welche ihrerseits von den Bewegungen auch „besetzt“ sind; insofern als die Bewegungen gewissermassen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Es handelt sich bei Mimésix also, gemäss dem Untertitel, um einen „getanzten Vortrag zum choreografischen Körpergedächtnis“, und es stellt sich die Frage, wie ein derart körperlich gedachtes Gedächtnis als ein Archiv des Tanzes gefasst werden könnte.

 

 

Aneignung und Überlieferung vom Bewegung: Mimésix

Maurice, Pina, Trisha, Dominique, Odile, Merce. Die Namen sind schwarz auf die weissen Hosen und T-Shirts der Tänzerinnen und Tänzer geschrieben, aufgedruckt wie Stempel als Spuren von Eindrücken; Labels, die die Körper markieren als gleichzeitig Bezeichnete und Bezeichnende. „Ohne Spuren gibt es keine Geschichte“, sagt eine synthetische Stimme aus dem Off. Auf einem weissen Pappschild ist zu lesen: „Mimoir post-moderniste“, ein (erfundenes) Wortkomposit aus „Mime“ und „Miroir“. Das Schild steht am rechten Bühnenrand auf einem Notenständer und benennt, ähnlich den Nummernschildern einer Revue, die auf der Bühne dargestellte Szene. Derweil tanzen Foofwa d’Imobilité, Thomas Lebrun, Anja Schmidt, Tamara Bacci, Stéphane Imbert und Sylvie Giron also Maurice Béjart, Pina Bausch, Trisha Brown, Dominique Bagouet, Odile Duboc und Merce Cunningham. Und zwar so, wie sie die Körperhaltungen, Schrittfolgen und Bewegungsqualitäten von den Choreograf/innen gelernt beziehungsweise beobachtet haben oder aber wie sie meinen, sie hätten sie so gelernt und gesehen. All die Schritte und Drehungen, das Fallen, Loslassen und Springen oder der klare Schnitt eines Armes durch die Luft machen – so scheinen sie zu sagen – die Summe dessen aus, was sie sind: zeitgenössische Tänzerinnen und Tänzer auf einer Bühne im Jahr 2005. Die Körperbilder und Bewegungssprachen, für welche die paradigmatischen Namen stehen, formten ihre Körper und sie als Tänzer/innen und Choreograf/innen nachhaltig.

 

Foofwa d’Imobilité und Thomas Lebrun lenken den Fokus auf den Körper als eine ‚Materialbasis‘ im Sinne von gespeicherten Bewegungsmustern und Körperbildern, die sich neuerlich mittels Körper und diskursiven Praktiken artikulieren lassen. Sie greifen dafür zurück auf ihren eigenen Erfahrungsschatz, den sie sich im Laufe ihrer Karrieren im Studio, auf der Bühne und als Zuschauende angeeignet haben. Paul Connerton hat dafür den Begriff der ‚properties of the body‘[1] entwickelt im Sinne eines sozialen, habitualisierten Gedächtnisses. Es passt zu der „approprioception“, der Verbindung von Wahrnehmung und Besitz, die Foofwa d’Imobilité und Thomas Lebrun in Mimésix veranschlagen sowie dem ‚Besetzt-Sein‘ der Körper als immer schon archivische [Glon/Suquet 2011: 5]. Die Frage, wie ein solcher ‚Besitz‘ in den Körper kommt, dort gespeichert wird und wieder abgerufen werden kann, ist grundlegend für die tänzerische Praxis und kommt immer dann zum Tragen, wenn Choreograf/innen Tänzer/innen oder Tänzer/innen anderen Tänzer/innen etwas lehren, und noch viel grundlegender immer schon dann, wenn sie tanzen: Sie stützen sich auf ein Erinnerungsvermögen, das den Körper eine Bewegung wiederholen lässt. Das körperliche Wissen wird auf andere Tänzer/innen übertragen, von Choreograf/innen weiterverwendet, bearbeitet und einem Publikum zugänglich gemacht. Das heisst, es findet eine Form der performativen Artikulation statt, welche die Erinnerungen über die Sphäre des rein körperlichen hinauszuheben vermag. Die Funktion einer solchen Erinnerungs- und Wahrnehmungsleistung des Körpers kann als eine archivische bezeichnet werden.

 

 

Suchen im körperlichen Fundus: Die Flip Book-Reihe

Das Verständnis des (Tänzer/innen-) Körpers als Archiv erlaubt es, den Körper in seiner Geschichtlichkeit als lesbare Figuration zu verstehen, die ein tänzerisches Wissen sowohl bereithält wie auch artikulieren kann. Anders als es die Formel des „Körpergedächtnisses“ suggerieren könnte, ist das so verstandene körperliche Wissen nicht nur etwas Unbewusstes, nicht Fassbares und dem Individuum Vorbehaltenes, sondern zugänglich für Dritte. Das heisst: Auch ein Publikum hat Zugang zu dem Archiv.

Ein solch archivischer Körper ist in der Arbeit von Boris Charmatz zentral. Der französische Choreograf entwickelt 2007 ein einfaches choreografisches Konzept zur Transposition von Bildern in Bewegung. Ausgangspunkt dafür ist David Vaughans Bildband Merce Cunningham. Un demi-siècle de danse. Chronique et commentaire (1997), der in chronologischer Abfolge rund 300 Fotografien aus Studio- und Aufführungssituationen der Jahre 1944 bis 1994 versammelt.[2] Jede einzelne dieser Fotografien nimmt Charmatz als Vorlage, um die potentiellen Bewegungen vor, nach und zwischen den darauf abgebildeten Posen gemeinsam mit anderen Tänzerinnen und Tänzern nachzustellen. Die Fotografien werden so zu Quellen für die Nachbildung historischer Bewegungen einerseits – das Nachstellen der Posen und das Finden passender Übergangsbewegungen in die Pose hinein und aus ihr heraus – und zu einer Basis für die Generierung von neuem Bewegungsmaterial, sind doch die ‚gefundenen‘ Bewegungen gleichermassen Imitationen wie Erfindungen.[3]

Der Prozess der Bewegungsfindung für die Choreografie läuft dabei folgendermassen ab[4]: Der erste Schritt im Probenprozess ist ein mnemotechnischer; es geht darum, die fotografierten Posen nachzustellen und sich zu merken. Welche Haltung nehmen die Arme, der Kopf, die Beine ein? Danach beginnt die Suche nach den Wegen und Bewegungen, die dazwischen stattfinden. Welcher Interpret beginnt? Von welcher Seite treten die Tanzenden auf? Wie viele Schritte vor einem Sprung werden benötigt, um zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort in der Luft zu sein? Welchen Weg und welche Bewegung muss ich machen, damit das Bein in die einstudierte Position kommt? Es gilt also, neben den Posen auch ein Netz aus räumlichen Wegen zu organisieren und die Frage zu klären, wie die Begegnungen der Tanzenden dabei ablaufen. Gemäss der visuell-dramaturgischen Ordnung des Bildbandes entsteht so eine Art Flip-Book: ein getanztes choreografisches Daumenkino, zusammengesetzt aus Einzelbildern, die im schnellen Durchgang in Bewegung gesetzt werden und als fortlaufende Folge aufscheinen.

Charmatz sucht nach Spuren von Bewegungswissen im Körper und stellt mit seinem Konzept einen möglichen Rahmen für diesen Zugriff auf. Die Tanzenden nähern sich den Vorlagen je individuell mit ihren durch Tanztechniken, alltägliche Praktiken, kulturelle, soziale und historische Eindrücke sowie deren Diskurse geprägten Körpern. Diese bilden einen Korpus an gespeicherten Bewegungserfahrungen, auf die im Findungsprozess zurückgegriffen wird, um davon ausgehend neues Material zu schaffen. Der Choreograf macht sich diesen ‚Fundus‘ also im künstlerischen Prozess zunutze.

 

Unter diesen Vorzeichen erhält die Idee des Körpers als Gedächtnis für Bewegungsmuster, -techniken und -stile, wie in Mimésix ausgestellt, eine weitere Funktion. Während Foofwa d’Imobilité und Thomas Lebrun in erster Linie auf die Erinnerungsfähigkeit und -leistung des Körpers verweisen (als Basis einer Weitergabe von Bewegung überhaupt) und Tanzgeschichte aus diesem Blickwinkel aufrollen, kann bei Charmatz eine umgekehrte Akzentuierung festgestellt werden. Er baut zwar ebenfalls auf ein körperlich erinnertes Wissen, auf das die Tanzenden zurückgreifen auf, fokussiert dabei jedoch nicht den Prozess der Speicherung und Erinnerung, des Lernens, Abrufens und Ausführens. Diese Vorgänge sind zwar auch sichtbar, aber nicht weiter thematisiert. Charmatz benutzt Vaughans Bildband vielmehr als eine Partitur, vergleichbar einer Notation, die es als zweidimensionale, visuelle Vorlage wieder in Bewegung zu übersetzen gilt. Er versucht gar nicht erst, diese Übersetzungsleistung als ein ‚Zurück‘ in etwas zu verstehen, das einmal dagewesen war als choreografisch-körperliche Vorlage. Er nimmt die Partitur vielmehr als Ausgangspunkt für das Erfinden von etwas Neuem.

Den Gestus des Imitierens, den Foofwa d’Imobilité und Thomas Lebrun in Mimésix als Fundament der Tanzgeschichte ausstellen, präsentiert er also nicht als Akt der Bewegungskonstitution, sondern als eine künstlerische Invention. Während Foofwa und Lebrun danach fragen, was im Körper bleibt von Tanz und Bewegung, fragt Charmatz nach Möglichkeiten des Zugangs und Zugriffs auf dieses Bleibende. Etwas verkürzt dargestellt könnte man auch sagen, Foofwa und Lebrun thematisieren den Körper als Gedächtnisform, während Charmatz den Akzent auf den Körper als Archiv legt.

 

 

„Archiv“ als Denkfigur

Die physische Bedingtheit, die ‚Pluralität‘, die der Körper immer schon in sich trägt und die, wie Mimésix und Flip Book zeigen, artikulierbar und lesbar ist, macht die Formel des Archivs für den Körper attraktiv.[5] So verweisen verschiedene Untersuchungen auf den Körper als Archiv.[6] Sie fokussieren meist auf die Übertragung der Vorstellung von Archiv als Sammlung und Speicher von Dokumenten auf den Körper, wie dies beispielsweise Baxmann in einer anthropologischen Perspektivierung basierend auf Marcel Mauss vornimmt. Die Ablagerungen im Körper, die aufgrund eines ‚Körpergedächtnisses‘ verfügbar sind, bilden derart ein Archiv und werden aufgrund ihres Informationsgehaltes für die Kulturgeschichte produktiv. Weiter werden Körper als „Archive der Erfahrung“ auch in Bezug auf das Lernen, Wahrnehmen und Erinnern von Tanz stark gemacht, wie Gerald Siegmund dies beispielsweise aus verschiedenen Perspektiven angeht [Siegmund 2010]. Diese Konzeption des Körpers als Archiv lässt sich sowohl auf Mimésix wie auf die Flip Book-Reihe von Boris Charmatz übertragen, spielt doch der körperliche Erfahrungsraum der Beteiligten grundsätzlich eine zentrale Rolle in den Stücken. Er wird jeweils als historischer Korpus im Sinne einer ‚Quelle‘ herangezogen, das heisst, es wird auf die Erinnerungsleistung des Körpers rekurriert.[7]

Darüber hinaus bildet der Körper zugleich den Zugang zu eben diesem Archiv selbst. Franz Anton Cramer spricht deshalb von einem Paradox, welches den Körper als gleichzeitig Gedächtnis wie Zugang zu demselben markiere: „The metaphor of the ‚body as archive‘ or ‚body archive‘ in this context seems twofold. It refers to the separation between the tangible, physical being of the body and its largely consciously practiced use of meaning structures, reaching beyond the body and necessarily presupposing knowledge of physical potential. […] Dance here would be a paradox mixture of knowledge of the past and performative self-formulation in the present.“ [Cramer 2013: 220] Dieses Zusammenfallen einer Physis und einer Bedeutungsstruktur tritt immer dann zu Tage, wenn Archiv im Sinne einer Speicheranalogie auf Körper übertragen wird.[8] Es gilt demnach für die Metapher des „Körperarchivs“ derselbe Vorbehalt, der auch in Bezug auf diejenige des „Körpergedächtnisses“ zu nennen ist: Es können damit durchaus Prozesse beschrieben werden; eine buchstäbliche Übertragung des Begriffes ist hingegen problematisch. So hat der Körper in einem physiologischen Sinne kein Gedächtnis, und er stellt auch kein Archiv dar im Sinne eines Speicherortes, der betreten werden kann, um etwas herauszuholen beziehungsweise abzurufen. Infolgedessen kann auch nicht von einem institutionellen Archivbegriff ausgegangen werden.[9] Ein Archiv des Körpers ist vielmehr als eine Denkfigur zu verstehen, die sich in ihrer Wirksamkeit erst im Beziehungsfeld von Körper, Choreografie, Aufführung und Publikum einstellt. Das heisst, es braucht eine Bewegung, die im Zusammenspiel dieser Parameter erst den Körper als Archiv fassbar und lesbar macht. Der Körper ist nicht ein Archiv, sondern seine Funktion kann als diejenige eines Archivs bezeichnet werden. Die verschiedenen körperlichen Zustände, die Geformtheit und das Entstehen derselben, die daraus hervorgehenden Typen und Konzepte können befragt werden, bearbeitet, interpretiert und kritisiert im Hinblick auf eine weitere Verwendung und Vermittlung.

 

 

Körperarchiv als bewegliches Dispositiv

Dem ‚Archiv des Körpers‘ sind „Transformationsprozesse“ [Cramer 2013: 220] inhärent, es ist als ein dynamisches Wissen zu verstehen. Exponiert auf der Bühne, artikuliert es sich aufgrund eines choreografischen Settings in der Aufführung und wird lesbar für ein Publikum. Der Körper als Archiv ist so gesehen nicht nur als Erinnerungsort im Sinne einer Wissensgenerierung relevant, sondern auch im Sinne eines Reflexionsraums.

Eine solche Vorstellung von Archiv schliesst an Foucaults „Archiv“-Begriff an, denkt ihn aber für die Tänzer/innenkörper weiter. Foucault meinte mit dem französischen Begriff „archive“ gerade nicht jene institutionellen Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen, Archive, die „in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will“, wie er schreibt.[10] Das Archiv sei vielmehr das, „was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert.“ [Foucault 1981: 187] Das Archiv bestimmt gemäss Foucault, was in einer Kultur überhaupt sichtbar wird und was nicht, wobei es selbst unsichtbar bleibt. Es stellt so eine Art Regulativ dar für die Zugänglichkeit zu Informationen schlechthin; Foucault nennt es „das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“ als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann.” [Ebenda]

Das Archiv wird so zu einer Instanz, die eine Ordnung der Vergangenheit überhaupt erst produziert und damit der Geschichte immer schon vorausgeht. Anders als in der Geschichtswissenschaft, gegen die Foucault ursprünglich das Konzept des Archivs ins Feld geführt hatte, wird Vergangenheit nicht repräsentiert, sondern immer erst hervorgebracht. Foucault kritisierte die „Ideengeschichte“ als „Disziplin der Anfänge und der Enden, die Beschreibung der dunklen Kontinuitäten und der Wiederkehr, die Rekonstruktion der Entwicklungen in der linearen Form der Geschichte.“ [Ebd.: 196] Ihre grossen Themen seien die Genese, Kontinuität und Totalisierung, während das Archiv beziehungsweise die archäologische Beschreibung desselben die „Bestimmung der Neuheit“, die „Analyse der Widersprüche“, die „komparativen Beschreibungen“ und das „Auffinden von Transformationen“ [Ebenda: 197-198] beabsichtige.

 

Diese Beschreibung ist wiederum für die Beispiele Mimésix und Flip Book und die Körper als Archive von Bedeutung: Sie fokussieren darin das Kontingente, legen Widersprüche und Reibungspunkte offen und markieren das Beschriebene als sich beständig in Transformation befindend. Eine Geschichtsschreibung kann in diesem Sinne nur ein Effekt des Archivs sein, da dieses die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte erst festlegt. Der Begriff des ‚Archivs‘ erfuhr mit Foucault also eine Erweiterung dahingehend, „dass Wissen [...] nicht durch einen Akt der Reflexion gestiftet wird, sondern aus dem Raum des Archivs mit seinen Ein- und Ausschlussmechanismen hervorgeht“ [Ebeling/Günzel 2009: 8], wie Knut Ebeling schreibt. Es stehe am Anfang allen Wissens und vermittle zwischen dem Verborgenen und dem Sichtbaren. Das Wissen formiert sich so gesehen erst in der Transformation.

Ein solcher Prozess findet nun auch innerhalb des Dispositivs von Körper, Choreografie, Aufführung und Publikum statt. Gemäss Foucault ist das Archiv „gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben“, am „Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft und auf sie in unserer Andersartigkeit hinweist; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt.“ [Foucault 1981: 189] Gerade dieses Dazwischen, das unsicht- und unfassbare des ‚Archivischen‘, macht das Archiv als Denkfigur für den Körper attraktiv: Das Körperwissen als ein zu einem grossen Teil implizites Wissen, das sich vorrangig über den Körper selbst artikuliert, findet darin eine Entsprechung, im dem Sinne, dass es Wissensbestände hervorbringt, die nur über den Körper sichtbar sein können.[11] Allerdings ist zu betonen, dass ein solches Archiv eben gerade nicht jenseits einer diskursiven Praxis liegt, sondern auf der Schwelle; es beginnt „mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren; ihr Ort ist der Abstand unserer eigenen diskursiven Praxis“, wie Foucault schreibt. [Foucault 1981: 189-190] Das Archiv markiert gerade die Grenze und den Anfang des Aussagbaren. Übertragen auf die Tänzer/innenkörper heisst dies: Das Archiv bestimmt die Möglichkeit dessen, was über Körpergeschichte überhaupt gesagt werden kann. Die Formel des ‚Archivs‘ ermöglicht es so gesehen, den Körper als einen Reflexionsraum für die Möglichkeitsbedingungen im Umgang mit der (Tanz-) Geschichte zu fassen. Je nach Betrachtungsweise ist er zugänglich durch die Tänzer/innen selbst (in einem Akt der Erinnerung) oder aber durch die Choreografierenden, die im Sinne von Archäologen die Formation eines Archivs in der choreografischen Arbeit beschreiben, wie dies Foofwa und Lebrun oder Charmatz tun. Weiter bildet das Publikum das erforderliche ‚Aussen‘, das ein Archiv erst zu einem solchen macht.[12]

Ein derart ‚archivischer‘ Körper, der auf dem Erfahrungswissen der Tänzer/innen und Choreograf/innen beruht, hat weitreichende Konsequenzen für die Archivierung und Geschichtsschreibung im Tanz. Nicht nur erweitert er das Gesamtarchiv des Tanzes und bedingt und ermöglicht dadurch andere methodische Zugänge und Interpretationsansätze historischer Ereignisse und Positionen. Noch viel grundsätzlicher fordert er überhaupt seine Anerkennung als relevante Wissensformation ein. Während dies in choreografischen Reflexionen auf der Bühne längst umgesetzt wird, gilt es den Transfer in den akademischen Kontext noch voranzutreiben. Das Spektrum an möglichen Aussagen zu Tanzgeschichte und –geschichtsschreibung würde, so ist anzunehmen, dadurch erweitert.

 


Julia Wehren ist Tanzwissenschaftlerin. Sie promovierte 2014 zu Choreografie als historiografischer Praxis und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern (ITW) sowie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Als Dozentin lehrt sie u.a. am ITW, am DAS Nachdiplomstudiengang TanzKultur der Universität Bern und ab Herbst 2014 für den neu geschaffenen Schweizer BA Tanz in Zürich und Lausanne. Zuvor war sie als Tänzerin, Tanzpädagogin und Journalistin aktiv. Sie studierte zeitgenössischen Tanz an der Rotterdamse Dansacademie und Theaterwissenschaft, Medienwissenschaft und Kunstgeschichte an der Uni Bern. Mitherausgeberin von Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz (zus. mit Christina Thurner, 2010) und Berner Almanach Tanz (zusammen mit Daria Gusberti und Christina Thurner, 2012).

 

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Literatur

Baxmann, Inge. „Der Körper als Archiv. Vom schwierigen Verhältnis zwischen Bewegung und Geschichte“. In: Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke (Hg.). Bielefeld 2007: 217-227.
Bel, Jérôme und Boris Charmatz. Emails 2009-2010. Paris 2013.
Bismarck, Beatrice von. „Steps and Gaps: Curatorial Perspectives on Dance and Archives“. In: Dance [and] Theory. Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein (Hg.). Bielefeld 2013: 213-217.
Brinkmann, Stephan. Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld 2013.
Connerton, Paul. The Spirit of Mourning. History, Memory and the Body. Cambridge 2011.
Cramer, Franz Anton. „Body, Archive“. In: Dance [and] Theory. Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein (Hg.). Bielefeld 2013: 219-221.
De Laet, Timmy: „Wühlen in Archiven. Wie sich durch Strategien des Re-Enactments die Grenzen des Repertoires erweitern lassen“. In: tanz. Nr. 3/10, 2010: 54-59.
Derrida, Jacques. Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997.
Ebeling, Knut und Stephan Günzel. „Einleitung“. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Dies. Berlin 2009: 7-26.
Ernst, Wolfgang. Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002.
Foucault, Michel. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981.
Gehring, Petra. Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt a. M. 2007.
Glon, Marie und Annie Suquet. „Foofwa d’Imobilité: Le souvenir comme effraction. Interview“. In: Repères. Cahier de danse. Nr. 28, 2011: 5-7.
Hardt, Yvonne. „Prozessuale Archive. Wie Tanzgeschichte von Tänzern geschrieben wird“. In: tanz.de. Zeitgenössischer Tanz in Deutschland – Strukturen im Wandel – Eine neue Wissenschaft. Johannes Odenthal (Hg.). Berlin 2005: 34-39.
Lepecki, André. „The Body as Archive: Will to Re-Enact and the Afterlife of Dances“. In: Dance Research Journal. Nr. 42/2, 2010: 28-48.
Musée de la danse: www.museedeladanse.com, 28.11.2013.
Schmidt, Robert F. und Hans-Georg Schaible (Hg.). Neuro- und Sinnesphysiologie. Heidelberg 2006.
Schneider, Rebecca. Performing Remains. Art and War in Theatrical Reenactment. New York 2011.
Siegmund, Gerald. „Das Gedächtnis des Körpers in der Bewegung“. In: Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzes. Leopold Klepacki und Eckhart Liebau (Hg.). Münster 2008: 29-44.
Siegmund, Gerald. „Archive der Erfahrung, Archive des Fremden. Zum Körpergedächtnis des Tanzes“. In: Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung. Margrit Bischof und Claudia Rosiny (Hg.). Bielefeld 2010: 171-179.
Tappolet, Bertrand. „Boris Charmatz. Entre héritage chorégraphique et expérimentation ludique. Interview“. In: Genève Active. Magazine culturel de la métropole lémanique. 17.12.2009: 1-2, in: www.geneveactive.com, 28.11.2013.
Vaughan, David. Merce Cunningham. Un demi-siècle de danse. Chronique et commentaire. Paris 1997.

 

 



[1] Connerton zeichnet eine habitualisierte Form des kulturellen Gedächtnisses nach, die er im und am Körper situiert: „This memory takes place on the body’s surface and in its tissues, and in accordance with levels of meaning that reflect human sensory capacities more than cognitive categories. […] culture happens as and in the lived body.“ Vgl. Connerton 2011, hier insbesondere S. ix (Hervorhebung im Original).
[2] Vgl. David Vaughan. Merce Cunningham. Un demi-siècle de danse. Chronique et commentaire. Paris 1997. Das choreografische Konzept wurde 2007 als Projekt All Cunningham im Ausbildungskontext des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin entwickelt. Eine erste Umsetzung mit professionellen Tänzern fand 2008 in Saint-Nazaire statt (Flip Book); die erste offizielle Aufführung mit nicht-professionellen Tänzern folgte 2009 zur Eröffnung des Musée de la danse in Rennes (Roman Photo). Die Version 50 ans de danse mit ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern der Merce Cunningham Dance Company wurde 2009 im Théâtre des Abbesses im Rahmen des Festival d’Automne in Paris uraufgeführt. Seither sind unter dem Premierendatum 2009 alle drei verschiedenen Versionen zusammengefasst. vgl. www.museedeladanse.com (19.06.2013).
[3] Boris Charmatz beschreibt den Körper auch als einen ‚musealen Raum‘, wobei er ein breites Verständnis von ‚museal‘ vertritt: „[Q]uand on est danseur, il est clair que le corps est le principal espace muséal: les chorégraphies apprises subsistent dans le corps, les gestes enseignés aussi, les spectacles vus sont aussi incorporés. Le corps est aussi fait des gestes que nous aimerions bien oublier parfois sans y parvenir. Le corps est fait d’une infinité de gestes accomplis ou reçus qui le construisent au quotidien et […] il est LE média de sa culture et de l’art qui va avec.“ [Vgl. Bel/Charmatz 2013: 13-14] (Hervorhebung im Original). Er verwendet die Analogie des Museums, um eine Form des Zugangs zu akzentuieren: „En ce sens, le corps pensé comme musée n’est pas seulement un corps qui se penche de manière quasi archéologique sur ce qui le tient, les experiences qui le fondent, les lectures qui l’ont marqué, et les identités qui le fixent: il est aussi la masse brouillonne qui permet de réagir et d’inventer les actions et les postures d’aujourd’hui et de demain.“ [Vgl. Bel/Charmatz 2013: 14.] Diese auf ein zukünftiges ‚Bewegen‘ hin ausgerichtete Vorstellung von einem historisch informierten Körper versucht Boris Charmatz sei 2009 unter der Affiche Musée de la danse umzusetzen. Charmatz geht es dabei um die Öffnung eines mentalen Raums, in dem Tanz gleichzeitig ausgestellt und erforscht werden kann. Vgl. dazu weiter auch www.museedeladanse.com (27.10.2013).
[4] Zum Beschrieb des Probenprozesses vgl. Tappolet 2009: 1-2.
[5] Mitunter werden auch Choreografien als Archive dargestellt, die sich in ständigen Aktualisierungen durch Bewegung erschliessen. Das bedeutet jedoch auch, dass jede Aktivierung neuerlich ein Archiv darstellt, also jede Kunstform immer schon ein ‚Archiv‘ bildet. Dies mag historisch-anthropologisch relevant sein. In Bezug auf die historiografischen Praktiken in der Choreografie wird der Begriff so allerdings unproduktiv, da in der Folge jede Choreografie darunter fallen würde.
[6] Vgl. exemplarisch Inge Baxmann. „Der Körper als Archiv. Vom schwierigen Verhältnis zwischen Bewegung und Geschichte“. In: Gehm/Husemann/von Wilcke 2007: 217-227; Franz Anton Cramer. „Body, Archive“. In: Brandstetter/Klein 2013: 219-221; De Laet, Timmy. „Wühlen in Archiven. Wie sich durch Strategien des Re-Enactments die Grenzen des Repertoires erweitern lassen“. In: tanz. Nr. 3/10, 2010: 54-59; Hardt, Yvonne. „Prozessuale Archive. Wie Tanzgeschichte von Tänzern geschrieben wird“. In: Odenthal 2005: 34-39; Lepecki, André. „The Body as Archive: Will to Re-Enact and the Afterlive of Dances“. In: Dance Research Journal. Nr. 42/2, 2010: 28-48; Schneider, Rebecca. Performing Remains. Art and War in Theatrical Reenactment. New York 2011; Siegmund, Gerald. „Archive der Erfahrung, Archive des Fremden. Zum Körpergedächtnis des Tanzes“. In: Bischof/Rosiny 2010: 171-179.
[7] In einem physiologischen Sinne handelt es sich dabei um eine Aktivität des Gehirns. Die Wahrnehmung erfolgt jedoch über Sinnesmodalitäten des Körpers und seine Eigenwahrnehmung, die Propriozeption. Vgl. dazu exemplarisch Brinkmann 2013; Schmidt/Schaible 2006.
[8] Vgl. dazu auch Bismarck 2013, insbesondere S. 216.
[9] Vgl. hierzu auch Lepecki 2009. Er zeichnet den „Körper als Archiv“ als einen kreativen und transformativen Prozesses im Sinne eines fortwährenden Antriebs.
[10] Vgl. Foucault 1981: 187. Mit „les archives“ im Plural werden im Französischen die Institutionen bezeichnet während Foucault mit dem seit dem 16. Jahrhundert verschwundenen Singular „archive“ die archivische Methode meint. Diese Unterscheidung existiert im Deutschen so nicht. Vgl. dazu Ernst 2002: 90-91.
[11] Zum Körper als Archiv bei Foucault vgl. Gehring 2007: 106.
[12] Sowohl für Foucault wie für Derrida ist ein solches ‚Aussen‘ konstitutiv für das Archiv: „Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeiten […] ausgehend von Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein; […] sie beginnt mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren […].“ Vgl. Foucault 1981: 189. Derrida baut seinen Archivbegriff gar wesentlich auf der Verräumlichung und Wiederholung ausserhalb des Archivs auf: „Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen.“ Vgl. Derrida 1997: 25 (Hervorhebung im Original).