Körper im Kontext systemischer Zuschreibungen: Marianne Wex und Gaëlle Bourges. Archiv als „Ent-Fremdung“


Lucie Ortmann (Hannover)

 

 

 

 

Im Jahr 2012 waren auffallend viele unbekleidete Frauen in Ausstellungen und Aufführungen zu sehen. Es handelte sich dabei um künstlerische Arbeiten, die geschlechterspezifische Körpersprache, Bild- und zitationelle Praxen zum Einsatz brachten und die entweder neu produziert oder neu produktiv gemacht wurden.[1] Parallel zu dieser unvermittelten Akkumulation auf Festivals und in Kunstinstitutionen formierte sich ein gesellschaftlicher Protest gegen als rückläufig wahrgenommene Werbestrategien mit klischeehaften Körperbildern.[2] Auch die feministische Gruppe Femen wurde spätestens durch ihre Aktionen auf der Fußballweltmeisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine bekannt.[3]

Im Folgenden sollen zwei künstlerische Positionen aus diesem aktuellen Kontext in Beziehung gesetzt werden, die in prägnanter Weise Bildarchive von geschlechterspezifischen Körperhaltungen zur Anwendung bringen. Die Positionen aus den Bereichen Bildende Kunst und Choreografie – deren Entstehung zwar über 30 Jahre auseinanderliegt, die aber beide 2012 präsentiert wurden – schaffen und setzen zugleich Bildarchive konventionalisierter Körpersprache ein. Sie installieren darüber hinaus jeweils eine textliche Ebene, mittels derer auch wissenschaftliche Praktiken wie Dokumentation, Deskription oder Statistik zum Einsatz kommen. Mein Fokus liegt dabei auf dem formal und medial jeweils vielschichtigen Umgang der beiden Künstlerinnen mit geschlechterspezifischer Körpersprache und ihrem performativen Charakter, sowie deren Dokumentation anhand alltäglicher Szenen und ihrer inszenierten und künstlerischen Darstellung und Tradierung. Zum einen handelt es sich um das Archivprojekt „Weibliche“ und „männliche“ Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse von Marianne Wex, welches der Badische Kunstverein in Karlsruhe in einer Einzelausstellung präsentierte. Diese konzeptuelle Arbeit aus den 1970er Jahren wurde in Ausstellungen gezeigt und als Buch publiziert.[4] Sie umfasst über 5000 Abbildungen und systematisiert Fotografien von alltäglichen Szenen von Frauen und Männern im öffentlichen Raum, inszenierte Fotografien sowie kunsthistorische Abbildungen.

Zum anderen lancierte das Choreografische Zentrum PACT Zollverein in Essen die deutsche Erstaufführung von La belle indifférence der französischen Choreografin Gaëlle Bourges. In dieser Arbeit aus dem Jahr 2010 stellen drei unbekleidete Tänzerinnen die Körperhaltungen weiblicher Akte von berühmten Gemälden der Kunstgeschichte nach, während dabei hintereinander zwei Audiokommentare zu hören sind: in einem ersten Teil sind es Ausschnitte aus der Radiosendung Histoires de Peintures des französischen Kunsthistorikers Daniel Arasse und in einem zweiten Teil erzählen Sexarbeiterinnen über die Wünsche ihrer Kunden.[5]

Beide künstlerische Positionen setzen sich also mit überliefertem Bildmaterial auseinander, welches sie durch jeweils zeitgenössisches, selbst akquiriertes Material kontextualisieren. Sie widmen sich dabei ruhenden Körperhaltungen des Stehens, Sitzens und Liegens. Die hier gezeigten Körper werden allerdings nicht erst durch das Innehalten (Choreografie) oder die Fixierung (Fotografie) zur Pose, zum Körperbild, sondern sie beziehen sich bereits davor auf eine tradierte Bildgeschichte und auf vielfältige zitationelle Praxen, die durch die enorme Erweiterung der Bildherstellung und ihrer Distribution immer komplexer werden.[6] Marianne Wex nutzt den Vergleich ihrer alltäglichen Körperhaltungen mit vornehmlich antiken Skulpturen, um durch die historische Entwicklung den performativen Charakter von geschlechterspezifischer Körpersprache herauszuarbeiten und dabei Konstruktions- und Konditionierungsprozesse sichtbar zu machen.[7] Die Ausstellung im Badischen Kunstverein machte ihre Arbeit einem heutigen Publikum zugänglich. Die Choreografie von Gaëlle Bourges ist eine aktualisierende Auseinandersetzung mit den begehrenden und männlich kodierten Blicken der Maler des 15. bis 19. Jahrhunderts beziehungsweise ihrer Rezipienten und, genauer, des arrivierten Kunsthistorikers Arasse (1944 – 2003) sowie der Kunden heutiger Sexarbeiterinnen. Sie koppelt die inszenierten weiblichen Akte der Kunstgeschichte und ihre Rezeption mit den unterschiedlichen Fantasien männlicher Kunden aus dem Bereich einer pornografischen Praxis.[8] Beide Arbeiten lassen sich demnach auch in einem Feld gendertheoretischer Diskurse ansiedeln.

 

 

Wex: „Weibliche“ und „männliche“ Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse

Das Archivprojekt „Weibliche“ und „männliche“ Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse lässt sich spezifischer in den konzeptuellen und feministischen Diskursen der 1970er Jahre verorten. Wex fertigte zwischen 1972 und 1977 Fotografien von Personen unterschiedlichen Alters im öffentlichen Raum in Hamburg an, systematisierte diese nach Körperhaltungen und stellte männliche und weibliche Körper gegenüber, um die Zuschreibungen patriarchalischer Machtverhältnisse auf die Körper herauszuarbeiten, die sie in den Haltungen zum Ausdruck gebracht sah („Die Körpersprache heutiger Frauen und Männer“[9]). Die Fotografien sind offensichtlich nicht inszeniert, und die fotografierten Personen sind sich der gezielten Aufnahme durch Wex wohl nicht bewusst. Sie fotografierte überwiegend stehende, sitzende und liegende Haltungen des Wartens, Verweilens und Ausruhens. Ihre eigenen Fotografien ergänzte sie mit weiterem fotografischem Quellenmaterial, das wiederum in der Hauptsache inszenierte Körperhaltungen zeigt, wie Werbeanzeigen und pornografische Bilder, Fotografien berühmter Persönlichkeiten sowie Fernseh- und Filmstills und schließlich kunsthistorische Reproduktionen.

 

Abb. 1: Ausstellungsansicht Badischer Kunstverein, 2012
Foto: Stephan Baumann, bild_raum. Das Ausstellungsdisplay ist in Kooperation mit Ruth Buchanan und Andreas Müller entstanden.

Aus diesem Bildarchiv entwickelte Wex wie erwähnt einerseits ein raumbezogenes Ausstellungsformat und andererseits eine Buchpublikation. Sie folgte dabei in der Systematik empirischen Arbeitsweisen; die Aufbereitung des Bildmaterials ist stark interpretierend. Wex stellt eine These voran, die das entstandene Material und seine systematische Aufbereitung „belegen“ soll. Für die Ausstellungsvariante des Projekts fertigte sie beidseitig bespielte Tafeln an, auf die sie Bilder und erklärende Texte montierte und so materialreiche Tableaus schuf, die in sich und in der gesamten Installation eine serielle Reihung bilden. Die oberen Reihen zeigen die Posen der Männer, darunter sind die der Frauen angebracht, und dazu heftete sie jeweils Ausnahmen zu den von ihr herausgearbeiteten Stereotypen sowie das erwähnte ergänzende Bild- und Textmaterial. Das Ordnungssystem der Fotografien verdeutlicht zusätzlich die von Wex sichtbar gemachte Hierarchie zwischen Männern (oben) und Frauen (unten). Die Tafeln der Ausstellung und die Seiten des Buches folgen demselben Aufbau; interessanterweise folgt das von Wex für die Buchpublikation gewählte außergewöhnlich breite Querformat sogar der Optik der Tafeln. Die Bilder sind nach Kategorien gegliedert, die sich aus Körperhaltungen wie „Sitzende, Bein- und Fußhaltungen oder „Stehende, Arm- und Hand-, Bein- und Fußhaltungen“ und einzelnen Körperteilen wie den Händen oder dem Kopf/Gesicht ergeben. Wex zeigt zumeist einzelne Personen, aber auch Darstellungen von Paaren und die Körperhaltungen in gleichgeschlechtlichen Gruppen, die sie wiederum vergleicht und auswertet. So macht sie zum Beispiel anhand der Fotografien von Paaren „Besitzanzeigende Griffe und Gesten“ in der Körpersprache der Männer aus. Das heißt, auf den Tafeln der Ausstellung und auf den Seiten der Publikation befinden sich Überschriften und Kurztexte, die das Gezeigte kommentieren – so arbeitet Wex heraus, wie sich Machtverhältnisse in den Körperhaltungen zeigen (z. B. „Anbietposen) oder wie viel Raum etwa von den Körpern beansprucht wird, wie „entspannt“ der Körper sich wann zeigt. Die Buchpublikation ist umfangreicher und umfasst außerdem ausführliche Texte zur historischen Entwicklung der Körpersprache, in denen Wex ihre Auswertungen darlegt.[10]

 

Abb. 2 - 4 Buchseiten aus Marianne Wex, „Weibliche“ und „männliche“ Körpersprache als Folge patriarchischer Machtverhältnisse. Verlag Marianne Wex / Frauenbuchversand Hermine Fees 1980. Publikation mit freundlicher Genehmigung von Marianne Wex.

 

Erst die Umsetzung in den Medien der Ausstellung und der Buchpublikation (Bildatlas/Fotoband/Katalog) sowie das darin dominant erkennbare Forschungsdesign von Wex schaffen ein, wie der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman beschrieb, „Sichtbar-Werden“ und „Erkenntnis-Werden“ des Archivs. Huberman differenziert in diesem Zusammenhang Formen des Atlasses mit dem des Archivs: „Der Atlas zeigt uns durch das Intervall der Bilder die Verlaufsbahnen ihres Überlebens, während das Archiv im Dickicht seiner Bände, Stapel und Bündel solche Intervalle noch nicht geschaffen hat“. [Didi-Huberman 2010: 187] Die Arbeit von Wex, die das von ihr angelegte Bildarchiv sowie dessen „Aufbereitung“ in der Ausstellung und in der Buchpublikation umfasst, lässt sich dem Genre der Fotosammlung zuordnen, welches der Kunsthistoriker Benjamin H. D. Buchloh in seinem Artikel „Warburgs Vorbild?“ 1997 umreißt. [Buchloh 1997: 50-60] Im Anschluss an die Pionierarbeit von Aby Warburg[11] tritt die Fotosammlung seit den 1960er Jahren verstärkt auf: KünstlerInnen entwickeln Formen der Ausstellung beziehungsweise der Präsentation für gesammeltes Material, welches sie seriell oder netzwerkartig darstellen. Buchloh hält als inhaltliche Aspekte der Sammlungen folgende Schwerpunkte fest: die Aufzeichnung komplexer historischer Prozesse, das Sammeln von Fakten und das Auflisten von chronologischen Abfolgen sowie zeitlichen Kontinuitäten. [Buchloh 1997: 59] Die Posen und Gesten konstituieren sich also nach Warburg aus einem kulturellen Bildrepertoire und beziehen sich immer schon auf Vorgängiges. Sie aktualisieren das kulturelle Gedächtnis. Die alltäglichen, unbewussten oder bewussten geschlechterspezifischen Körperhaltungen, die Wex archivierte und mit inszeniertem Bildmaterial konfrontierte, zeigen, wie funktional sich Weiblichkeits- oder Männlichkeitsbilder in die Körper einschreiben. Judith Butler stellt dies mit den regulierenden Praxen dar, der Wiederholung von Normen, die sich so materialisieren.[12]

Der bereits angeführte Sammelband zur Pose hält deren Blütezeit im 18. Jahrhundert in Form von Attitüden und Tableaux vivants fest. Interessanterweise erkennen die Herausgeber in den Darstellungen dieser Zeit „die Tendenz zur Serialisierung [...], die an die Stelle des einen (finalen) Tableau die Diversität von Figuren, Auftritten, Haltungen setzen [...].“[Brandl-Risi et al. 2012: 16] Sie halten anhand von Gestaltung und Gebrauch des historischen Bildmaterials fest, „[d]ass die Pose nicht isoliert darzustellen [sei], dass ihre spezifischen Qualitäten vielmehr erst in der Konstellation oder der Sequenz anschaulich werden können.“ [Brandl-Risi et al. 2012: 16] Letztlich folgten bereits die Bildarchive von Attitüden und Tableaux vivants den Prinzipen von Differenz, Abwandlung und Entwicklung – und arbeiteten so an einer Konzeptionalisierung des Bildes im Ablauf. [Vgl. Brandl-Risi et al. 2012: 16] Insofern ist auch dem Archivprojekt von Wex mit seiner seriellen Reihung eine gewisse Dynamik inhärent, die sich in der Form der Rezeption des Lesens und gegebenenfalls Ablaufens der Tafeln in der Ausstellung spiegelt.

Die im Folgenden vorgestellte Arbeit von Gaëlle Bourges führt das eben eingeführte Thema der Konzeptionalisierung des Bildes im Ablauf in Form einer Art Loop-Struktur im Medium der Choreografie, des Tanzes, weiter.

 

 

Bourges: La belle indifférence

Gaëlle Bourges greift in ihrer Arbeit La belle indifférence auf den Bilderkanon der Kunstgeschichte zu und entwickelt aus den dortigen Körperhaltungen weiblicher Akte eine Choreografie für drei Tänzerinnen, die die Posen der Bilder aufführen und in einer Art Loop wiederholen. Das Setting der Bühne erinnert in gewisser Weise an ein Maleratelier oder ein Studio – zu Beginn betreten die Tänzerinnen mit zum Teil aufreizender, erotischer Kleidung den Raum, entkleiden sich und bereiten ihre Liegepositionen vor. Sie richten sich auf Tischen mit weißem Tuch ein und liegen nebeneinander zunächst frontal zum Publikum wie auf einer Chaiselongue. Während der Choreografie drehen sie sich für eine bestimmte Zeit auch mit dem Rücken zum Publikum und vollziehen so weiter die Abfolge der Bildzitate – sie verwenden für die Darstellung der Bilder wenige Requisiten wie kleine Spiegel, mit denen sie das Publikum von der Rückenposition aus anblicken können, sowie Langhaar-Perücken.

 

 

Abb. 5-7: Aufführungsfotos La belle indifférence.
Foto: Danielle Voirin

 

Auf vielfältige Weise thematisiert die Choreografie begehrendes Betrachten, den begehrenden Blick auf inszenierte und tradierte Bilder – und entfaltet sich, während zwei unterschiedliche Audiokommentare zu hören sind. Die Gleichförmigkeit und Wiederholung der Choreografie schärft dabei die Aufmerksamkeit für die textliche Ebene des Audiokommentars beziehungsweise prägt der jeweilige Audiokommentar die Art der Aufmerksamkeit auf die sich bewegenden drei Frauen. Durch den analysierenden Kommentar des Kunsthistorikers bindet Bourges die zunächst entkontextualisierten Bildzitate einerseits wieder an den kunsthistorischen Zusammenhang, entfernt sie durch den zweiten Kommentar der Sexarbeiterinnen andererseits wieder aus diesem Kontext – der klassischen Malerei beziehungsweise der Rezeptionsgeschichte dieser Bilder. Den Bildzitaten fällt eine sicher auch kulturell bedingte Lesbarkeit zu: Die RezipientInnen der Choreografie erkennen je nach kunsthistorischer Bildung die Herkunft der Pose, das konkrete Gemälde, oder aber zumindest die allgemeine Referenz an die konventionellen Darstellungen der klassischen europäischen Aktmalerei.

Der erste Audiokommentar von Daniel Arasse eröffnet darüber hinaus eine Perspektive auf die Praxis des Kopierens und Zitierens von Körperhaltungen und Bildmotiven der Maler unter sich und über die Jahrhunderte hinweg. Arasse fragt sich, warum Manet für seinen Akt Olympia (1863) ausgerechnet auf Tizians Venus von Urbino (1538) zurückgreift und Körperhaltung und weitere Referenzen von Tizian übernimmt, während Tizian sich wiederum auf Giorgiones Gemälde Schlummernde Venus (1508/1510) bezogen hat: Alle drei Bilder zeigen eine unbekleidete Frau in nahezu identischer Körperhaltung.

Dass die Wahl des kunsthistorischen Kommentators auf Arasse fällt, ist noch in einem weiteren Sinne bezeichnend. Er betont in seinen Texten insbesondere die sinnliche Erfahrung beim Betrachten von Malerei. Er hat darüber hinaus einen selbstreflexiven und -kritischen Ansatz verfolgt und seine Texte häufig in einer Art dialogischer/diskursiver Form entwickelt, reflektiert aber an keiner Stelle der eingespielten Texte die eigene geschlechtliche Kodierung seines Blicks. Im Text zu Tizians Venus von Urbino diskutiert er imaginär mit seinem amerikanischen Kollegen Charles Hope, der eine Klassifizierung dieses Akts als idealem Pin-up-Bild vorschlägt. [Vgl. Arasse 2002: 88-125] Dieser Punkt verweist direkt auf den anschließenden Audiokommentar, in dem heutige Sexarbeiterinnen die Wünsche ihrer Kunden beschreiben. Bei der hier vorgestellten pornografischen Praxis handelt es sich um eine Dienstleistung, für die die Frauen zur Befriedigung der Männer gewünschte Posen einnehmen, sich zum Bild machen, quasi Tableaux vivants[13] erstellen.[14]

In Analogie zur seriellen Reihung der Fotosammlung von Wex erstellt Bourges einen seriellen Bewegungsablauf, in dem die Tänzerinnen die Körperhaltungen aufführen und wiederholen. Sie überträgt die durch die klassische Malerei tradierten und fixierten Posen in das transitorische Medium des Tanzes beziehungsweise der Choreografie. Während Wex herausarbeitet, wie sich Bildrepertoires von geschlechterspezifischen Körperbildern auf die alltägliche Körpersprache von Frauen und Männern in den 1970er Jahren auswirkten, lässt Bourges drei Tänzerinnen die inszenierten Haltungen der Malerei mehrerer Jahrhunderte verkörpern/tanzen/aufführen. Diese zeigen ebenfalls ruhende, liegende, scheinbar alltägliche Posen, um eine intime Situation zu inszenieren und so einen voyeuristischen Blick zu ermöglichen. Einige der auf den Gemälden gezeigten Frauen blicken die Betrachterin oder den Betrachter wie die Tänzerinnen direkt an. So Tizians Venus, die gleichzeitig auch an ihr Geschlecht fasst, weshalb Arasse und Hope die Frage des provozierenden, animierenden Gestus der Pose diskutieren.[15] Der Tanz lässt die intime Situation der Gemälde durch die leibliche Ko-Präsenz der unbekleideten Tänzerinnen und der ZuschauerInnen der Choreografie offensichtlich werden, er spitzt diese in gewisser Weise noch zu. Interessanterweise setzt Bourges Bilder in Bewegung, die ihrer Bestimmung nach fixiert waren und ihr Bewegungspotential erst in der Betrachtung durch die RezipientInnen entfalten sollten. Dieses Bewegungspotential bezeichnet Brandstetter als „die Attraktion des imaginierenden Blicks.“ [Brandstetter 2012: 47] So halten die Herausgeber des Sammelbands zur Pose fest, dass es „der Blick des Betrachters [ist], der animiert, und in affektive Bewegung übersetzt, was in der Pose scheinbar zur Ruhe gekommen ist.“ [Brandl-Risi et al. 2012: 7] Das jeweilige „Bewegungs- und Erregungspotential, das in einer Pose, in einer Geste verdichtet ist, [aktualisiert und transformiert] sich im aktuellen Kontext der Bildbetrachtung.“ [Ebd.: 8] Bildherstellung und Bildwahrnehmung erfolgen in der Choreografie allerdings gleichzeitig. Die vor Publikum im Augenblick der Aufführung ausgeführte Verkörperung der Pose als eine Art Serie, eine Abfolge von Tableaux vivants, macht insbesondere deutlich, dass der Gestus der Pose immer auch einer des Verfehlens ist. [Ebd.: 14] Denn aufgrund der Umsetzung durch die drei Tänzerinnen wird die je individuelle Produktion der ikonografischen Zitate bewusst: die Tänzerkörper weichen ab, verfehlen die Posen leicht, zittern, bewegen sich nicht immer komplett synchron und so weiter.

Auch das Bildarchiv von Wex zeigt – trotz des Fokus auf der Analogie – durch die enorme Vielzahl der fotografierten Menschen und Körperhaltungen, immer auch Abweichungen oder Variationen beziehungsweise individuelle „Interpretationen“ der Posen und Gesten. Das bedeutet auch, dass in beiden Fällen Nachstellungen von etwas stattfinden, für das es keine „Originale“ oder Vorlagen gibt. Hinsichtlich der Posen und ihrer Effekte reicht es, wenn „[m]an meint, etwas zu erkennen oder zu erinnern, […] der Eindruck genügt, er muss keiner Überprüfung standhalten.“ [Brandl-Risi 2012: 64] Die Autoren halten mit Giorgio Agamben fest: „Charakteristisch für die Pathosformel wie für die Pose ist, dass sie ‚ein Ununterscheidbares aus Originalität und Wiederholung, aus Form und Materie‛ ist: ‚Keines der Bilder ist das Original, keines ist die Kopie.‛“ [Ebd.: 13]

 

 

Archiv und „Ent-Fremdung“[16]

Die für die Choreografie von Bourges titelgebende „schöne Gleichgültigkeit“ kann auf den emotionslosen Ausdruck der auf den Gemälden abgebildeten Frauen und der Tänzerinnen bezogen werden, sowie auf die vorrangig sachlichen Beschreibungen und distanzierten Haltungen der Sexarbeiterinnen. La belle indifférence spielt aber auch auf einen gleichnamigen psychologischen Begriff an, der im Rahmen von Hysterie und bei Konversionsstörungen eingesetzt wurde. Er bezieht sich also direkt auf einen Zustand der Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit der hysterischen Patientin in der Welt der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts.[17] Die Tänzerinnen stellen sich in der Choreografie von Bourges – die übrigens selbst eine der drei Darstellerinnen ist[18] – zur Verfügung, um die Serie des Archivs der Weiblichkeitsbilder der Kunstgeschichte aufzuführen. Sie kristallisieren zum einen die Projektionsflächen der männlich kodierten Blicke (Maler, Kunsthistoriker, Kunden, Rezipienten) und der ZuschauerInnen der jeweiligen Aufführungen, und entziehen sich diesen zum anderen durch ihre leibliche Präsenz und die Offenlegung der zitationellen Praxis und Konstruktionsarbeit. Sie bleiben dabei in gewissem Sinne genauso anonym und entindividualisiert wie die Modelle/Vorlagen der Maler oder der pornografischen Tableaux vivants. Auch die zahlreichen Personen auf den Fotografien von Wex bleiben anonym und somit austauschbar – erst die Menge und der Vergleich, den die Sammlung ermöglicht, schaffen hier die Bedeutung.

In diesem Zusammenhang ist die Vorstellung der Pose als etwas Künstliches, als einer Art „Fremdausdruck“ von Bedeutung. Der Kunsthistoriker Max Imdahl unterschied die manipulierte Körpersprache der Pose als Unfreiheit des Dargestellten, als Fremdausdruck, von der Gebärde als körpersprachlichem Selbstausdruck. [Brandl-Risi et al. 2012: 12] Insofern können die beiden Arbeiten von Wex und Bourges eine Dekonstruktion von Vorstellungen eines „authentisch“ oder „natürlich“ sich gebärdenden Selbst bewirken. Sie schärfen ein kulturelles und historisches Zuschauer-Bewusstsein: „Der Körper wird wahrnehmbar als immer schon Posierender, das Sehen als immer schon in Klischees Organisiertes“. [Ebd.: 13]

Beide Arbeiten verdeutlichen so in spezifischer Weise auch ein Kippen der gezeigten Körper/Personen zwischen einem Status als Subjekt und dem des Objekts. Als Teil eines Archivs vermag ein Körper/eine Person objektiviert werden, gleichzeitig entzieht sie oder er sich durch ihre oder seine körperliche Präsenz (durch die leibliche Ko-Präsenz der Tanzaufführung, aber auch durch einen individuellen Ausdruck auf den Fotografien) der Objektivierung. Festigen Archive einem traditionellen Verständnis nach Identitäten – oder umreißen, produzieren sie –, so verunsichern die Arbeiten von Wex und Bourges in dem Sinne, dass sie die Transformation und Performanz von geschlechterspezifischen Körperhaltungen und -bildern herausarbeiten und so eine historische Perspektive mit und durch ihren Einsatz von Archiven deutlich machen. Die Archive und ihre jeweils aktuelle Rezeption ermöglichen erst den Vergleich mit Vergangenheit und so die Sichtbarmachung von Konstanten. Eine Bewegung des Archivs führt zu einer Objektivierung von gefundenem und akquiriertem Material, die andere führt zu einem subjektivierbaren Einsatz des Archivs oder seiner These. Beide Bewegungen sind in den zwei künstlerischen Arbeiten präsent. Das Archiv und seine Rezeption lassen sich im Zusammenhang mit den Arbeiten von Wex und Bourges als Prozesse der „Ent-Fremdung“ lesen. Das Archiv als „Ent-Fremdung“, wie es in diesen Arbeiten zur Anwendung kommt, bringt nicht nur die klare Unterscheidung von Objekt und Subjekt zum Oszillieren, sondern auch die Gegensätze von Künstlichkeit und Natürlichkeit sowie von Kreation und Zitat.

 

 

 

Lucie Ortmann, geboren 1981 in Bochum, studierte Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig und Kulturanalyse an der Universität Düsseldorf. Sie arbeitete als Dramaturgin u.a. für den Regisseur Martin Fendrich (Bochum) und die Choreografin Angela Blumberg (London) und war außerdem im Bereich Kunstvermittlung und Öffentlichkeitsarbeit am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe und am Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna tätig. Von 2007 bis 2012 war Lucie Ortmann zunächst als Dramaturgieassistentin und anschließend als Dramaturgin am Schauspiel Köln engagiert. Darüber hinaus arbeitete sie für das Literaturfestival lit.COLOGNE und die Tanzkompanie MichaelDouglas Kollektiv in Köln. Seit der Spielzeit 2012/13 ist sie Dramaturgin am Schauspiel Hannover.

 

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Literatur

Arasse, Daniel. „Guck doch mal hin! Was es in Bildern zu entdecken gibt“. [Originaltitel: On n’y voit rien – Descriptions. Paris 2000]. Köln 2002.
Bourges, Gaëlle. Texte/Skript der Audiokommentare von „La belle indifference“: 1. Teil „On art history“, Ausschnitte der Radiosendung „Histoires de peintures“ von Daniel Arasse, France-Culture; 2. Teil „On sexual work“. Englische Übersetzung von Alan Rosett.
Brandl-Risi, Bettina, Gabriele Brandstetter und Stefanie Diekmann (Hg.). „Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance“. [= Theater der Zeit Recherchen Bd. 98]. Berlin 2012.
Brandl-Risi, Bettina, Gabriele Brandstetter und Stefanie Diekmann. „Posing Problems. Eine Einleitung“. In: Brandl-Risi et al. 2012: 7-21.
Brandl-Risi, Bettina: „Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose. Überlegungen zum Paradox des Tableau vivant“. In: Brandl-Risi et al. 2012: 52-67
Brandstetter, Gabriele. „Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung“. In: Brandl-Risi et al. 2012: 41-51.
Brandl-Risi, Bettina. „Tableau vivant“. In: Metzler-Lexikon Theatertheorie. Erika Fischer-Lichte, Doris Koelsch und Matthias Warstat (Hg.). Stuttgart (u.a.): 2005: 325-327.
Buchloh, Benjamin H. D. „Warburgs Vorbild? Das Ende der Collage/Fotomontage im Nachkriegseuropa“. In: „Deep Storage. Arsenale der Erinnerung; Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst“ [= Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst. München (3. 8. – 12. 10. 1997)]. Ingrid Schaffner und Matthias Winzen (Hg.). München 1997: 50-60.
Butler, Judith. „Körper von Gewicht. Gender Studies“. Frankfurt am Main 1997.
Didi-Huberman, Georges. „Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg“. Berlin 2010.
Focal Point Gallery (Hg.). „Let’s take back our space“: Robert Morris, Marianne Wex, Cerith Wyn Evans. Southend-on-Sea 2010 [= Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 26.10. – 14. 12. 2009].
Söntgen, Beate. „Gender in Trouble“. In: Texte zur Kunst, Heft Nr. 42/ Juni 2001: Ausnahmefrauen / Sie kam und blieb. Berlin 2001: 32-41.
Wex, Marianne. „Weibliche“ und „männliche“ Körpersprache als Folge patriarchischer Machtverhältnisse. Verlag Marianne Wex / Frauenbuchversand Hermine Fees 1980.



[1] Es folgt eine Übersicht über Arbeiten, die ich 2012 ohne besondere Vorauswahl gesehen habe: März: Mermaid Show, Performance von Ann Liv Young, Kampnagel Hamburg; La belle indifférence, Choreografie von Gaëlle Bourges, PACT Zollverein Essen; Juli: Ausstellung des Archivprojekts „Weibliche“ und „männliche“ Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse von Marianne Wex, Badischer Kunstverein Karlsruhe; August: Reenactments der Performance Art von Joan Jonas (Mirror Check von 1970) und Marina Abramović (Luminosity von 1997) im Rahmen der Ausstellung 12 rooms, Folkwang Museum Essen (Ruhrtriennale); Oktober: Untitled Feminist Show, Aufführung der Young Jean Lee’s Theater Company, Steirischer Herbst Graz.
[2]2012 gründete sich z. B. die Initiative Pinkstinks gegen Sexismus in der Außenwerbung. Die Gründerin und Genderforscherin Stevie Schmiedel sprach im Interview mit DIE ZEIT (15.03.2012) von einer objectification“ von Frauen auf Werbeplakaten. Vgl.: http://www.zeit.de/2012/12/WOS-Vorbilder (zuletzt besucht im Februar 2013). Die BILD-Zeitung reagierte und verschob am 8. März 2012, dem internationalen Frauentag, das sogenannte „Mädchen von Seite Eins“ ins Zeitungsinnere: „Natürlich will BILD auch künftig sexy sein. Aber moderner, besser verpackt im Inneren des Blattes.“, zit. nach online-Ausgabe der BILD: http://www.bild.de/unterhaltung/erotik/bild-girls/letztes-seite-1-girl-23057988.bild.html (zuletzt besucht im Februar 2013).
[3] Die Aktivistinnen protestieren mit entblößten und beschriebenen Brüsten. Sie inszenieren ihre Aktionen in der Hauptsache hinsichtlich eines medial verbreiteten Bildmaterials, deren populärste Referenz wohl Eugène Delacroix’ Gemälde Die Freiheit führt das Volk (1830) ist.
[4] In den folgenden Beschreibungen beziehe ich mich auf meinen Besuch dieser Ausstellung im Juli 2012. Umfassende Informationen zum Projekt siehe auch Anmerkung 10.
[5] Für die Beschreibungen konnte ich auf meinen Besuch der Vorstellung am 16.3.2012, auf einen Videomitschnitt und ein Skript des Audiokommentars in Form der englischen Untertitel zurückgreifen. Die Dokumente erhielt ich mit freundlicher Genehmigung von Gaëlle Bourges.
[6] Der Begriff der Pose wurde in einem 2012 publizierten Sammelband als Umspringzone zwischen Bild und Performance bestimmt. Die Herausgeber halten in der Einleitung fest: „[A]ls Mise en Scène ikonografischer Bezüge und etablierter Körperbilder ist [die Pose] zugleich Medium der Bildspeicherung und -transmission.“ [Brandl-Risi et al. 2012: 15] Außerdem bestimmen sie die Fotografie „als das erste große Archiv der Posen und zugleich als der erste große Schauplatz ihrer Erkundung, Aneignung, Modifikation“. [Brandl-Risi et al. 2012: 16]. Ein Feld, für das, wie wir sehen werden, zumindest in bestimmter Weise bereits auch die klassische Malerei Geltung beanspruchen kann.
[7] Vgl. hierzu auch Judith Butler: „[Es] sind [...] die regulierenden Normen des biologischen Geschlechts‘, die in performativer Wirkungsweise die Materialität der Körper konstituieren, und spezifischer noch, das biologische Geschlecht des Körpers, die sexuelle Differenz im Dienste der Konsolidierung des heterosexuellen Imperativs materialisieren.“ [Butler 1997: 22] In diesem Sinne setzte Wex die Kategorien der Geschlechterdifferenz „männlich“ / „weiblich“ im Titel ihres Projekts in Anführungsstriche.
[8] Die Kunsthistorikerin Beate Söntgen macht bereits 2001 ein aktuelles Interesse an feministischer Kunst aus den 1970er Jahren fest. Sie bestimmt außerdem die Frage nach der Verfasstheit des Bildes als zentral für eine kunstwissenschaftliche Geschlechterforschung: „Die frühen Arbeiten zum Film [...] und die kunsthistorischen Studien [...] stellen die libidinöse Grundierung des Bildes heraus; Autorinnen [...] wenden sich seinen materiellen und medialen Bedingtheiten zu. Wesen und Status des Bildes standen und stehen in der Geschlechterforschung immer wieder zur Diskussion.“ [Söntgen 2001: 40]
[9] So lautet die erste Überschrift auf den Fototafeln und in der Buchpublikation. Die im folgenden Text kursiv und in Anführungsstriche gesetzten Überschriften sind der Buchpublikation entnommen und verdeutlichen die Thesen von Wex.
[10] Die Tafeln und Fotografien von Marianne Wex befinden sich heute im feministischen Archiv bildwechsel in Hamburg. Einige der Tafeln wurden erstmals 1977 als Teil der Ausstellung Künstlerinnen International 1877-1977 in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin gezeigt, und waren anschließend bis Anfang der 1980er Jahre in einigen nationalen und internationalen Ausstellungen zu sehen (Frankfurter Kunstverein, Bonner Kunstverein, ICA London). Die Buchpublikation erschien erstmals 1979 und wurde auch ins Englische und Französische übersetzt. Sicher auch weil Marianne Wex das künstlerische Arbeiten aufgab, geriet ihr umfassendes Projekt in Vergessenheit. Der britische Kurator Mike Sperlinger der Focal Point Gallery in Southend-on-Sea, welche sich auf fotografische Arbeiten spezialisiert hat, entdeckte das Buch antiquarisch und recherchierte; 2009 stellte er Teile der Fototafeln in der Ausstellung Let’s take back our space (so auch Titel der englischsprachigen Publikation von Wex) gemeinsam mit Arbeiten von Robert Morris und Cerith Wyn Evans aus [vgl. u. a. Focal Point Gallery 2010]. Es folgte erstmals die Ausstellung aller vorhandenen Tafeln des Projekts im Badischen Kunstverein in Karlsruhe 2012, an der Sperlinger und auch Marianne Wex selbst beteiligt waren. Auf die Texte der Buchpublikation kann hier nicht eingegangen werden. Es sei lediglich erwähnt, dass diese zum Teil nicht haltbare/wissenschaftlich nicht belegbare Thesen enthalten.
[11] Aby Warburg (1866 – 1929) schuf durch seine Arbeit mit Bildquellen aus unterschiedlichsten Medien und Kontexten eine neue Form der kulturwissenschaftlichen Bildgeschichte. Sein Mnemosyne-Atlas war ein Projekt, das von der Antike bis heute reichen sollte und eine Art soziales Gedächtnis über Epochen und Kulturen hinweg verfolgte. Er ordnete sein Bildarchiv auf Tafeln immer wieder neu an. Von Bedeutung für die hier besprochenen künstlerischen Positionen ist auch der von ihm geprägte Begriff der Pathosformel, mit welchem er die formelhafte Gestik und Mimik des Gefühlsausdrucks von Bildmaterial der Renaissance, dem er eine universale Gültigkeit unterstellte, herausarbeitete. Historische Bilder wurden von Warburg daraufhin untersucht, ob sie performative Kraft entwickelten, ob wiederkehrende Formen und Gebärden tradiert wurden.
[12] In diesem Sinne führte Wex im Rahmen ihres Projekts einen Versuch durch: Sie zeigte Probanden (verschiedenen Frauen und Männern sowie zwei 14jährigen Mädchen) einzelne fotografierte Körperhaltungen und ließ sie jeweils die „männlichen“ und „weiblichen“ Posen einnehmen, um dies wieder fotografisch festzuhalten. [Vgl.: Wex 1980: 174ff.]
[13] In ihrem Beitrag im Metzler Lexikon Theatertheorie beschreibt Brandl-Risi: „Tableaux vivants als Form der körperlichen Aneignung von Vergangenheit stellen sich dar als leibliche Re-Interpretationen eines aus der Ikonografie der Kunst rekrutierten Bild-Gedächtnisses, sind demnach stets mit dem Index des Zitierens und Reproduzierens, ja selbst des Klischees versehen. Somit changiert die Darstellungspraxis der Tableaux vivants zwischen der ephemeren Zurschaustellung des Darsteller-Körpers und dem reiterativen Rückgriff auf wiedererkennbare, lesbare und standardisierte Bilder. [...] Als intermediale Zitate reflektieren sie auf die Darstellungsbedingungen der jeweiligen Medien, die sie implizieren.“ [Brandl-Risi 2005: 326]
[14] Der Begriff Prostitution leitet sich vom Lateinischen prostituere ab, das „nach vorn/zur Schau stellen, preisgeben“ bedeutet. Ich zitiere im Folgenden zur Verdeutlichung zwei Beispiele der Sexarbeiterinnen aus dem Skript von Bourges (englische Untertitel):
1. „It’s an area where the client sits in an armchair resembling a combination of one in a dentist’s office and one of a top executive, something like that. He sees us from below, a low angle, that’s to say, we’re above him, by we I mean me, I’m seated on a somewhat tatty little couch, covered with material, a bit tatty too but shiny […]. [T]here’s a barrier between myself and the client, you get it.“
2. „Everything at first is very complicated: I have to go out and come back in a dress he’s chosen, long, chic, but as I’ve negligently forgotten to button the front, my left breast is visible; then I’m seated on an angle placed in exact relationship to him, and pretending to read a book, my head slightly bent forward on the right, left hand placed on the bottom part of my thigh just above my knee. That is what I perform but I have to redo it twice as it’s not exactly what he wants. The third time it works and while I painfully hold the pose. […] Holding the pose gives me a horrible cramp in my right arm and the two pages in front of me I’ve already read fifty times.“
[15] Arasse führt bezeichnenderweise in seinem imaginären Gespräch mit Hope – auch um dessen These des idealen Pin-Up-Bilds etwas entgegen zu setzen – die Tradition der sogenannten „Ehebilder“ an. Danach sollten Frauen, wenn sie sich während der Befruchtung schöne Körper ansahen, schöne Kinder zur Welt bringen. Außerdem wurde Frauen zur Masturbation geraten, denn man ging davon aus, dass die Frau nur fruchtbar ist, wenn sie zum Orgasmus kommt. [Arasse 2002: 93 und 95f] Insofern stellt Arasse die These auf, dass das Bild nicht allein einem begehrenden männlichen Blick zugedacht gewesen sein könnte.
[16] Ich habe diese Schreibweise des Begriffs Entfremdung gewählt, da er stark mit der Theorie von Karl Marx besetzt ist und um diese Konnotation zu verschieben. Marx band den Begriff an die Arbeit, durch die der Mensch sich nach seinem Verständnis verwirkliche. Er definierte sie als die Aneignung der Natur durch den Menschen. Der Mensch ist für Marx ein gesellschaftliches Wesen, nicht seine Individualität, sondern seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft macht den Kern seines Daseins aus. Hier wäre eine weitere Analyse interessant, welche die künstlerischen Positionen von Wex und Bourges hinsichtlich des Themas Arbeit und einer (kapitalistischen) Ausbeutung der Körper betrachtete.
[17] Mit dem Verweis auf die Hysterie führt Bourges einen weiteren geschlechterspezifischen Blick auf Frauen an – den des Arztes/Psychiaters. Es handelt sich bei der schönen Gleichgültigkeit um Störungen, bei denen die Patientinnen offenbar ohne Ursache neurologische Symptome wie Taubheit, Blindheit, Lähmung sowie Anfälle haben. Trotz objektiv starker Beeinträchtigung zeigen sie eine gleichgültige Haltung gegenüber der Krankheit. Sie verleugnen Probleme und Schwierigkeiten und führen diese allein auf die Symptome als solche zurück, das heißt, sie sehen keine entsprechenden Zusammenhänge, was sich in der Gleichgültigkeit gegenüber der Störung beziehungsweise im geduldigen Ertragen der Störung äußert. Die Symptomatik hilft den Betroffenen, einem unangenehmen seelischen Konflikt zu entgehen oder indirekt Abhängigkeit oder Verstimmung auszudrücken. „La belle indifference is a way of pretending nothing is happening: it represents a way of showing one's paralysis to others by manipulating their judgment through an attitude of indifference.“ Giampiero Arciero and Guido Bondolfi.Selfhood, Identity and Personality Styles. Chichester 2009: 171, zitiert nach: http://en.wiktionary.org/wiki/la_belle_indifference, zuletzt eingesehen 7. 8. 2013.
[18] Bourges schuf bereits vor La belle indifférence Arbeiten, in denen sie sich mit pornografischer Praxis und Kunst auseinander setzte. Sie selbst arbeitete über zwei Jahre als Stripteasetänzerin.