Keep it real: Voguing und das Archiv

 

Jasmin İhraç (Berlin)

 

 

Voguing Ball Berlin 2012 © Anna Nik

 

Als im August 2012 der erste Voguing Ball in Berlin stattfand, sprachen die begleitenden Presseartikel von einem beispiellosen Ereignis und einem neuen Aufschwung in der Szene. In der Tat hatte es in Deutschland in der Vergangenheit keine vergleichbare Veranstaltung gegeben. Vertreten waren Pionier_innen aus New York, die im Vorfeld Workshops anboten und als Jury die international angereisten Teilnehmer_innen bewerteten. Das Phänomen Voguing scheint nicht nur den Sprung aus den USA nach Europa gemacht zu haben. In der spärlichen Literatur, die existiert, wird gegenwärtig von einem Voguing Revival seit den 90er-Jahren gesprochen (Bressin / Patinier 2012). Auch im Bereich des zeitgenössischen Tanzes wird derzeit auf Voguing Bezug genommen. Dem Stück (M)IMOSA, welches ebenfalls 2012 während des Berliner Festivals Tanz im August im Hau 2 gezeigt wurde, liegt folgende Ausgangsfrage zugrunde: „What would have happened in 1963 if someone from the ball scene in Harlem had come downtown to perform alongside the early postmoderns at Judson Church?”[1] Eine spannende Frage, an die sich eine weiterführende anknüpfen lässt: Warum sind sich beide Bewegungen nie begegnet, obwohl sie sich nahezu zeitgleich im damaligen New York entwickelten? Liegt dies nur daran, dass die Postmodernists, wie Rainers No-Manifesto belegt, Glamour und Spektakel ablehnten, die Voguer_innen aber gerade den Glamour der Modewelt zu ihrem Angelpunkt machten?[2] Oder ist es logische Konsequenz der Tatsache, dass die Referenzpunkte unterschiedlich waren und sich Voguing, obwohl es sich als eigene Tanzsprache entwickelte, gar nicht mit der Bühnen- und Performanceszene, sondern mit den sozialen Missständen von Rassismus und Homophobie auseinandersetzte, Tatsachen, die die Postmodernen wiederum völlig ausblendeten?

Im Folgenden will ich keinen Vergleich beider Bewegungen anstellen, sondern der Frage nachgehen inwiefern Voguing jenseits des historischen Kontexts funktioniert, in dem es entstanden ist. Verknüpft ist damit der Aspekt von Weitergabe und Überlieferung: Gibt es ein Archiv des Voguing? Welche Dokumente haben sich erhalten und auf welche Weisen können diese als Bezugspunkte dienen?

Es wäre zu kurz gegriffen, Voguing nur als eine Tanz-Bewegung zu verstehen. Vielmehr muss Voguing als soziale Praxis gesehen werden bzw. als eine Bewegung, für die der soziale Zusammenhalt maßgeblich ist. Denn die Tanzsprache selbst entwickelte sich erst in und mit den social gatherings, den sogenannten „Balls“. Vor diesem Hintergrund ist die Bewegungssprache allein betrachtet weniger aufschlussreich, sondern ergibt ihren Sinn erst vor dem spezifischen historischen und sozialen Kontext aus dem sie hervorgegangen ist und sich weiterentwickelt hat.

 

 

Zum Kontext: Was ist Voguing?

Wie sich Voguing am besten beschreiben lässt, hängt von der Perspektive ab, aus der heraus man sich die einzelnen Elemente ansieht, die mit dieser Bewegungspraxis verflochten sind. Jan Kedves fasst es so:

„Wo die Couture der High-Fashion-Magazine mit Disco-Breaks und House-Beats kombiniert und um Figuren fernöstlicher Martial Arts und halsbrecherische Akrobatik ergänzt wird, da sehen wir: Vogueing. (...) Die Spezialität des Vogueings ist es nämlich, durch nichts als Mimik, durch stark überstilisierte Catwalk-Bewegungen und rhythmisch dramatisierende Momente des Innehaltens („Freeze“) einen Effekt von opulenter Eleganz und modischer Überlegenheit zu erzielen.“[3]

Willy Ninja, einer der bekanntesten Voguer aus den 1980ern, hebt in einem Interview hervor: „I define voguing as something created within the gay community, a new way to express ourselves but in the form of dance.“ (Bronstein 1989) Während im ersten Fall die bewegungstechnischen Elemente betont werden, tritt im zweiten Zitat die soziale Funktion des Voguing deutlich hervor. Würde es sich beim Voguing ausschließlich um ein Bewegungsrepertoire handeln, so könnte man annehmen, dass es klassische Institutionen und Orte gab, an denen es erlernt werden konnte. Gerade aber die Abwesenheit solcher Orte zeigt, dass es sich um ein sozial weitergetragenes Phänomen handelt. „I’ve never had any formal technical training. I learned my technique from watching people and just doing it.“ (Ebenda)

Wie es in den meisten urbanen Tanzstilen wie zum Beispiel im HipHop der Fall ist, erfolgte auch beim Voguing die Vermittlung auf informellem Wege (Bressin/Patinier 2012: 16). In Berichten und Interviews wird Voguing im Kontext der New Yorker Ballroom-Szene der 70er-Jahre verortet.[4] Zu dieser Zeit waren Drag-Bälle zentrale Veranstaltungen innerhalb der queeren Communities von Afroamericans und Latin@s.[5] In aufwendigen Verkleidungen traten die Teilnehmer_innen in verschiedenen Kategorien gegeneinander an. Dabei entsprachen die einzelnen Kategorien sozialen Positioniertheiten und Normen, die die Werte einer weißen Klassengesellschaft repräsentierten (Butler 1995: 182). Es überkreuzten sich dabei geschlechtsspezifische Kategorien (Butch Queen)[6] mit solchen, die Ausdruck sozialer Hierarchien und Positioniertheiten waren (Wall Street Manager, Soldat, school boy). Sowohl über die Verkleidung, vor allem aber auch durch Mimik und Gestik, wurde versucht die gewählte Kategorie so perfekt und so kreativ wie möglich auszufüllen.[7] Zentrales Kriterium war dabei „realness“, die Echtheit der Performance, die von einer Jury bewertet wurde: Wer kann durch das besonders nahe Herantreten an das Original bei gleichzeitiger Originalität des Ausdrucks überzeugen? Judith Butler betont in diesem Zusammenhang:

„Und gleichwohl ist es das, was den Effekt der Echtheit bestimmt, die Fähigkeit, überzeugend und glaubwürdig zu sein, den naturalisierenden Effekt herzustellen. Dieser Effekt ist selbst das Ergebnis einer Verkörperung von Normen, einer laufenden Wiederholung von Normen, die Personifizierung einer rassischen Norm und Klassennorm, einer Norm, die zugleich eine Figur ist, die Figur eines Körpers, die nicht ein besonderer Körper ist, sondern ein morphologisches Ideal, das den Maßstab bildet, der die Darstellung reguliert, den aber keine Darstellung vollkommen erreicht.“ (Butler 1995: 183)

Damit kann die „realness“ der Performance immer nur eine Annäherung an das Ideal bedeuten. „Wenn eine Darstellung funktioniert, heißt das also, daß eine Deutung nicht mehr möglich ist oder daß eine Deutung, eine Interpretation, wie eine Art klarsichtigen Sehens erscheint, in dem das, was zur Erscheinung kommt und was es bedeutet, deckungsgleich sind.“ (Butler 1995: 183)

Die Bälle können Butler zufolge auch als eine „Konkurrenz um Echtheit“ bezeichnet werden (Butler 1995: 184). „Realness“ bedeutet dabei, als der- oder diejenige durchzugehen der/die man im Moment der Performance verkörpert, selbst jedoch nicht ist: Es ist eine Form des Passing, die sich auch auf den Alltag außerhalb der Bälle auswirkte.[8] Als Tanzstil verband Voguing dabei schnelle rechtwinklige und geradlinige Armkombinationen mit Figuren aus verschiedenen Kampfkünsten, ägyptischen Hieroglyphen, aber vor allem mit dem pantomimischen Nachstellen der Posen von Models aus Modemagazinen. [9] Dabei entstand der Tanz aus der Übersetzung einer unbewegten Pose in Bewegung. Der Beat von Housemusik unterlegte zudem den Wechsel der Posen, so dass dem Tanz ein Staccato erhalten blieb. Obwohl die Bewegungen für den konkreten Auftritt auf einem Ball improvisiert waren, wird von einigen Tänzer_innen die Kodifizierung des Tanzes im Sinne feststehender Formen betont: „C’est vraiment une danse codifiée, c’est écrit, tu peux pas faire ce que tu veux. Une arabesque reste une arabesque donc un pas de Vogue reste un pas de Vogue.“ (Bressin/Patinier 2012: 188) Die Auftritte spielten sich in Form von Duellen ab, wobei gestisch und pantomimisch versucht wurde, den/die Gegner_in in den Schatten zu stellen, wie auch der Ausdruck „throwing shade“, der diese Praxis bezeichnet, suggeriert. Voguing war somit „Selbstbehauptungs- und Selbstinszenierungstechnik“ zugleich (Kedves 2012: 160).

Ein weiterer Grund, der dafür spricht Voguing nicht nur als Tanzstil, sondern als sozial strukturierte Praxis zu verstehen, ist die Existenz der sogenannten „Houses“. [10] In den 70er Jahren etablierten sich mit dem Erscheinen der Balls Zusammenschlüsse unter den Tänzer_innen, die wie Ersatzfamilien funktionierten: „Une house c’est une famille pour ceux qui n’ont pas de famille.“ (Bressin/Patinier 2012: 30)

Häufig wurden die Teilnehmer_innen der Bälle von ihren Herkunftsfamilien aufgrund ihrer Homosexualität nicht akzeptiert und lebten auf der Straße. Die Houses boten den Mitgliedern (finanzielle) Unterstützung, aber auch Rat und Orientierung. In diesen Verwandtschaftssystemen existierten analog zur traditionellen Familienmodellen Rollen wie Vater, Mutter, Kinder, die den Mitgliedern je nach ertanztem Erfolg auf den Bällen zukamen. Gleichzeitig traten die Houses auf den Bällen als Teams gegeneinander an. Die Umdeutung der traditionellen Rollen im praktischen Leben der Tänzer_innen macht deutlich inwiefern das im Tanz etablierte Spannungsverhältnis zwischen Aneignung und Subversion auch über den Tanz hinaus von Bedeutung ist. Die Bezugnahme zur Tradition ermöglicht dabei eine völlig neue soziale Ordnung zu etablieren.

 

 

Voguing – eine subversive Praxis

Die Frage, welche Werte im Voguing affirmiert oder unterlaufen werden, bleibt zu diskutieren. Einerseits ging es um die Aneignung eines Teils der Kultur, an dem die Voguer_innen selbst nicht teilhaben konnten, der Modewelt, der Welt des Glamours. In dem Bestreben der Aneignung lässt sich die Aufwertung dieser Kultur selbst vermuten: “In the ballroom circuit it is so obvious that if you have captured the great white way of living or looking or dressing or speaking, you is a marvel.”[11]

Es zeigt sich darin aber weiterhin ein Kampf gegen die eigene Armut und der Versuch sich gegen Homophobie und Rassismus zu behaupten; Delegitimierungspraxen, die gesellschaftliche Zugänge regulieren und verhindern. Die Verkörperlichung der dominanten Kultur wird damit zur Selbstbehauptung und die Bälle können als Orte der Artikulation verstanden werden. Judith Butler sieht im Aufgreifen und Zitieren viel eher eine Affirmation als ein Unterlaufen der heterosexuellen Norm. „Das Zitieren der herrschenden Norm verschiebt in diesem Fall nicht die Norm; es wird vielmehr zu dem Mittel, mit dem die herrschende Norm äußerst schmerzhaft wiederholt wird gerade als Wunsch und Darstellung vonseiten derjenigen, die die Norm sich unterwirft.“ (Butler 1995: 187)

Demzufolge artikuliert sich hier eine Ambivalenz innerhalb derer Aneignung nicht immer Subversion bedeutet. Dennoch bleibt bei Butler in dieser Bewertung unberücksichtigt, dass der Tanz gerade als Ressource zur Selbstbehauptung genau denen diente, die als queere people of colour unterdrückt und verfolgt wurden. Auf diese Weise affirmieren sich die Voguer_innen vor allem selbst und nicht die angeeigneten Werte.[12] „In a world where they have been rejected, ballroom not only accepts these people for who they are, it celebrates them, in a variety of unique and different categories. The competitive, prize-winning aspect of ballroom gives some participants a sense of worth lacking in the ‚real’ world.“ (Connolly 2013).

Gerade die Diversität an Kategorien innerhalb des Ballrooms macht deutlich, dass es nicht einfach um eine Affirmation der heteronormativen, weißen Werte ging, sondern die Performance selbst dieses Spiel unterläuft. Marlon B. Bailey betont in diesem Zusammenhang:

„(B)allroom communities view and adopt categories of identity as malleable and mutable. Although these categories do not break entirely from hegemonic notions of sex, gender, and sexuality, the ballroom gender system allows more categories of identity and articulations of sex, gender, and sexuality than those available to members in their lives outside of this sphere.“ (Bailey 2011: 369)

Besonders auch die Art der Performance selbst, das Spiel mit Humor und Überspitzung, drückt keine einfache Affirmation aus:

„Also, house ball culture is rooted in a rich tradition of African-American cultural practices that privilege inversion, code switching and signifyin’. Thus, unlike hip-hop culture, the emphasis on bling bling and acting like a "white woman" is actually more of an ironic mockery and critique of these values more so than a straight-forward embracing.“ (Roberts 2011)

 

 

© Backstage@com

 

Ein Archiv des Voguing

Worauf beruht unser heutiges Wissen über das Voguing? Die Anfangs- und Hochphase des Voguing ist nur wenig dokumentiert, weshalb sich die Suche nach Bild- und Audiodokumenten aus der Zeit als schwierig gestaltet. Im Gegenzug ranken sich eine Reihe von Mythen um die Entstehung und die weitere Entwicklung der Bewegung, die in Erzählungen weitergetragen werden – aktuell zum Beispiel in Voguing-Workshops, die mit Pionier_innen von damals stattfinden. Bekanntestes und am meisten rezipiertes Dokument ist der Film Paris is Burning aus dem Jahr 1991 von Jenny Livingston. Der Film zeigt Aufnahmen der Bälle sowie Interviews. Obwohl er sowohl von Teilen der Voguing-Community als auch von feministischen Theoretiker_innen in vielerlei Hinsicht kritisiert wurde, ist er auch heute noch ein wichtiger Referenzpunkt.[13] An Bilddokumenten gibt es den 2011 erschienenen Fotoband Voguing and the House Ballroom Scene of New York City 1989-1992 von Chantal Regnault und Tim Lawrence, der neben Fotos und einigen Essays auch kurze Interviews enthält,[14] ebenso der Band Strike A Pose, 2012 in Frankreich publiziert. In diesen Zeitzeug_innen-Interviews wird deutlich, dass Voguing einerseits als kulturelles und zeitspezifisches Phänomen begriffen, gleichzeitig aber auch die immer noch bestehende Aktivität innerhalb der Szene betont wird: „But the house ballroom culture is alive and well – in fact expanding to other states and cities.“[15]

 

Voguing hatte seine Anfänge noch vor dem Beginn der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Es war eine Kultur mit der die Voguer_innen aufwuchsen. Heute gibt es zahlreiche Workshops, in denen man das Voguing „erlernen“ kann.[16] Es ist sicherlich problematisch, einen Lebensstil und historisch spezifische Überlebensstrategien im Setting eines Workshops zu vermitteln und notwendigerweise ergeben sich Verschiebungen, auch für die Bewegungssprache selbst. In den Anfängen diente die Bewegungspraxis nicht nur auf den Bällen, sondern auch außerhalb als Mittel zur Selbstbehauptung. Eine Trennung von Lern- und Lebenssetting war also hier nicht auf dieselbe Weise wie heute gegeben. Die Schwierigkeit eine Subkultur anderen gesellschaftlichen Gruppen zugänglich zu machen, stellt sich nicht nur beim Voguing. Problematisch ist dabei nicht nur die Frage, was vom ursprünglichen Impetus vermittelbar ist, sondern ob bzw. wie sich sozial strukturierte Prozesse überliefern lassen: Was hat das Jetzt noch mit dem Davor zu tun? Dennoch ist das Verhältnis komplexer, als dass man es einfach in „subalterne Produktion“ und „nachträgliche Rezeption“ aufspalten könnte.[17] Auch Mainstream und Subkultur bedingen sich fortlaufend gegenseitig. Dazu Jan Kedves:

„Die Geschichte des Vogueings ist (häufig) als Ausnutzung sexuell und ethnisch marginalisierter Kreativer durch den herrschenden Mainstream und dessen Stars erzählt worden – als ein Vorgang, bei dem die Ästhetik kopiert, der soziale Kontext aber ausgeblendet wird. Diese einseitige Gut-Böse-Gegenüberstellung erscheint heute fragwürdiger denn je. Schon die Aneignung handelsüblicher, also straighter Mainstream-Mode-Images durch die Akteure der Ballroom-Kultur in den 70ern stellte gewissermaßen eine Verwendung entgegen der Gebrauchsanweisung dar.“ (Kedves 2012: 163)

 

Voguing Ball Berlin 2012 © Homardpayette

 

Im Gegensatz zu früher existiert über das, was heute unter dem Label „Voguing“ läuft, eine Reihe von kleinen Dokumentationen, die sich hauptsächlich über das Internet verbreiten. Die vielen im Netz kursierenden Handyvideos, meist in schlechter Sound- und Bildqualität, sind Mitschnitte von Bällen aus den USA, Frankreich oder Russland.[18] Anhand dieser Aufnahmen zeigt sich nicht nur die große Anzahl von veranstalteten Bällen, sondern auch die Veränderung und Ausdifferenzierung des Tanzstils.[19] Es wird deutlich, dass die Bewegungssprache spektakulärer und akrobatischer geworden ist:

„Man könnte sagen: Während Vogueing auch früher schon mit akrobatischen Verrenkungen, Spagaten und dramatischen Armrotationen, die ein Auskugeln der Schultergelenke erforderten, über ein gesundes Maß an Körpernutzung hinausging, folgt der Tanz heute endgültig einem Eskalationsprogramm, das andere Extremtanz- oder Sportarten, wie etwa den Hip-Hop-Stil Krumping aus South Central Los Angeles, weit in den Schatten stellt.“ (Kedves 2012: 163)

Und Regnault stellt fest: „Like videogame warriors, today’s voguers are increasingly physical and fast.“ (Regnault 2011: 11)

 

Les Folies Bergere showgirls perform on stage at the Tropicana Las Vegas
Revue 1972 © Las Vegas News Bureau

 

Ist Voguing also heute mehr zur Tanzbewegung geworden und hat seinen sozialen Kontext endgültig hinter sich gelassen? Vielleicht ist es wenig ergiebig der nostalgisch anmutenden Frage nachzuhängen, was eigentlich vom emanzipatorischen Gehalt der einstigen Bewegung noch existent ist. Aber es bleibt festzuhalten, dass Voguing nicht mehr das Mittel der Wahl zu sein scheint, um soziale Missstände zu artikulieren. Dies liegt sicher auch daran, dass diejenigen, die sich heute tänzerisch darauf beziehen, aus anderen sozialen Kontexten stammen. Voguer_innen heutzutage sind nicht selten junge weiße heterosexuelle Frauen.[20] Aus diesem Grund verschiebt sich auch die Bedeutung, die die Aneignung von Modellposen früher einmal hatte. Fotos aus Modemagazinen dienen nicht mehr als Inspirationsquellen, sondern vorhergehende Bälle. Aufnahmen dieser, die sich im Internet manifestieren, sind viel eher Ausgangspunkte der Aneignung. Versteht man Voguing in seiner Anfangszeit als Bewegung, die sich mit dem Mittel der Performance gegen soziale Missstände richtete und in erster Linie über die Einbindung in einen bestimmten sozialen Kontext reproduzierte, so zeigt sich heute, dass sich Wege und Mittel der Aneignung diversifiziert haben. Dass viele Voguer_innen der ersten Generation heute nicht mehr leben, verändert die Fortschreibung und die Zugangsmöglichkeiten zu diesem Wissen. Obwohl sich die Houses bis heute erhalten und weltweit verbreitet haben, änderte sich – zumindest in Europa – ihr Charakter von Lebensgemeinschaften zu Tanzgruppen. Damit ist zwar noch nicht gesagt, dass sie ihre Funktion von Gemeinschaftsbildung, Solidarität und Unterstützung ganz verloren haben; aber im Sinne einer Ersatzfamilie funktionieren sie sicher nicht mehr.[21]

 

Dass die Bezüge zwischen Früher und Heute auf verschiedenen Wegen etabliert werden, zeigt folgendes Beispiel: Auf der eingerichteten Facebook-Seite Berlin Voguing Out findet sich die Dokumentation des Balls 2012 in Berlin. Auf den über 100 Fotos wird deutlich, dass es bei den Kostümierungen und Performances weniger um das Aufgreifen und Umkehren sozialer Rollen geht, sondern die phantasievolle Verkleidung in Federn, Glitzer und bunten Stoffen im Vordergrund steht. Auch das Spiel mit geschlechtlichen Rollen ist weniger oder kaum sichtbar. Weiterhin finden sich Aufnahmen von Gruppentänzen mit einstudierten Choreografien. Eine zweite Fotogruppe der Seite ist betitelt mit Voguing classics & Inspirations. Hier finden sich sowohl Stills aus Paris is Burning wie auch Bilder von vorhergehenden Bällen und Aufnahmen von Revuen aus den 60er-Jahren aus Las Vegas. Fotos aus Modemagazinen, die den Voguer_innen der ersten Generation zur Vorlage dienten, finden sich hier jedoch nicht. Vergleicht man beide Bildergruppen so zeigt sich, dass die Teilnehmer_innen des Berliner Balls vor allem die Kostümierungen aufgegriffen haben. Auch wenn die Posen sich unterscheiden, ähnelt sich zudem die Inszenierung der Fotos. Fast immer sind einzelne Tänzer_innen in der Mitte des Bildes auf dem Laufsteg / der Bühne abgebildet und manchmal ist die Reaktion des Publikums im Hintergrund zu sehen.

 

Voguing Ball Berlin 2012 © Homardpayette

 

Versteht man Archive als performative Orte, an denen sich „Vergangenes im Prozess der Auseinandersetzung stets aufs Neue rematerialisiert“ (Schulze 2005: 128), so zeigt die Dokumentation des Balls die Beziehung zur Geschichte des Voguing und dessen Diskursivierung.[22] Es lassen sich zwei Aspekte ablesen: Zum einen zeigen sich die Strategien, die Voguer_innen nutzen, um sich auf die Bewegung von damals zu beziehen, zum anderen erfüllt die Website die Speicherfunktion eines Archivs als organisiertes Corpus von Dokumenten, das der Öffentlichkeit zugänglich ist. Indem die Fotos des Balls dokumentieren, wie sich bereits verwendete Posen/Bewegungen/Haltungen fortschreiben und welche Aspekte hinsichtlich Bewegungssprache und Performance neu hinzukommen, artikuliert sich ein neues Wissen über das Voguing selbst. Damit tritt die Frage, was sich hinsichtlich des Originals bzw. der ursprünglichen Bewegung erhalten hat, in den Hintergrund. Es geht vielmehr darum, in deren Transformationen die neue Aktualität zu bestimmen.

 

Voguing Ball Berlin 2012 © Homardpayette

 

 

 

Jasmin İhraç

Nach ihrem Soziologie-Diplom an der FU Berlin, studierte Jasmin İhraç Zeitgenössischen Tanz und Choreografie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) in Berlin. Derzeit arbeitet sie als freischaffende Tänzerin, Choreografin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste" (HMT Leipzig/HZT Berlin).

 

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Literatur

Bailey, M. Marlon. “Gender / Racial Realness: Theorizing the Gender System in Ballroom Culture”. In: Feminist Studies. 27, Nr. 2/ 2011: 365-386.
Butler, Judith. Körper von Gewicht. Frankfurt / Main 1995 (1993).
Bressin, Tiphaine / Patinier, Jérémy. Strike A Pose. Histoire(s) du Voguing. Paris 2012.
Bromstein, David / Low, Dorothy / Jack Walworth. Voguing: The Message. New York 1989 (Film).
Cramer, Franz Anton / Baxmann, Inge. Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne. München 2005: 3-12.
Connolly, Nial. Welcome to the Ballroom, where Voguing is always in style. (06.03.2013), http://boingboing.net/2013/03/06/ballroom.html, 01.08.2013.
Kedves, Jan. “From Rags to Bitches. Voguing als selbstbestimmte tänzerische Glamourpraxis.“ In: COOL AUSSEHEN: Mode & Jugendkulturen. Diana Weis (Hg.). Berlin 2012: 159-163.
Kusser, Astrid. Körper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900. Bielefeld 2013.
Livingston, Jennie. Paris is Burning. New York 1991: Miramax Films (Film).
Rainer, Yvonne. Work 1961-73. Halifax / New York 1974.
Regnault, Chantal / Lawrence, Tim. Voguing and the House Ballroom Scene in New York City 1989-1992. London 2011.
Roberts, Frank Leon. There’s No Place Like Home: A History of House Ball Culture. (2011), http://legendaryballroomscene.tumblr.com/post/6529755453/theres-no-place-like-home-a-history-of-house-ball, 01.08.2013.
Schulze, Janine. „Tanzarchive: ›Wunderkammern‹ der Tanzgeschichte“. In: Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne. Franz Anton Cramer und Inge Baxmann (Hg.). München 2005: 119-131.
Wagner, Meike. „Populärkultur und Archiv. Social Networking als Archivpraxis”. In: MAP media/archive/performance #1/ 2012. http://www.perfomap.de/map1/iv.-digitale-archiv-szenarien/Das-Populaere-und-das-Archiv.-Social-Networking, 01.08.2013.

 

 


[1] Das von Trajal Harrell in Zusammenarbeit mit den Choreograf_innen Cecilia Bengolea, François Chaignaud und Marlene Monteiro Freitas entwickelte Stück ist Teil einer von Harrell initiierten choreographischen Serie mit dem Titel „Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church“.
[2] „NO to spectacle no to virtuousity no to transformations and magic and make-belief no to the glamor and the transcendency of the star image no to the heroic no the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the wiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved.“ Rainer (1974)
[3] Kedves verwendet die ältere Schreibweise „Vogueing“ die eigentlich von „Voguing“ abgelöst wurde. Kedves 2012.
[4] Vgl. Regnault 2012: 3 bzw. Bressin/Patinier 2012: 20. Historisch gesehen lässt sich die Ballroom-Szene bis ins Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Zu Beginn gab es Maskenbälle, bei denen Männer als Frauen und Frauen als Männer verkleidet auftraten, um den Preis des spektakulärsten Kostüms konkurrierten und miteinander (Walzer) tanzten. Diese Bälle waren hauptsächlich von Weißen organisiert. Schwarze durften zwar teilnehmen, aber gewannen nur selten Preise. Aufgrund der sich häufenden ungerechten Bewertungen, begannen Schwarze später ihre eigenen Bälle zu organisieren. Bezüglich der Begrifflichkeiten „schwarz“ und „weiß“ s. die folgende Fußnote.
[5] Ich verwende „queer“ um der Eingrenzung auf Homosexualität zu entgehen, auch wenn der Begriff erst später Selbstbezeichnung wurde und an anderen Stellen in Bezug auf Voguing von „Homosexuellen“ oder „gays“ die Rede ist. Teil der Ballroom-Kultur waren auch Transsexuelle, Bisexuelle, Lesben. An dieser Stelle verwende ich afroamerikanisch, was etwas anderes als „schwarz“ meint. „Schwarz“ ist ein politischer und analytischer, kein deskriptiver Begriff. In diesem Sinne sind „schwarz“ und „weiß“ als Konstrukte zu verstehen, die durch das Verhältnis des Rassismus miteinander verflochten sind und so gesellschaftliche Positioniertheiten hervorbringen. Sie verweisen auf verschiedene Genealogien und politische Projekte. Der Begriff „Blackness“ kam nach den Anfängen der Ballroom-Kultur, aber mit der Ausspezifizierung des Voguing in den 60ern mit der Black Power-Bewegung als Selbstzuschreibung auf. „Schwarz“ drückt eine Offensivität zur weißen Vorherrschaft aus, sich nicht mit der herrschenden Aufteilung von Identitäten und Räumen zufrieden zu geben, indem bewusst auf Differenz gesetzt wird. Vgl. Kusser 2013: 15 und 17. Latin@ schließt die weibliche und männliche Schreibweise mit ein.
[6] Butch Queen meint die männliche Haltung/Performance eines schwulen Mannes. (Butler 1995: 69).
[7] „La mise en mouvement du rêve d’être ailleurs, de s’évader, d’être un-e autre, déjà, mais aussi d’être qui l’on est.“ (Bressin/Patinier 2012: 47) Formal lässt sich dieses Verhältnis auch als „Differenz von Formvorgabe und individueller Ausführung“ beschreiben. (Baxmann / Cramer 2005: 11).
[8] Vgl. Connolly 2013: 4: „(...) the ability to pass convincingly as something you are not (a straight thug, a biological woman) is called realness.“ In diesem Sinne war Voguing auch Alltagsstrategie, mit der sich Voguer_innen vor Anfeindungen schützen konnten. „Black queer members of the ballroom community use performance to unmark themselves as gender and sexual nonconforming subjects. Unmarking oneself through performance or ‚passing’ is a necessary strategy by which to avoid discrimination and violence in the urban space.“ (Bailey 2011: 366) Siehe auch das Konzept des Passing bei Butler in Körper von Gewicht (1993).
[9] Voguing erhielt seinen Namen mit Bezug auf die Modezeitschrift Vogue, die für den Glamour stand, den man sich über das Kopieren der Posen und Outfits aus den Magazinen aneignete. In der späteren Entwicklung des Voguing kristallisierten sich fünf grundlegende Elemente heraus: Handperformance (drehende sehr schelle Handbewegungen, inspiriert von ägyptischen Hieroglyphen), Catwalk (das Gehen wie auf dem Laufsteg), Duckwalk (eine mit gebeugten Knien ausgeführte Gangart, kombiniert mit schnellen Armbewegungen), Bodenperformance (akrobatische Bewegungen, inspiriert vom Turnen) und Dips (das plötzliche Fallen aus dem Stand direkt auf den Boden), vgl. Bressin/Patinier 2012: 51. Wenig ist darüber bekannt wie die Tänzer_innen diese Posen einstudierten. Wurde beispielsweise offengelegt welche Bilder genau für die Performance als Vorlage dienten? Gab es Wiederholungen oder häufig zitierte Posen und Bilder?
[10] Die Namen der Houses stammten ebenfalls von der Modewelt: House of Evisu, House of Blahnik, House of Miyake Mugler, House of Balenciaga usw. (Kedves 2012: 163)
[11] Auszug eines Interviews aus „Paris is burning“, vgl. Livingston 1991. Die grammatische Konstruktion gehört zum African American English.
[12] „Much of the recent popular and scholarly – albeit limited – preoccupation with the ballroom community underemphasizes both the conditions under which its members live and their use of performance as a way of surviving such conditions.“ (Bailey 2011: 367).
[13] Vgl. hierzu die Kritik von bell hooks. hooks kritisiert vor allem den „weißen“ Blick den die Regisseurin auf die Community richtet: „Jennie Livingston nähert sich ihrem thematischen Gegenstand wie eine Außenstehende, die hineinblickt. Da ihre Anwesenheit als weiße Frau/lesbische Filmemacherin in Paris is Burning fehlt, ist es für die Zuschauer leicht, sich vorzustellen, daß sie einen ethnografischen Film sehen, der das Leben schwarzer schwuler Eingeborener dokumentiert, und es fällt ihnen leicht, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sie ein Werk betrachten, das aus einer Perspektive und einen Standpunkt heraus gestaltet und gebildet ist, die für Livingston charakteristisch sind.“ bell hooks zitiert nach Butler 1995: 189. Der 2006 erschienene Dokumentarfilm How do I look kritisiert ebenfalls die ausbeuterische Darstellungsweise der Community in Paris is burning und versucht eine alternative Dokumentation. Leave it on the floor (2011) ist ein Spielfilm über die Szene von damals. Beide Filme erlangten viel geringere Aufmerksamkeit, als es bei Paris is Burning der Fall war. Vgl. hierzu das Interview mit dem Regisseur Wolfgang Busch in: Bressin/Patinier 2012: 130-145.
[14] Hier findet sich eine besonders große Anzahl von Fotos während der Bälle, neben Einzelporträts der Voguer_innen im Kostüm, die für die Kamera intiniiert wurden. Regnault besuchte die Tänzer_innen auch außerhalb der Bälle bei sich oder ihnen zu Hause.
[15] Vgl. Regnault 2011: 11 und das Interview mit Lasseindra Ninja in: Bressin/Patinier 2012: 187.
[16]Auch im Rahmen des Tanzfestivals Impulstanz (Wien) taucht Voguing seit einigen Jahren auf; vgl. http://www.impulstanz.com/archive/2012/workshops/id1997/. In der Ausgabe 2013 ist sogar die Eröffnungsveranstaltung dem Voguing gewidmet: „Mit einer Crew aus zeitgenössischen TänzerInnen und Voguing Divas und Divos aus Paris, Helsinki, New York, Brüssel und Buenos Aires, bringt der New Yorker Shooting Star Trajal Harrell den Catwalk im Haupthof des Wiener MuseumsQuartiers zum Beben! ›They will be werkin' the catwalk not only with savoir faire but with a serious license to party!‹ Kommentiert von Legendary Selvin vom Legendary House of Mizrahi, NYC, und begleitet an den Turntables von DJ AGUILA.“ (http://www.impulstanz.com/performances/2013/id619/)
[17] Astrid Kusser betont in ihrer komplexen Analyse zum Cakewalk, dass sich das Verhältnis von Rezeption und Aneignung als vielschichtig erweist und nicht einfach auf „Original vs. Kopie“ reduzieren lässt; vgl. Kusser 2013: 17.
[18] Wenn sich das Archiv des Voguing heute zum Teil als ein Online-Archiv erweist, so stellen sich neue Fragen an diese Archivform: „Das populäre Archiv verbindet die Eigenschaften des Populären – Allgemeinverständlichkeit und Allgemeinzugänglichkeit – mit den Ordnungssystemen des Archivs sowie seiner Aufgabe einer kulturellen Kontinuation.“ (Wagner 2012)
[19] Oft tragen die Videos Stil-Bezeichnungen wie „Old Way“ oder „New Way“ oder den Namen der jeweiligen Kategorien. http://www.youtube.com/user/BALLROOMTHROWBACKS
[20] „Comment une danse créée par les blacks et latinos gays a-t-elle été récupérée par des hétéros blanches européennes, par les stars de la Pop les plus mainstream, par les folles du monde entier.“ (Bressin/Patinier 2012: 1)
[21] Untersuchen müsste man beispielsweise wie dies in den USA ist. Dort haben die Houses, im Gegensatz zu Europa, wo sie überhaupt erst in den letzten Jahren entstanden, eine lange Tradition .
[22] „Übertragungen von Ereignissen und ihrer Komplexität in andere Medien der Erzeugung sind zentrale Momente der Dokumentierung und Diskursivierung von Aufführungen.“ Aus dem Papier zum Workshop Performance und Archivprozesse des Forschungsprojekts Verzeichnungen, Berlin, 25. und 26. April 2013.