Partizipation. Publikumsbewegungen im modernen Museum
Elisabeth Timm (Münster)
Im Kuratieren von kulturhistorischen Museen, aber auch in den Häusern anderer Sparten haben sich seit den 1970er Jahren die Ideale und Formen des Ausstellens vom repräsentativen zum relationalen Arbeiten gewandelt. „Performing the museum“ [Garoian 2001] lautet dieses Modell und Programm einer neuen, offener angelegten Kontaktnahme von Museum und Publikum. Dabei fungieren Praxis, Performanz, Bewegung und Partizipation als Formen der Begegnung von Publikum, Institution und Exponaten in Museen und Ausstellungen oft per se als kritische/s Form/at, als Irritation von Hegemonie, als Attacke auf mächtige Repräsentationen, als entblößende Strategie gegen die falsche Allgemeinheit von fixiertem Wissen. In diesem Beitrag soll dieses Ideal re-situiert werden, und zwar im Feld der Bildung und Bildungspolitik. Diese erweiterte Perspektive ergibt den Befund, dass Praxis, Performanz, Bewegung, Partizipation keine von nirgendwo kommenden Werkzeuge der Kritik sind, sondern Teil des Feldes, das sie zu erschüttern suchen. Daraus ergibt sich keine prinzipielle Schlussfolgerung für oder gegen solche Formate, sondern die Konsequenz, die Kräfte, die das Museum heute neu in Bewegung bringen wollen, differenziert zu betrachten.[1]
1. Von der „Pädagogik“ zur „Vermittlung“ und vom Zeigen zum Produzieren
Dem fachwissenschaftlich definierten Museum (Archäologie, Kunstgeschichte, Geschichte, Ethnologie, Volkskunde etc.) hat man ab Ende der 1960er Jahre[2] im Kontext der Bildungsreformen eine Besucherorientierung zunächst nur abgerungen [Noschka-Roos 2012]. Diese wurde dann – in Curricula, deren Geschichte erst in Ansätzen und in wenigen Einzelstudien für den angloamerikanischen Raum untersucht oder zumindest benannt ist [Roberts 1997; Allen 2011] – zur „Museumsdidaktik“ professionalisiert. Als „Museumspädagogik“ oder „Kulturpädagogik“ kann man das in Deutschland auch studieren. „Museumspädagogik“ ist dabei ein Begriff, der zwar immer noch in Gebrauch ist, zunehmend aber durch „Vermittlung“ ersetzt wird [Noschka-Roos 2012]. So ergibt die Schlagwortsuche im Titelverzeichnis der seit 1905 erscheinenden Museumskunde den jüngsten Treffer für „Pädagogik“ für das Jahr 2001 (die älteste Referenz auf Pädagogik erhält ein Beitrag von Otto Neurath im Jahr 1931) und eine Häufung dieses Begriffes in den 1970er und 1980er Jahren; für „Vermittlung“ liegt der aktuellste Treffer im Jahr 2012, der älteste 1978 (ein Beitrag von Manfred Eisenbeis über das Centre national d‘art et de culture Georges Pompidou), eine Häufung der Verwendung von „Vermittlung“ in den Titeln der Beiträge zeigt sich dann ab den Nuller Jahren.[3] Diese Verschiebung von Pädagogik auf Vermittlung hat damit zu tun, dass Pädagogik als nur auf Kinder bezogene Didaktik missverstanden werden kann. Sie hat aber auch damit zu tun, dass die Vokabel ‚Pädagogik‘ bei der Kultur-Arbeit des Zeigens zu sehr an den Modus der ‚Schule‘ erinnert. Dieser Modus aber muss in Museen und Ausstellungen dethematisiert werden, um die in dieser Sparte des Feldes der Kunst spezifischen Distinktionsgewinne realisieren zu können [Bourdieu 1990, Bourdieu 2001]. Und schließlich speist sich die Ablösung von Pädagogik durch Vermittlung aus antipädagogischen Lernphilosophien [konzeptuell: Sturm 2011], aus rezeptionsästhetischen Orientierungen, sowie aus kulturwissenschaftlich erweiterten Wahrnehmungs- und Wissenstheorien, deren Geschichte schon lange zwischen „Museumskritik und Museumsutopie“ oszillierte [te Heesen 2012: 105-124].[4]
Solche sehr unterschiedlichen Relativierungen des pädagogischen Paradigmas sind in der Praxis der Museen zudem heterogen artikuliert. Um nur zwei sehr unterschiedliche Beispiele zu nennen: Wenn unter dem Angebot „Vermittlung“ entweder „Führungen“ oder altbekannte „Zielgruppen“ genannt werden, handelt es sich eher um eine semantische Modernisierung als um eine neue Konzipierung des Verhältnisses zwischen Publikum und Museum. So beispielsweise in Angeboten „Für Gruppen/Für Frauen/Für Senioren/Für Kinder/ Audioguide/Auf eigene Faust“, oder für „Erwachsene/Kinder/Senioren/Menschen mit Behinderungen“.[5] Solche Gruppenbezeichnungen zielen auf eine Ausdifferenzierung der „Besucherorientierung“ im Sinne einer besseren, mehr spezifischen Zugänglichkeit von kuratorisch bereitgestelltem Wissen (so z.B. Noschka-Roos 2012). Allerdings sind diese „Gruppen“ ohne „groupism“[6] nicht zu haben: Reagieren die Institutionen damit auf unterschiedliche Bedarfe und Interessen? Oder ist die heimliche Agenda vielmehr eine „Anrufung“[7], mit der das Publikum identitär geordnet wird? Wir können davon ausgehen, dass immer mit beiden Dynamiken zu rechnen ist. Ob ein Angebot affirmativ und kalmierend oder störend, bewegend und kritisch wirkt, kann man analytisch und programmatisch zwar auseinanderhalten [Mörsch 2012]; die empirische, ethnographisch-qualitative Museumsforschung hingegen weiß, dass der Besuch einer Ausstellung trotz aller Vermittlungs-Bahnung in unvorhergesehene Schlussfolgerungen des Publikums münden kann [Harrasser u.a. 2012; Dankl u.a. 2013; Nieradzik/Timm 2014].
Eine spezifische Spielart der neuen Involvierung des Publikums ist die Entwicklung eines „partizipativen Museums“: Hier soll Wissen nicht mehr bereitgestellt und vermittelt, sondern vom Publikum hergestellt und eingebracht werden [Simon 2010, Gesser u.a. 2012]. Prozesse und Praktiken sind dabei sowohl Mittel als auch Ziel des Ausstellens. Diese Entwicklung verändert den Status von Exponaten. Sie werden von Belegstück-Indizien zu Erfahrungs-Medien (von Hantelmann/Meister 2010 am Beispiel zeitgenössischer Kunst; zur Rekonstruktion von Kunstmuseen als „spaces of experience“ [im Unterschied zum Konzept des kontemplativen Museumsbesuchs] siehe Klonk 2009).
Praxis, Performanz, Bewegung, Partizipation sind keine Postulate einer museologisch-theoretischen Diskussion, sondern bereits Leitbilder oder mission statements ganzer Häuser geworden, wie etwa im Stadtmuseum Stuttgart und im Historischen Museum in Frankfurt am Main: Beide Museen setzen die Partizipation der BesucherInnen nicht als Addendum zu kuratorisch erarbeiteten Inhalten, sondern sie wollen, so die Terminologie beispielsweise in Frankfurt, ihr ganzes Haus partizipatorisch neu „erfinden“ lassen: „Das Museum wird eine partizipatorische Ausrichtung bekommen, den Erfahrungs- und Wissensschatz seiner Besucher ernst nehmen und als integrierten Bestandteil nutzen.“[8] Die Sammlungen, über die das Museum verfügt, sind im Leitbild zwar noch erwähnt. Als „Schatz“ oder „Schätze“ attribuiert werden jedoch nicht mehr die Objekte, sondern „die Erfahrung und das Wissen“ der Besucher (sic!). Markant ist diese Wendung zum arbeitenden oder kuratierenden Publikum auch im Begriff des „Labors“, das immer mehr Häuser anbieten, und zwar sowohl im Umgestaltungsprozess Jahre vor der Neueröffnung, als auch als neues, dauerhaftes Format.[9] Das Labor-Format ergänzt und verstärkt den eben erwähnten anderen Umgang mit Objekten („Erfahrungsmedien“ statt indexikalische Indizien-Belege): ein Labor soll ja nicht etwas Bekanntes präsentieren, sondern idealerweise etwas Neues hervorbringen.
Die chronologische Ordnung der Inhalte oder die absichtsvolle Anordnung von Objekten soll idealerweise der Emergenz von Konfrontationssituationen Platz machen, die nicht mehr zeitlich oder hierarchisch markiert sind. Die vom Publikum geforderte oder, je nach Perspektive, ihm überlassene Aktivität der Produktion von Wissen soll der kuratorischen Arbeit von ExpertInnen zeitlich und sachlich nicht mehr nachgelagert sein, sondern wird als Teil des Kuratierens situiert. Das führt zu einer Entgrenzung der Produktion und Rezeption von Ausstellungen.[10] Die intendierte Ermächtigung des Publikums unter der Überschrift „Partizipation“ erweist sich dabei auch als ein Mittel der Respektabilität für eine stark abgewertete professionelle Gruppe im Museum, nämlich derjenigen in den Vermittlungsdepartments: Dort arbeiten überwiegend Frauen, und sie sind unter dem nicht-administrativen Personal die am schlechtesten bezahlten Fachleute in den Museen – obwohl sie über akademische Abschlüsse verfügen.
Die Verwandlung des Erklärens erhielt zudem einen Schub durch den Wandel der kuratorischen Aufgabe von einer verwaltenden (lat. curator, im römischen Recht ein Verwalter, Wärter, Aufseher, Vormund) zu einer gestaltenden, schöpferischen Tätigkeit im Feld der Kunst (Medina 2011, 31). Heinich/Pollack (1996) beschreiben diesen Prozess als Entwicklung „from museum curator to exhibition auteur“, und sie charakterisieren die neue Position als „curauteur“. Gleadowe (2011, 17f.) sieht die Entwicklung der Kunst der 1960er Jahre von Studio- bzw. Atelier-Arbeit zu in-situ-Praktiken (Fluxus, Happening, Performance, Concept art) als wesentlich für diesen Wandel an: der Ort der Präsentation, die Galerie, wurde zum Ort der Produktion, und das Kuratieren dadurch zur Ko-Produktion des Werks, das sich gerade durch die Kritik der Institution[11] auszeichnete.
2. Selbst lernen wollen/können/sollen
Der Wandel vom repräsentativen zum relationalen Modus des Zeigens wird in der Diskussion zum Wandel des Ausstellens im modernen Museum meist im Gefüge der new museology [Vergo 1989] und der Analyse von hegemonialen Wissensordnungen [Bennett 1995; Hooper-Greenhill 1992; MacDonald 1998] verortet. Die Ermächtigung des Publikums in partizipativen Ansätzen erscheint somit als Effekt oder Erfolg einer von außen kommenden Kritik der Institution Museum und der oft falschen Allgemeinheit ihres Zeigens.
Dabei wird ein zentraler Faktor kaum berücksichtigt: die Bildungspolitik. Das hat damit zu tun, dass die avancierten empirischen Analysen und theoretischen Konzepte zu Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen, Vermitteln im Museum poststrukturalistische Ansätze verwenden und deshalb Politik im engen Sinn nur selten in den Blick nehmen. Eine diskursanalytische, genealogische Perspektive auf das Kräftefeld im Museum jedoch relativiert die Dissidenz der Kritik am repräsentierenden, erklärenden Ausstellen. Bereits ein erster Gang durch die bildungspolitische Entwicklung – hier am Beispiel der Bundesrepublik – belegt, dass die Relativierung fachwissenschaftlich-kuratorischer Deutungsmacht in der Museumsgeschichte des Wissens eher offene Türen einrannte als Zitadellen stürmte.
In den politischen Programmen zur „außerschulischen Bildung“ zeigt sich im 20. Jahrhundert deutlich ein Wandel vom gebildeten Subjekt zum sich selbst bildenden Subjekt.
In Deutschland war die „Volksbildung“ 1919 in der Weimarer Verfassung festgeschrieben worden (Raapke 1998, dort auch das Folgende zu den Konzepten der Erwachsenenbildung). Nach der Weiterverwendung dieses Begriffes im NS-Staat wurde der Terminus in der BRD der 1950er Jahre durch das Paradigma der „Erwachsenenbildung“ ersetzt. Bereits in den Empfehlungen der Studienkommission des Deutschen Bildungsrats von 1970 wird aus der „Erwachsenenbildung“ die „ständige Weiterbildung“. Hier artikulierte sich das Ende der fordistischen Ordnung von Lernen und Arbeiten, in der der Erwerb von Wissen noch bestimmten Lebensphasen zugewiesen war. 1985 schließlich formulierte das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft seine Politik als „lebenslanges Lernen für jedermann“. Die bildungspolitischen Maximen sind also durch einen Paradigmenwechsel vom abgeschlossenen Lernen, vom Lernen, das eine Lebensphase markiert, zum offenen, selbst gesteuerten Lernen als unendlicher Prozess charakterisiert.
Aber auch von unten, von außen, an den Rändern artikulierte etwa die Geschichtswerkstättenbewegung Selbstlernideale [Berliner Geschichtswerkstatt 1994, Grotrian 2009, Wüstenberg 2009]; selbst ermitteltes Wissen fungiert als emanzipativ, während mitgeteiltem Wissen der Verdacht von Macht anhaftet, und zwar sowohl in ideologiekritischer oder ideengeschichtlicher als auch in diskursanalytischer oder historisch-epistemologischer Perspektive. Eine wichtige Referenz der aktuellen Entwicklung neuer Vermittlungskonzepte stammt aus der politischen Philosophie, und zwar aus der antipädagogischen Lernphilosophie. Hier wird, meist auf der Grundlage von Jacques Rancière, der pädagogische Setzungsakt kritisiert. In Der unwissende Lehrmeister erörtert Rancière [2007: 17] das „Erklären“ als eine „doppelt gründende Geste“: Etwas erklären definiert, setzt den Beginn des Lernens, und es „gibt einen Grund an“ den es zu erreichen gilt. Das emanzipative und kritische Ideal dagegen akzeptiert die Bodenlosigkeit jeder Vermittlung: „Verstehen ist immer nur übersetzen, das heißt ein Äquivalent eines Textes geben, aber nicht seinen Grund“ [Rancière 2007: 20]; so soll ein „emancipated spectator“ [Rancière 2011] entstehen. Idealerweise, so Rancière [2007: 21], sollte „Lernen durch sich selbst und ohne erklärenden Lehrmeister“ stattfinden. Einschlägig für diese Orientierung war der viel diskutierte Versuch von Jean-François Lyotard und Thierry Chaput mit der Ausstellung Les Immatériaux in Paris 1985: Vor allem durch den Einsatz neuer Medien wollten sie die Schau als „Rhizom ohne Wissensfaden“ artikulieren, die neuen Medien sollten Anschaulichkeit auch ohne materielle Objekte und ein Zeigen jenseits konsekutiver Logiken ermöglichen – eben ohne „gründende“ Geste. Die Vermittlungstheorie und -praxis hat sich vielfältig und eingehend, konzeptuell wie empirisch, mit dieser Aporie jeder Vermittlung auseinandergesetzt [Harrasser u.a. 2012, Mörsch 2012, Sturm 2011].
Mit dem Verweis auf den Wandel des Bildungsideals in der nationalstaatlichen Bildungspolitik ergibt sich die Frage, wo denn der Unterschied liegt zwischen der bildungspolitisch geforderten lebenslangen Selbst-Bildung und der kritisch-theoretischen Formulierung des offenen, autonom und eben nicht von einer Institution induzierten oder auf ein vorgegebenes Wissen hin orientierten Lernens: Gerade das Paradigma des Selbst-Ermittelns von Wissen, das sich doch als institutionenkritisch und als repräsentationskritisch versteht, ist längst eingeholt und entwendet worden von einer (auch neoliberalen) staatlichen Bildungspolitik, die alle Reserven im Subjekt sucht (zur BRD: Alheit 2012; zu Museen und Ausstellungen: Illeris 2006). Gilles Deleuze hat das in seinem kurzen Text „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ im Anschluss an Foucaults Definition der Disziplinargesellschaft folgendermaßen formuliert: „Denn wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. (…) In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendetwas fertig wird.“ [Deleuze 1993: 257] In der Bildungssoziologie hatte Pierre Bourdieu früh darauf hingewiesen, inwiefern Selbstlernideale strategisch interessierte Ausrichtungen von Bildung durch diejenigen Klassenfraktionen sind, die über viel kulturelles Kapital verfügen, und wie sie in dem historischen Moment mobilisiert wurden, als formale Zugangsschranken zu Bildung demokratisch nicht mehr haltbar waren. Pierre Bourdieu war deshalb ein entschiedener Gegner davon, solche Selbstlernideale zu bildungspolitischen Maximen zu machen und öffentliche Güter für sie zu verwenden [Bourdieu/Passeron 1990]. Er betrachtete sie weniger als öffnende Strategien zugunsten von Ausgeschlossenen, sondern als Mittel, mit dem diejenigen, die über viel kulturelles Kapital verfügen, bestimmte Bereiche noch mehr als zuvor für sich privilegiert in Anspruch nehmen können [ebd.: 13].
Selbstlernideale sind fester Bestandteil der Praxis des Zeigens geworden. Um das an einem Beispiel zu erläutern: Das Berliner Museum der Dinge will in seinem Vermittlungsangebot namens Ding-Erklärungen kein vorgefügtes Wissen in einer klassischen Führung präsentieren. Sondern die Ding-Erklärer in der Ausstellung sollen erst dann reden, wenn BesucherInnen eine Frage haben.[12] Als ich vergangenes Jahr ein solches Angebot besucht habe – im Rahmen einer Tagung, an der überwiegend museologische und kuratorische Fachleute teilnahmen –, antwortete eine der Teilnehmerinnen auf die Erläuterung des Prinzips der Ding-Erklärung durch den Erklärer (dass er nämlich fortan nur auf Fragen antworten, aber keine vorbereitete Führung halten werde): „Das Antiautoritäre funktioniert bei uns nicht“. Ohne weitere Erklärung folgte das Publikum dann interessiert dem Ding-Erklärer, der eine klassische Führung machte, der alle sehr aufmerksam zuhörten, bei der aber keine einzige Frage gestellt wurde: Die BesucherInnen wollten sich keinen eigenen Reim auf die Exponate in der als Schaudepot geordneten Ausstellung machen, sondern sie wollten zuerst einmal eine Geschichte erzählt, ein fixiertes Wissen mitgeteilt bekommen. Plakativ formuliert: sie wiesen die Anrufung als selbstlernende Subjekte zurück. Es geht mir mit dieser Beobachtung nicht darum, das eine oder das andere Vermittlungsformat als gut oder schlecht, als richtig oder falsch zu bewerten. Solche Auseinandersetzungen um Vermittlungsformate dokumentieren aber die Notwendigkeit, die vordergründige Plausibilität der Gleichsetzung von selbst gemachtem, selbst ermitteltem Wissen als emanzipativ und mitgeteiltem Wissen als Setzung und Überwältigung zu reflektieren.
3. Emanzipation unter professioneller Aufsicht: „Kultur für alle“
Solche bildungspolitischen Demokratisierungsbemühungen haben auch Bewegung in die Museen gebracht. Hilmar Hoffmanns Programm „Kultur für alle“ (1970) wollte die Museen für alle Bildungsgruppen öffnen; dabei war Didaktisierung des Zeigens das Mittel der Wahl [Spickernagel/Walbe 1976]. Und bereits diese intendierte Öffnung des Museums war verknüpft mit Vorstellung vom „aktiven Publikum“ (Feidel-Mertz/von Wolzogen 1980 mit Verweisen auf Museen in Großbritannien und in den USA).
Ein genauerer Blick auf den mit dem Programm „Kultur für alle“ begonnenen kuratorischen Aufbruch im Museum zeigt erneut, inwiefern diese Öffnung verquickt war mit Kämpfen um Deutungshoheit und Professionalisierung im modernen Museum. Nach der höheren Schul- und Universitätsbildung sollten im Programm des Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann auch die Museen für Publikum aus allen sozialen Schichten nutzbar werden [Hoffmann u.a. 1974]. Das Programm „Lernort contra Musentempel“ war das Fazit einer Tagung, bei der Hoffmann mehr „Bildungsgerechtigkeit“ gefordert hatte; die Didaktisierung der Ausstellungen sollte eine bessere Zugänglichkeit der Museen schaffen [Spickernagel/Walbe 1975]. Zugleich aber sollte dort auch Kultur von allen gezeigt werden; von Sozial- und Alltagsgeschichte versprach man sich emanzipative Impulse und eine größere Attraktivität für eine Erweiterung des Publikums als von den bis dahin dominierenden Herrschafts- und Ereignisdaten.
„Kultur für Alle“ und die damit intendierte soziale Erweiterung der Verwendung von Museen war aber nicht nur eine (zunächst) von einer intellektuellen, künstlerischen, emanzipativen, liberalen Elite vertretene Programmatik der Öffnung. In den 1970er Jahren findet sich auch die Intensivierung des Diskurses um Museen und Ausstellungen im Modus der Schließung und Grenzziehung, nämlich in Gestalt der Definitionsanstrengungen des Deutschen Museumsbundes. Diese nahmen gerade in dem Jahrzehnt an Schärfe zu, in dem die Häuser doch eigentlich geöffnet werden sollten.
So forderte der damalige Präsident des Museumsbundes unter der Überschrift „Was ist ein Museum?“: „Auf jeden Fall ist es an der Zeit, einer ungehinderten Verwendung des Begriffs ‚Museum’ ein Ende zu setzen. Kommentare sind bitte an den Vorsitzenden oder die Geschäftsstelle des DMB (Deutschen Museumsbundes, d. Verf.) oder an die Schriftleitung (der Museumskunde, d. Verf.) zu senden.“ [Klausewitz 1978].[13] Dabei wandte sich die Standesorganisation mit besonderer Schärfe gegen zwei Verwendungsweisen des Museumsbegriffs: gegen dessen Verwendung „für rein kommerzielle Zwecke“ – ein Museum darf „keine kommerzielle Struktur oder Funktion“ haben; und gegen Sammlungen, die nicht wissenschaftlich plausibel gemacht werden. Die Angestrengtheit der Situation, die im Nachhinein manchmal zur bundesweiten Demokratisierung der Museen ausgehend vom Frankfurter Kulturdezernat verklärt wird, zeigt sich auch daran, dass die Liste der Nicht-Museen in diesem Beitrag der Museumskunde aus dem Jahr 1978 länger und detaillierter ist als die Positivliste: „5. Nicht als Museum werden angesehen: Konzeptionslose Ansammlungen verschiedenartiger Objekte ohne fachbezogenen Hintergrund/Gleichartige Objektansammlungen ohne fachbezogenen Hintergrund oder ohne Bildungsfunktion (z.B. Bierdeckelsammlungen)/Fachbezogene, aber nicht zuletzt einem kommerziellen Zweck dienende Verkaufsschauen!“[14] Die beabsichtigte Demokratisierung der Museen zeigt hier ungewollt ihre elitäre Rückseite: ja, Kultur sollte nun allen offen stehen, die Produktion von Kultur hingegen sollte ein Privileg der Experten bleiben. Mit dieser Einengung des Museumsbegriffs artikulierten sich berufsständische Interessen, und sie diente der Sicherung von Ressourcen für die Institution. Zugleich aber schloss diese Definition die meisten bestehenden Sammlungen aus der Welt der Museen aus. Vor kurzem ist eine Monographie erschienen, die sich diesen populären Sammlungen, hier „Wilde Museen“ genannt, grundlegend widmet [Jannelli 2012]. 40 Jahre nachdem die Ausstellungssäle der Museen für ein größeres Publikum verwendbar gemacht werden sollten, und 40 Jahre nachdem zeitgleich die kuratorischen Büros der Museen sorgfältig für Fachleute reserviert wurden, wird das Amateurmuseum museologisch entdeckt und untersucht – eben jene „Bierdeckelsammlungen“, die der Deutsche Museumsbund 1978 als Schreckbild seriöser Museumsarbeit benannte: ortsgeschichtliche Sammlungen der Pfarrer und Heimatvereine, Erinnerungsstuben der pensionierten Belegschaft einer längst geschlossenen Fabrik, handwerkshistorische Häuser von Meistern im Ruhestand, Heimatstuben deutscher Flüchtlinge und Vertriebenen [z.B. dazu die differenzierte Fallstudie Eisler 2011] und ähnliches. Während große Häuser unter dem Paradigma der Partizipation Stadtteile zu Laboren erklären und deren BewohnerInnen nun die Darstellung ihrer Stadt in aufwendigen Beteiligungsverfahren selbst produzieren sollen,[15] zeigt die Erforschung populären Zeigens, inwiefern die „wilden Museen“ genuin partizipativ sind – allerdings nicht in der von der professionellen oder kritischen Museologie beabsichtigten Weise: Meist haben solche Einrichtungen nur wenige Stunden in der Woche geöffnet, und sie sind oft nur in Form einer höchst persönlichen Führung durch einen leidenschaftlichen Betreiber besuchbar [Jannelli 2012]. Die Professionalisierung des Museums unter dem Diktum seiner sozialen Öffnung forderte als Preis die Leugnung der Verwandtschaft großer Häuser mit den Sammlungspräsentationen von Liebhabern.
4. Für eine Genealogie der „Partizipation“
Wenn die Museologie romantische Selbstlernideale nicht lediglich affirmieren will, ist eine Reflexion des Ineinanders von Ausstellungen „von allen“ und partikularen Interessen von wenigen erforderlich. Im Kontext der new museology erscheinen partizipative, das Publikum grundlegend involvierende Ansätze und Formate von Bewegung, Performanz, Praxis im Ausstellungssaal bisweilen als Ausweg aus der Krise der Repräsentation in Museen, als Strategie, mit der die Institution das Terrain von Macht hinter sich lässt. Das hier skizzierte Gefüge aus bildungspolitisch instituierten Selbstlernidealen, deren sozial ungleicher Verfügbarkeit, dem Ineinander von sozialer Öffnung und berufsständischer Professionalisierung des Kuratierens und Vermittelns sollte hingegen das Kräftefeld sichtbar machen, mit dem alle Bemühungen um ein anderes – hier: partizipatives, relationales, bewegendes – Zeigen konfrontiert sind. Die Bewegung des Publikums im modernen Museum ist ein Format, das nicht nur in kritischer Absicht plausibel ist.
Dr. Elisabeth Timm ist Professorin für Kulturanthropologie/Volkskunde am Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Familie und Verwandtschaft, Verhaltenslehren; 2009 bis 2012 Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Doing kinship with pictures and objects. A laboratory for private and public practices of art“ (Konzept und Leitung; Finanzierung: wwtf Wien); aktuelle Publikationen: (with K. Dankl, T. Mimica, L. Nieradzik, K. Schneider) ‘Fault lines of participation: An ethnography translated into an exhibition on family and kinship’, in: museum and society 11(1) 2013, pp.pp. 82-99; Timm, E.: ‘Grounding the family. Locality and its discontents in popular genealogy’, in: Ethnologia Europaea: Journal of European Ethnology 42(2) 2012, pp. 36-50.
Literatur