What has happened to this film?

Über das Projekt „Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart“

Stefanie Schulte Strathaus (Berlin)

 

 

 

„Das Arsenal ist keine Organisation, sondern ein Organismus.“ [1]

(Naum Kleemann)

 

Über einen Projektzeitraum von zwei Jahren (2011–2013) wurden 37 Künstler, Filmschaffende, Performer, Musiker, Kuratoren und Wissenschaftler, sowie vier Stipendiaten des Goethe-Instituts eingeladen, Projekte aus dem Archivbestand des Arsenal – Institut für Film und Videokunst zu entwickeln. Mit seinen 8.000 Titel spiegelt das Archiv ein halbes Jahrhundert internationaler Filmkunst jenseits des Mainstreams anhand der lebendigen Geschichte einer Berliner Institution, die in ihrer Struktur weltweit einzigartig ist. In der Sammlung befinden sich Filme aus aller Welt, aller Genres, Längen und Formate. Das Arsenal versteht seine Sammlung als „Living Archive“ – ein Archiv, das nur in Bezug auf den Betrachter Bedeutung haben kann.

In der Umsetzung des Projekts wurde deutlich, dass Themen wie Forschung, Sicherung und Erhalt untrennbar mit heutigen Fragen zu Ausstellungspraxis, Kunstproduktion und Gegenwartspolitik verbunden sind. Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart stellt damit den Versuch einer zeitgemäßen Archivaufarbeitung dar, die nicht nur dem Selbsterhalt dient, sondern gleichzeitig Neues schafft und Zugänge herstellt.

 

Por primera vez (Zum ersten Mal)

Alle Teilnehmer standen vor derselben Aufgabe: einzudringen in einen Corpus von Material, das teilweise schwer entzifferbar vor ihnen lag, oder verborgen im Geflecht einer Institution und hinter Interpretationen und Zuschreibungen kaum noch aufzufinden war. Die Ausgrabungen veränderten das Material, aktivierten aber auch sein Eigenleben. Aus dem Zusammenspiel dieser Bewegungsrichtungen entstanden Bedeutungsebenen quer durchs Archiv, die nun weit darüber hinaus verweisen: Altes wurde aufgearbeitet, Neues produziert, die Grenze zwischen alt und neu wurde zum Gegenstand der Verhandlung. Die Produktivität machte nicht Halt am Eingang des Kinos: Es entstanden Performances, Installationen, Soundarbeiten und Forschungsprojekte.

Wie andere Archive sind auch Filmarchive Bewahrer von Dokumenten einer historischen Zeit. Das den Objekten Gemeinsame beschreibt den Sammlungsauftrag, der dem Archiv zugrunde liegt, und anhand dessen es beurteilt wird.

Was jedoch, wenn es einen solchen Ursprung nicht gibt? Wenn das einzige dokumentierte Sammlungskriterium, das auch nur auf sehr wenige Filme zutrifft, das Kürzel „WPD“ (War plötzlich da) trägt? Wo kam es her? Warum ist es geblieben? Wie hat es sich verändert? Was wie ein zufallsgesteuertes Prinzip klingt, ist in Wahrheit ein augenzwinkernder Hinweis auf ein grundlegendes Archivverständnis: eine Ansammlung von Objekten, die sich in einem bestimmten Moment begegnet sind, aus Motiven heraus, die sich nur vermuten lassen. Ihre Narrative werden immer die Geschichten derer sein, die sie erzählen.

Vielleicht wie die des namenlosen Dichters in Das Wachsfigurenkabinett von Paul Leni (1924), der sich die Geschichten des Kalifen von Bagdad, Harun al-Raschid, Iwan des Schrecklichen und von Jack the Ripper ausdenkt.

Das Wachsfigurenkabinett war der erste Film, den der 1963 gegründete Verein „Freunde der Deutschen Kinemathek“ zur Aufführung brachte. Sein Ziel war, die Filmbestände der kurz zuvor ins Leben gerufenen Deutschen Kinemathek der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und mit Filmen anderer Archive sowie mit zeitgenössischen Filmen zu kombinieren. Damit war ein unendlicher Handlungsraum geschaffen, mit dem Filmgeschichte geschrieben und umgeschrieben werden konnte.

Im gleichen Jahr endete in New York die Arbeit des wohl erfolgreichsten und einflussreichsten Filmclubs weltweit: Cinema 16. Amos und Marcia Vogel, die aus Wien vor dem Nationalsozialismus über Kuba nach New York geflohen waren, hatten ihn von 1947 bis 1963 betrieben. Es war das erklärte Ziel dieses Filmclubs, das Sehen und damit die Gesellschaft zu verändern. Dazu wurden bis dato unbekannte Filme gezeigt, viele davon aus Europa, Dokumentar- und Spielfilme, Lehrfilme, Stummfilme, frühe Avantgarde und amerikanischer Underground, „ausgewählt und dialektisch angeordnet, so dass die Besonderheit der einzelnen Filme im Vordergrund stand und gleichzeitig ein ,Meta-Film‘ geschaffen wurde, der ein tiefgreifendes Nachdenken über das Kino und seine Funktion in der Gesellschaft in Gang setzte“. [MacDonald 2005: Seite 2, eig. Übers.] Die Energie, die die Programmgestalter, Zuschauer und Kritiker gemeinsam verspürten und selbst hervorbrachten, schöpfte sich aus der Tatsache, dass es etwas Neues zu sehen gab, etwas, das sämtliche Seh- und Denkgewohnheiten radikal veränderte. Doch nicht jeder Avantgardefilm war gleich beim ersten Mal erfolgreich: „Oh, you don’t like it?“ hieß es dann, „We’ll show it again.”

 

Im Jahre 1963 erschien die Aufgabe, das unabhängige Kino öffentlich durchzusetzen in New York als vollbracht, nachdem viele der gezeigten Filme inzwischen auch in anderen Kinos oder sogar im Fernsehen gezeigt wurden.

Diese Annahme war vielleicht etwas zu optimistisch: In seinem Buch Film as a Subversive Art wurde sie 1974 von Amos Vogel selbst relativiert, als er anmerkte, dass viele derjenigen, die subversive Filme machten, Theoretiker seien, die vor allem gleich gesinnte Kritiker und Intellektuelle in ihren Bann gezogen hatten. In Versalien fügte er hinzu: „BUT THE REAL QUESTION REMAINS: HOW TO REACH THE MASSES ‘OUT THERE’ WITH FIVE HEAVY CANS OF 35 mm FILM AND NOWHERE TO SHOW THEM?“ [Vogel 2005: Seite 321]

So begann auch ein weiterer Handlungsstrang in der Geschichte der „Freunde der Deutschen Kinemathek“: Irgendwann in den 1960er Jahren reiste Jimmy Vaughan, Mitarbeiter des New Yorker Filmemachers Lionel Rogosin, mit der 17 kg schweren 35-mm-Kopie seines Films Come Back, Africa (1958) [2] – heute ein Klassiker über die Apartheid-Politik in Südafrika – durch Europa, auf der erfolglosen Suche nach einem Verleih. In Berlin bat er Erika Gregor, sie bei ihr hinterlegen zu dürfen, in der Hoffnung, dass vielleicht etwas damit geschehen würde. Das könne er, antwortete sie, wenn er ihn eigenhändig auf ihren Berliner Hängeboden hieven würde. Von da aus geriet er zunächst auf den Spielplan der „Freunde der Deutschen Kinemathek“ und anschließend in andere Filmclubs und Kinematheken. Die Sammlungs- und Verleihtätigkeit des Vereins, die später die Programme der Kommunalen Kinos prägte[3], hatte begonnen.

Die konstitutive Bedeutung des „ersten Sehens“ hatte sich auch in die kubanische Filmgeschichte als Erkenntnismoment und damit als politischer Akt eingeschrieben: Mit dem Gesetz zur Gründung des ICAIC, des Kubanischen Instituts für Filmkunst und -industrie, begann kurz nach dem Sieg der Revolution die Geschichte eines neuen kubanischen Filmschaffens. Die Regierung schuf zum Zweck der „audiovisuellen Alphabetisierung“ der Bevölkerung das „cine móvil“, um mittels Lastwagen, von Maultieren gezogenen Fuhrwerken und Booten das Kino in die entlegensten Gegenden der Insel zu bringen. Der 1967 entstandene Kurzfilm Por primera vez von Octavio Cortázar zeigt, wie mit einem solchen mobilen Kino Bewohnern eines abgelegenen Bergdorfs zum ersten Mal ein Film vorgeführt wird: Chaplins Modern Times. Zuvor werden sie danach befragt, wie sie sich das Kino vorstellen. „Es muss ein Fest sein“, so eine Dorfbewohnerin, „und etwas sehr Wichtiges.“ Versteht man die Geschichte des Kinos als eine Geschichte des Sehens, so ist nicht nur dieser, sondern jeder Film ein Archiv sowohl seiner eigenen, als auch der gesamten Kinogeschichte.

Weitere Erzählanfänge waren 1970 die Eröffnung eines eigenen Kinos in Berlin-Schöneberg, benannt nach dem sowjetischen Stummfilm Arsenal von Alexander Dowshenko, 1971 die Durchführung des ersten Internationalen Forum des Jungen Films[4], 1973 das erste Internationale Frauenfilmseminar, 1989 der Mauerfall[5] und die anschließende Rettung von Filmkopien aus den Beständen der abziehenden Sowjetarmee[6], 2000 die Neueröffnung am Potsdamer Platz, 2006 die Erweiterung der Berlinale-Sektion Forum durch das Forum Expanded, 2008 ein Relaunch und die Umbenennung des Vereins in Arsenal – Institut für Film und Videokunst sowie über die Jahrzehnte verteilt unzählige Sonderprojekte, Premieren, Filmreihen, Tagungen.

Die Sammlung wurde zu einem Spiegel kuratorischer Handschriften und Interessen sowie internationaler Entwicklungen des unabhängigen Kinos. Stets standen Filme im Blickpunkt, die den Entwicklungsprozess des Filmmediums vorantreiben und neue gesellschaftliche Funktionen des Films sichtbar machen sollten. Doch die Bedeutung dieses Anspruchs änderte sich ständig. War es in den 1970er Jahren das New American Cinema, so prägte in den 1980er und 1990er Jahren die Entdeckung neuer Filmländer z.B. in Asien oder Afrika das Programm. Dabei war es von Bedeutung, die Filme nicht nur für ein einmaliges Ereignis nach Berlin zu holen, sondern sie darüber hinaus an möglichst vielen Orten und in möglichst vielen Kontexten sichtbar zu machen und lebendig zu halten. Aus diesem Grund wurden viele von ihnen deutsch untertitelt und fanden damit Eingang ins Archiv.

Insbesondere durch die Arbeit des Forums vermehrte sich der Filmstock jedes Jahr um bis zu 100 Filme häufig noch unbekannter Regisseure, darunter Derek Jarman, Danièle Huillet/Jean-Marie Straub[7], Theo Angelopoulos, Manoel de Oliveira, Andrej Tarkowskij, Nagisa Oshima, Otar Iosseliani[8], Park Kwang-Su, Chris Marker[9], Jonas Mekas, Michael Snow, Joyce Wieland, Mrinal Sen, Mani Kaul, Hou Hsiao-Hsien, Ousmane Sembène, Alexander Sokurow, Jacques Rivette, Marcel Ophuls, Laura Mulvey und Peter Wollen[10], Frederick Wiseman, Alberto Grifi[11], Robert Kramer, Ulrike Ottinger, Yvonne Rainer, Helke Misselwitz, Raymond Depardon, Kitlat Tahimik[12]. Um nur einige zu nennen.

Die Filme begannen untereinander ein eigenes Netzwerk zu bilden. Filmemacher erkannten das Aussagepotenzial einer solchen Sammlungspolitik, bei der es nicht darum ging, Kapital zu vermehren, sondern Dialoge herzustellen und lebendig zu halten. Sie wollten ihre Filme in der Nähe bestimmter anderer Filme sehen, und übergaben sie deshalb der Sammlung. Aus dem gleichen Grund hinterließ die 2001 verstorbene Berliner Filmemacherin Riki Kalbe ihr filmisches Werk dem Arsenal[13]. Auch die New Yorker Plaster Foundation traf ihre Entscheidung auf der Grundlage solcher Wahlverwandtschaftsverhältnisse, als sie dem Arsenal 2009 alle 16-mm-Filme der 20 Jahre zuvor verstorbenen queeren Underground-Ikone Jack Smith überließ. So wurde nebenbei einem Wunsch des 1993 an den Folgen von AIDS verstorbenen Arsenal-Mitarbeiters Alf Bold Rechnung getragen, der in enger Verbundenheit mit Vertretern des New American Cinema eine einzigartige Sammlung vorwiegend amerikanischer Avantgarde-Filme in die Sammlung integriert hatte[14]. Darauf aufbauend etablierte er als einer der Ersten die Idee des Kuratierens von Kurzfilmprogrammen unter Einbeziehung alter und neuer Filme, die sich nicht in erster Linie durch Form oder Inhalt ähnelten, sondern selbst experimentelle Komposition oder diskursive Praxis waren.

Bis heute finden auf diesem Weg noch Lebenswerke Eingang in die Sammlung, wie das des Künstlers Ludwig Schönherr[15], oder die Ergebnisse nahe stehender Projekte wie die Kurzfilmprogramme des Arab Shorts[16] Festivals, das ein Jahr vor und zwei Jahre nach dem Sturz Mubaraks am Goethe-Institut in Kairo stattfand.

 

Stimmen aus der Vergangenheit: Das Archiv lebt!

2010 widmete sich die Deutsche Guggenheim aktuellen Positionen aus Indien. Die Ausstellung Being Singular Plural versammelte eine Gruppe von Künstlern und Filmemachern, die innovative Positionen der indischen Gegenwartskunst repräsentieren sollten. Die Ko-Kuratorin des Filmprogramms und spätere Living-Archive-Teilnehmerin Nicole Wolf erinnert sich:

Während meiner Recherche über den politischen Dokumentarfilm in Indien kam mir immer wieder ein Titel zu Ohren: Kya Hua Is Shahar Ko? (What Has Happened to this City?) von Deepa Dhanraj (1986). Der Film weckte also meine Aufmerksamkeit, ohne dass ich ihn gesehen hatte. Die Filmemacherin selbst war sich nicht sicher, ob ihre eigene 16-mm-Kopie noch vorführbar sei und sie selbst hatte den Film seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Erst im Zuge meiner Recherche für das Filmprogramm Moving Politics. Cinemas from India stellte ich fest, dass eine Filmkopie von Kya Hua Is Shahar Ko? im Archiv des Arsenals existiert.

Die erste Sichtung des Films am Schneidetisch wurde zu einem wirklichen Film-Ereignis, im Sinne des momentären Zusammentreffens zeitlicher Heterogenität. Die Tatsache, dass ich einen Film sah, der für mich bislang nur aus Erinnerungen und Gesprächen – mit der Filmemacherin und anderen Filmemachern, die den Film Mitte der 1980er gesehen hatten – und meinen daraus entwickelten Vorstellungen bestand, entwickelte ein besonderes Potential. Gleichzeitig beeindruckte die enorme Aktualität des Films genauso wie die Besonderheit der filmischen Verarbeitung von Gewalt, Religion und Politik. [17]

Als das bekannt wurde, war dringender Handlungsbedarf geweckt. Der Film musste gesichert werden. Er hatte im Arsenal überlebt, weil für das Forum 1988 eine untertitelte Kopie hergestellt worden war. Nun hatte aber die einzige noch existierende Kopie, die als Original dienen musste, deutsche Untertitel. Wollte man den Film auch für das Publikum in Indien wieder zugänglich machen, waren sie störend. Dafür musste eine Lösung gefunden werden.

Wie viele Fälle wie Kya Hua Is Shahar Ko? gab es wohl noch im Archiv? Wie sollten sie ausfindig gemacht werden? Wie groß war der Handlungsdruck? Im Zuge der Digitalisierung der Kinos, die diese Filme Jahrzehnte lang gespielt hatten, mussten viele ihre 16-mm-Projektoren entsorgen. Der Verleih war fast zum Stillstand gekommen. Gleichzeitig gab es ein wachsendes Interesse an Filmen der 1970er, 80er und 90er Jahre von Seiten der Bildenden Kunst, im Internet, in der jüngeren Filmwissenschaft und Filmvermittlung[18]. Was musste getan werden, um diesem Interesse nachkommen zu können? Eine komplette Digitalisierung der Bestände war keine Option: Es war weder finanzierbar, noch gab es Lösungen für die Datenspeicherung in so großen Mengen. Da es nie einen Sammlungs- oder gar Archivierungsauftrag gegeben hatte, sondern die Filme im Gegenteil viel gezeigt wurden, waren sie abgespielt und als Ausgangsmaterial kaum brauchbar. Die Rechte waren ein weiteres Problem: Bei 8.000 Filmen war davon auszugehen, dass man es mit 8.000 Einzelfällen zu tun hatte, die geklärt werden mussten, in vielen Fällen waren andere Archive zuständig oder hatten auch schon gehandelt. Die vielen Freundschaftsgesten der früheren Jahre konnten zum Problem werden: Hatte ein Filmemacher in den 1970er Jahren dem Arsenal eine Kopie überlassen, so geschah das häufig ohne schriftlichen Vertrag. Filmemacher mit Vertrag, denen noch Jahre nach Ablauf der Vertragslaufzeit Lizenzanteile ausgezahlt wurden, hatten einst die Rechte für die BRD und West-Berlin erteilt und häufig nur für den Einsatz der einzigen vorhandenen Kopie, nicht aber für eine Digitalisierung, von der damals noch niemand etwas ahnte. Ganz zu schweigen von den Musikrechten, die in den 1980er Jahren niemanden interessierten.

Wo also anfangen? War es wirklich die Aufgabe des Arsenals, diese Filme zu retten?

 

Irene ist viele [19]

Wenn es so viele Filme gab, die unabhängig von ihrem Bekanntheitsgrad an einem einzigen Ort versammelt und noch rein analog waren, dann erzählten diese Filme nicht nur etwas über sich selbst. Sie erzählten die Geschichte einer Westberliner Institution, ihr Verhältnis zur geschriebenen und ungeschriebenen Filmgeschichte, zu anderen Menschen und Orten, zum Rest der Welt. Die Sammlung vermochte das, was jener unbekannte Dichter im Wachsfigurenkabinett einst tat: aus einem radikal subjektiven Blickwinkel Geschichten bekannter Figuren erzählen.

Die Position dieses Blickwinkels fächerte sich unter all jenen auf, die durch ihre Arbeit als Filmemacher oder Programmgestalter etwas zum Entstehen der Sammlung beigetragen hatten. Die Ton-Steine-Scherben-Songzeile „Irene ist viele“ aus einem Film von Helke Sander, der 1973 beim 1. Internationalen Frauenfilmseminar gezeigt wurde, bezieht sich zwar auf das Verhältnis des Privaten zum Politischen im Kampf der Frauenbewegung, doch leihen wir sie an dieser Stelle gern aus: Mit Blick auf die Geschichte des Archivs und seiner Institution waren Singular und Plural nicht mehr voneinander zu trennen. Sie bildeten ein einziges Gemurmel, am Ende ein weißes Rauschen oder ein revolutionärer Sprechchor. Ein großes Ganzes. Existierte der einzelne Film überhaupt ohne diesen Bedeutungsüberschuss?

Die Aufgabe bestand darin, jenen Überschuss zu erzeugen, ihn zu durchdringen und zu sehen, welche Filme er hervorbrachte. Kuratoren, Künstler und Filmwissenschaftler, zu deren Produktionsprozess Archivrecherchen zählten, stießen auf Filme, die als verschollen oder schwer zugänglich galten. War es dann nicht sinnvoll, zur Archivaufarbeitung solche Produktionsprozesse aktiv zu initiieren? Und zwar nicht nur einmal, sondern vielfach, am besten unendlich oft, um die unzähligen Schnittstellen zwischen Gegenwart und Geschichte zum Ausdruck zu bringen. Sie alle würden das erleben, was Wolf das „Film-Ereignis“ nennt, sie würden die Energie nutzen, die daraus entsteht, dass etwas zum ersten Mal gesehen wird, etwas, was vielleicht schon dem Vergessen anheimgefallen war. Por primera vez.

Jene Filme, denen sie begegneten, würden auf den jeweiligen Handlungsbedarf überprüft und gegebenenfalls restauriert, digitalisiert, vertraglich neu zugänglich gemacht oder als DVD veröffentlicht. Gleichzeitig stünden sie im Moment ihrer Wiederentdeckung nicht nur unmittelbar in einem zeitgenössischen Kontext, sondern in einem Produktionszusammenhang, der sie zu neuen Filmen werden ließ.

Das Arsenal lud 37 Filmemacher, Künstler, Performer, Musiker, Kuratoren, Forschende und Autoren ein, von ihrer jeweiligen Perspektive ausgehend im Archiv des Arsenals zu recherchieren und Projekte zu entwickeln. Hinzu kamen mit Hilfe eines eigens vom Goethe-Institut eingerichteten Stipendiatenprogramms Teilnehmer aus Indien, Südafrika, Jordanien und Brasilien.

Insgesamt wurden 1.100 Filme gesichtet, an Schneidetischen oder einmal monatlich mit Publikum auf der großen Leinwand. Es war für alle das erste Sehen oder nach langer Zeit das erste Wiedersehen. Im Anschluss an die Vorführungen gab es Zeit, das kollektive Wissen zusammenzutragen, gemeinsam zu spekulieren oder öffentlich im Internet zu recherchieren. Immer dabei: Erika und Ulrich Gregor, Mitbegründer und langjährige Leiter der Institution, die nicht nur gelebte Geschichte verkörpern, sondern das Gedächtnis des unabhängigen Kinos bilden, angefüllt mit dem Wissen, das man nicht in den Regalen findet, schon gar nicht in den Datenbanken[20]. Zwei Jahre lang sprangen so die Teilnehmer und Zuschauer von Film zu Film, von Geschichte zu Geschichte.

Die Filmemacherin Ulrike Ottinger, deren Gesamtwerk ebenfalls Teil des Archivs ist, beschrieb einmal das so genannte Stationenkino, das sie zwischen dem Nomadischen und dem Sesshaften verortete:

Das Modell des Stationenkinos bewegt sich und ermöglicht Kommunikation von Innen nach Außen und von Außen nach Innen, was zu den verblüffendsten Ein- und Aussichten führt. Es ist ein Modell, das auch die komplexesten Rück-Blicke und Vor-Schauen erlaubt. Und es ist ein Kino, das zugleich die Ordnung und die Anarchie der Bilder ermöglicht.

Das Modell erinnert an das Kino des „neuen Archivars“, den Angela Melitopoulos via Gilles Deleuze in das Projekt einführte:

Der neue Archivar kündigt an, dass er nur mehr Aussagen berücksichtigen werde. Er wird sich nicht mit dem befassen, dem auf tausenderlei Weise die Aufmerksamkeit der früheren Archivare galt: den Präpositionen und den Sätzen. Die vertikale Hierarchie der Präpositionen, die sich übereinander schichten, wird er ebenso vernachlässigen wie das Nebeneinander der Sätze, in dem jeder Satz auf einen anderen zu antworten scheint. Beweglich wird er sich in einer Art von Diagonalen einrichten, die lesbar machen wird, was man anders nicht begreifen konnte, eben genau die Aussagen. Eine atonale Logik? Es ist ganz normal, wenn man hier eine gewisse Unruhe verspürt. [21] [Deleuze 1977: 59-85]

 

Nervous Cinema [22]

Die Unruhe war groß, ständig. Zuerst waren es die Teilnehmer selbst, die angesichts der Sammlung nervös wurden. Die Subjektivität eines jeden Einzelnen beschrieb zwar eine grundsätzliche Position gegenüber dem Ganzen, die der Entstehungsgeschichte der Sammlung entsprach, war aber doch eine spezifische. Wie sollte man sich selbst in dieses dichte Gefüge anderer subjektiver und vor allem: materialisierter Positionen einschreiben? Plötzlich erschien um das Archiv herum doch so etwas wie eine kaum zu durchdringende Hülle, die sich im veralteten, rudimentären Zustand der Datenbank zeigte, in der Tatsache, dass sehr viele Untertitel und das Papierarchiv größtenteils deutsch waren[23], aber nicht alle Teilnehmer deutschsprachig, oder einfach in der Aura des Altgewordenen.

War dieser Bann jedoch einmal gebrochen, war es die Institution, die nervös wurde. Überwältigt von einem Ozean vergessener Erinnerungen, die plötzlich an die Oberfläche kamen und Handlungsbedarf hervorriefen, wurde deutlich, dass die Verdrängung von Vergangenheit immer auch mit der Dosierung der Gegenwart zu tun hatte.

 

Irene wurde immer mehr

Die Öffnung des Archivs zog auch andere an: So die Künstlerin Filipa César, die in Guinea-Bissau auf ein Archiv mit Filmen und ungeschnittenem Material aus der Zeit der Dekolonisierung gestoßen war. Es stellte sich heraus, dass im Archiv des Arsenals eine Kopie des Films Acto dos Feitos da Guiné (Fernando Matos Silva, Portugal 1981) lagerte (Berlinale Forum 1981). Der Film ist eine Chronik des Befreiungskampfes in Guinea-Bissau und enthält Material aus anderen guineischen Filmen, das dort verlorengegangen ist[24].

Die Wiederentdeckung einiger Filme verlief also nicht nur entlang einer historischen, sondern auch einer geopolitischen Linie. Schon 1999 initiierte Heiner Roß eine Rückgabeaktion chilenischer Filme, die im Arsenal einst Schutz vor der dortigen Diktatur fanden[25]. Aber auch unter weniger repressiven Bedingungen haben weltweit viele Filme in ihren Ursprungsländern nicht überlebt. Die digitale Technik macht es möglich, dass durch Living Archive wiederentdeckte und restaurierte Filme wie Kya Hua Is Shahar Ko? oder ein feministischer Klassiker wie Committed (1983) von Sheila McLaughlin und Lynne Tillman[26] nicht nur Teil einer hiesigen Gegenwartskultur werden, sondern auch nach Indien, bzw. in die USA zurückkehren und Lücken in der dortigen Filmgeschichtsschreibung schließen, und damit neue Möglichkeitsräume öffnen können.

Jedes Projekt verzweigte sich und rief weitere Personen auf den Plan, zunächst natürlich die in der Welt verstreuten Filmemacher, deren Filme nun zum Gegenstand des Projekts wurden bzw. in manchen Fällen ihre Nachlassverwalter. Einige luden Gastteilnehmer ein, wie zum Beispiel die Gesprächspartner in Angela Melitopoulos’ Möglichkeitsraum-Veranstaltungen. Auch die Zuschauer der öffentlichen Sichtung[27] wurden zu Akteuren sowie Studierende einzelner Teilnehmer[28], technische Partner wie ARRI Film & TV Services und die Kornmanufaktur, die in den Digitalisierungen des alten Materials eine spannende Herausforderung erkannten. Die Perspektiven verzweigten sich ins Unendliche.

Living-Archive-Teilnehmer Anselm Franke[29] äußerte sich im Rahmen des Projekts Möglichkeitsraum der Teilnehmerin Angela Melitopoulos dazu, dass die Gesellschaft der Amharen im Hochland von Bolivien, Peru und Chile die räumliche Perspektive innehat, nach der „das, was wir kennen, sichtbar vor unseren Augen, die Zukunft jedoch für uns nicht sichtbar hinter unserem Rücken liegt“. Während er sprach, saß er zwischen den Regalen im Filmlager, das unmittelbar hinter dem Kinosaal untergebracht ist. Von dort wurde seine Rede auf die Leinwand übertragen.

Nicht wenige Projekte gingen noch weiter, verließen das Kino ganz und verlagerten sich in den Ausstellungsraum und auf die Bühne. Die Arbeiten reichen von ausgestelltem Archivmaterial (Entuziazm) über Video- und Objektinstallationen (Susanne Sachsse[30], Constanze Ruhm, Florian Zeyfang, Sabine Nessel, Klasse Hito Steyerl) über Performances[31] und Soundinstallationen[32] und Konzerte[33]. Entscheidend ist dabei nicht der multimediale, sondern der multiperspektive, der zerstreuende und multiplizierende Ansatz. Der Blick aus dem Ausstellungsraum auf das Kino bietet die Chance, es ganz neu zu entdecken. Was zunächst wie eine Entfernung vom Gegenstand erscheint, bricht das Medium Film bei genauerem Hinsehen auf seine Grundbestandteile herunter: Material und Bewegung – Raum und Zeit. Aus diesen Grundelementen wiederum etwas Neues herzustellen, was dem jeweiligen Umfeld standhält, ist eine Herausforderung, die institutionskritisches Potenzial besitzt.

Hier verbarg sich ein weiterer Grund zur Nervosität: Die Filme, die die Teilnehmer an die Oberfläche holten, waren zum Teil nicht mehr die, an die die Institution sich erinnerte. Waren die künstlerischen und kuratorischen Projekte dazu gedacht, einen konstruktiven Dialog zwischen Filmgeschichte und Gegenwart herzustellen, der beides neu erfand, bedeutete das zuweilen, dass sie der bislang gültigen Erinnerung entrissen wurden. So entziehen Martin Ebners Objekte, die zum Plakatmotiv des Projekts wurden, den zugrunde liegenden Film The Evil Faerie (Fluxfilm Nr. 25) von George Landow (1966) ganz der Erkennbarkeit[34]. Die Grenzen zwischen Kontextualisierung, Umdeutung, Abstraktion und Neuproduktion, sind verschwommen. Vor diesem Hintergrund erscheint jeder Film neu und kann so in seiner Eigentümlichkeit und Historizität erkannt werden. 2004 stritt Owen Land (ehemals George Landow) in einem Interview die Autorenschaft für The Evil Faerie sogar ab: „George Macunias had a number of films which didn‘t have titles on them. Then he put them together into his Fluxus reel and tried to remember who made them. It was an intentional Fluxus joke“. [Webber 2004: Seite 123]

Wenn auch „WPD“ das einzige Sammlungskriterium zu sein scheint, das schon aus Gründen des Vergnügens am Gossip bis heute einigen Filmen anhaftet, so lohnt es sich dennoch, auf datierte Kriterien, nach denen Filme einst geordnet wurden, zurückzublicken. Mit Hinweis darauf, dass es in Indien keine tief unterkellerten Gebäude gibt, wies uns die Teilnehmerin Madhusree Dutta aus Bombay gleich bei ihrer Ankunft darauf hin, dass der Begriff „Underground“ ein sehr westlicher ist. Dies hat sie gemeinsam mit Ines Schaber zum Ausgangspunkt zu einer Serie von Heften genommen, die sich der konstitutiven Begrifflichkeit von Filmarchiven widmen. [35]

Unser Bezugsrahmen reicht deshalb von diesen Begrifflichkeiten, die unser Denken geprägt haben, über die programmatische Dialektik des Cinema 16, das untrennbar mit der Geschichte des New Yorker Undergrounds verbunden ist, über den Blick auf das Kino aus der Perspektive einer Kunstinstitution wie den KW Institute for Contemporary Art, bis hin zu den Ideen einer in Gründung befindlichen Cimatheque in Kairo[36], die gleichzeitig Produktionsstätte, Kino und Filmarchiv sein wird, alle drei Aspekte aufeinander aufbauend, um neue Narrative zu ermöglichen. Sie und viele andere[37] sind Mitgestalter eines offenen, institutionellen Rahmens, der nur so dem Gegenstand Film gerecht werden kann.

Zum Projekt ist ein Katalog[38] mit 288 Seiten erschienen, der eine Sammlung von Texten und Bildern der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Living Archive enthält. Er stellt Projekte vor, die ein lebendiges Filmarchiv aufscheinen lassen, das in dieser Form nie vorher existierte, obwohl die Filme, die die kommentierte Filmografie enthält, vor Projektbeginn fast alle schon vorhanden waren.[39]

 

 

Der Text wurde erstmalig 2013 als Vorwort zum Katalog Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart veröffentlicht.

 

Literatur

Deleuze, Gilles/Foucault, Michel: „Ein neuer Archivar“. In: dies.: Der Faden ist gerissen. Berlin 1977.
MacDonald, Scott: Vorwort. In: Amos Vogel: Film as a Subversive Art. Thames & Hudson 2005.
Vogel, Amos: Film as a Subversive Art. Thames & Hudson 2005.
„Owen Land. Interview mit Mark Webber“ (2004). In: Mark Webber: Two Films by Owen Land. London/Wien 2005.

 

 

Stefanie Schulte Strathaus (Berlin) ist Ko-Direktorin des Arsenal – Institut für Film- und Videokunst (mit Milena Gregor und Birgit Kohler). Mitglied des Auswahlkomitees des Berlinale Forums sowie Gründerin und Leiterin des Berlinale-Programms Forum Expanded. Kuratorin zahlreicher Filmprogramme, Retrospektiven und Ausstellungen, unter anderem zu den Werken von Michael Snow, Guy Maddin, Heinz Emigholz, Birgit Hein, Ulrike Ottinger und Stephen Dwoskin; Ko-Kuratorin der Film- und Veranstaltungsreihe Wer sagt denn, dass Beton nicht brennt, hast Du's probiert? Film im West-Berlin der 80er Jahre (2006 mit Florian Wüst) und Live Film! Jack Smith! Five Flaming Days in a Rented World (2009 mit Susanne Sachsse und Marc Siegel, in Zusammenarbeit mit dem HAU/Hebbel am Ufer). Leitung des Projekts Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart am Arsenal – Institut für Film und Videokunst.

 

 

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[4]1971 fand – organisiert von den Freunden der Deutschen Kinemathek – das erste Internationale Forum des Jungen Films statt, dessen Gründung auf die Krise der Berliner Filmfestspiele im Jahr 1970 zurückging, als Auseinandersetzungen um die Aufführung von Michael Verhoevens filmischer Vietnamkriegsparabel O.K. zum Abbruch des Festivals führten. Um es anschließend zu reformieren, sollte das Forum unter der Leitung von Ulrich Gregor dem künstlerischen und unabhängigen Film eine neue Plattform bieten.
[19] Songzeile aus Eine Prämie für Irene (Helke Sander, BRD 1971)
[22] Nach den Nervous System Performances von Ken Jacobs.
[36] Die Teilnehmerin Ala Younis veröffentlicht ihre Projektergebnisse in einer Ausgabe der Cahiers de la Cimatheque und markiert damit den Beginn einer langfristig angelegten Partnerschaft zwischen dem Arsenal und der Cimatheque