Eine kollektive Reise zu Antigone, deren Aufzeichnung und Transformation

 

Masahiko Yokobori (Leipzig/Tokio)

 

 

 

 

Einhundert Jahre bevor Johann Wolfgang von Goethe nach Italien reiste, trat der japanische Dichter Basho Matsuo eine Reise von Tokio aus in das nördliche Land an. In einem der bekanntesten Werke der Reiseliteratur Japans Oku no Hosomichi (1702) zeichnete Basho seine Erinnerungen in Form von Haiku, einer traditionellen Gedichtform, auf. Eine Reise ist immer noch ein wichtiges Motiv in der Weltliteratur. Im Laufe der medialen Entwicklung veränderte sich jedoch die Methode, mit der man seine Reisen aufzeichnete, sie beschrieb oder über sie kommunizierte.

Die Schauspieler der japanischen Theatergruppe Marebito Theatre Company reisten 2012 von Tokio aus in die geschädigten Gebiete Fukushima und Minami-Soma (Abb. 1).

 

 

Abb. 1: Reisekarte der ersten Aufführung

 

Diese Reise war der erste Teil ihres Theaterprojekts Aufzeichnung einer Reise zu Antigone und deren Aufführung. Während der Reise zeichneten sie ihre Erfahrungen und Erinnerungen in einem Blog bzw. per Twitter auf.

Das Projekt bestand aus einer ersten Aufführung, deren Geschichte auf der Reise von August bis Oktober in den realen Städten entwickelt wurde, und einer zweiten Aufführung, die Mitte November in Nishisugamo Arts Factory (Tokio) gezeigt wurde. Es gibt drei Stories in diesem Stück. Eine handelt von der fiktiven Theatergruppe Patoriot Theater, die für eine blinde Person in Fukushima das Stück Antigone[1] aufzuführen versucht. Regisseur Masataka Matsuda hält zum Konzept des Projekts Folgendes fest:

„Die Worte der Toten, die nicht mehr unter uns sind, können wir nicht verstehen. Wenn wir sie in unsere Sprache übersetzen, wird unsere vertraute Muttersprache dabei zerstört. Ihre Worte klingen wie die Sprache eines fremden Landes, das wir noch nie gesehen und von dem wir noch nie gehört haben. Deshalb handelt es sich bei der Übersetzung von der Sprache der Toten in die Sprache der Lebenden nicht um die Übermittlung einer Bedeutung, die uns bekannt ist, sondern es entsteht eine Sprache, die weder die der Toten noch die der Lebenden ist.“ (Matsuda 2013: 95-96, eigene Übers.)

Die Gruppe versuchte in diesem Projekt, sich mit dem großen Ereignis vom 11. März 2011 und der Erinnerung daran zu beschäftigen. Sie versuchte, sich dem Ort, der vom Tōhoku-Erdbeben 2011 und der Nuklearkatastrophe von Fukushima betroffen wurde und dieser Zeit anzunähern. Zur Wahl des Stoffes Antigone antwortete Masataka Matsuda auf meine Frage:

Masahiko Yokobori: Kann man die Beschäftigung mit Antigone im Kontext von Fukushima hier als eine offensive politische Beschäftigung verstehen?
Masataka Matsuda: Ja, in gewissem Maße. Antigone ist die Geschichte einer Beerdigung. Aber ich wollte nicht Antigone auf die Bühne bringen. Ich fühlte mich von ihrem merkwürdigen Verhalten und ihrer gefassten Verrücktheit angezogen, wobei sie nicht auf der Seite des staatlichen Gesetzes, sondern auf der Seite der Toten stehen wollte. Die Entstehung einer anderen Sprache ist ein Motiv dieses Projekts. Durch die Aufführung möchten wir Antigones Worte mit unserem Körper lesen.

Der erste Teil, bei dem man nicht mit vielen Zuschauern rechnete, war eine Recherchereise für die Theatergruppe selbst. Matsuda gab den Schauspielern eine kurze Beschreibung der Protagonisten und kleine Dialoge. Ihre Aufgabe war es, Erfahrung mit diesem Material an spezifischen Orten zu machen und ihre Erfahrungen jeweils in Tagebüchern aufzuzeichnen. Die Zuschauer konnten Twitter oder den Blog jedes Schauspielers lesen und darüber die Ereignisse der Reise nachvollziehen.

Die zweite Aufführung stellte einen Ort her, an dem die Schauspieler sich an jene Erfahrungen der Reise erinnerten. Sie dauerte sieben Stunden, während denen die Zuschauer jederzeit hereinkommen und zusehen konnten. Diese Form des Projekts war auch eine Reflexion über den eigenen kollektiven Produktionsprozess, den Matsuda und seine Gruppe seit 2009 zu durchlaufen versuchen.

Die Reise wurde zur Metapher des Suchens. Denn was fanden die Schauspieler auf der kollektiven Reise zu Antigone heraus? Was und wie zeichneten sie auf? Konnten die Zuschauer das verstehen? Was resultierte eigentlich daraus?

 

 

Masataka Matsuda und Marebito Theater Company

Masataka Matsuda ist 1962 in Nagasaki geboren. 1990 gründete er die Theatergruppe Jiku-Gekijyou (Zeitraum-Theater) und inszenierte eigene Theaterstücke. Sie folgten eher einem naturalistischen Stil und wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet. Nachdem er 1997 die Gruppe aufgelöst hatte, arbeitete er als Dramatiker weiter und verzichtete darauf, Regisseur zu sein. 2003 gründete er eine neue Theatergruppe Marebito No Kai (Marebito Theater Company, Gesellschaft der Gäste). Gleichzeitig fing er wieder zu inszenieren an, so dass er seinen neuen Stil auf die Bühne bringen konnte. Im Gegensatz zu den vorherigen Werken ist seine Ästhetik sehr experimentell geworden. Über seine Ästhetik sagte der Theaterwissenschaftler Eiichiro Hirata:

Als Regisseur ist er zwar nur einer der vielen japanischen Dramatiker, die eine Gruppe leiten und ihre Stücke selbst inszenieren. Anders als seine Kollegen inszeniert er jedoch seine Stücke nicht, um sie besser ins Licht zu rücken, sondern um mit ihnen noch spielerischer zu experimentieren. In der Gruppe Marebito no Kai entwirft er Collagen aus Worten, die von verschiedenen Menschen stammen und lässt sie von etwa sieben Laiendarstellern sprechen.“ (Hirata 2009: 118)

Wie Hirata hier beschreibt, haben die Schauspieler und andere Theaterschaffende eine große Bedeutung für diesen Prozess. Matsuda erläutert den Produktionsprozess in meinem Interview:

MY: Wollten Sie, als Sie Marebito Theater Company gegründet haben, den Produktionsprozess im Vergleich zu Jiku-Gekijyou verändern?
MM: Ja. Nach Voiceprints City – Letter to FATHER (2009) haben ein Video- und ein Tontechniker angefangen, sich stark inhaltlich zu engagieren.
MY: Warum haben Sie angefangen, sich mit einer kollektiven Stückentwicklung zu beschäftigen?
MM: Ich möchte das versuchen, was nur Theater vermögen und was Filme nicht schaffen können. Ich verzichte darauf, dass jemand einen zentralen Gesichtspunkt oder Überblick hat, damit ich sicher sein kann, dass niemand weiß, was in dem Stück vorkommt. Der Raum der Probe ist für mich ein Ort, wo immer etwas fließt. Das ist aber kein Chaos. Meines Erachtens gibt es zwei Sichtweisen auf Theater. Eine Sicht ist die der Welt der Erzählung, der Sprache und der Bilder. Die andere Sicht ist die des wirklichen Orts, an dem Schauspieler und Theaterschaffende agieren. Es ist sehr wichtig, dass beide Sichtweisen parallel laufen; und sie sollen in gewisser Maße immer harmonieren. Im herkömmlichen Theater wurde die wirkliche Sicht untergeordnet, weil ein Drama oder ein Text dort sehr wichtig ist. Wenn viele Personen am Produktionsprozess teilnehmen, wird die Position des Dramatikers oder Regisseurs schwächer und beide Sichtweisen können ineinander fließen.

 

Seine Heimat Nagasaki und die andere verstrahlte Stadt Hiroshima sowie die Erinnerung daran sind zentrale Motive seiner Stücke. In Hiroshima-Hapcheon – Doubled Cities in Exhibition (2010)[2] versuchte er die Erinnerung an Hiroshima und an die koreanische Stadt Hapcheon, von wo aus viele Gastarbeiter während des zweiten Weltkrieges nach Hiroshima kamen, auf die Bühne zu bringen. Anstatt ein Stück zu schreiben, sammelte er die Erfahrungen der 13 Schauspieler, die individuell nach Hiroshima oder Hapcheon reisten, um etwas herauszufinden, und versuchte, die Erinnerungen und die Körper der Schauspieler auszustellen. Alle Schauspieler kamen ins Auditorium und zeigten, was sie gefunden hatten. Die gesammelten Stoffe waren sehr unterschiedlich. Jeder Schauspieler berichtete individuell. Eine Schauspielerin spielte zum Beispiel eine verstrahlte Koreanerin, die sie in Hapcheon kennengelernt hatte, und berichtete über deren Erinnerungen an das, was sie während des zweiten Weltkriegs in Hiroshima erlebt hatte. Ein anderer Schauspieler sprach Worte nach, die er über Kopfhörer hörte. Es war eine Liste der Ausstellungsstücke, die sich im Friedensmuseum von Hiroshima befinden. Die Veranstaltung dauerte über drei Stunden, während derer die Zuschauer ebenfalls jederzeit hereinkommen, gehen und wiederkommen konnten. (Abb. 2)

 

Abb. 2:  Hiroshima-Hapcheon – Doubled Cities in Exhibition (2010)
Fotos: Yujiro Sagami (oben), Mariko Mori (unten)

 

 

Zwischen Aufführung und Ausstellung

Matsuda und die Gruppe experimentieren hier mit einem Format, das sich zwischen einer (performativen) Aufführung und einer Ausstellung bewegt. Sie stellen die leibhaftig anwesenden Körper der Schauspieler aus, die eine reduzierte Aktion wie in einem Loop fortwährend wiederholen und ermöglichen den Zuschauern sich selbst im Raum und in den Raum zu bewegen.

Der Gießener Theaterwissenschaftler André Eiermann hat diese Grenzüberschreitung zwischen Aufführungen und Ausstellungen so beschrieben:

„Was im postspektakulären Theater ineinander übergeht, sind nicht Aufführungen und Werke, sondern Aufführungen und Ausstellungen. [...] Wie also die selbstreflexiv-performative Struktur ästhetischer Erfahrung nicht von einer Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern oder von der Herstellung vergehender Gegenwarten abhängt, so entscheidet sich an diesen Merkmalen auch nicht, ob sich eine Situation als Aufführung oder als Ausstellung ereignet. Was über die besondere Art des Ereignisses einer Situation entscheidet, ist vielmehr ihre Inszenierung.“ (Eiermann 2009: 359-363)

Und die Philosophin Juliane Rebentisch stellt den Aspekt der körperlichen Bewegung des Betrachters im Raum als Teil der selbstreflexiv-performativen Struktur des Objektbezuges heraus:

„Eine wirkliche Neuerung von Minimal Art und Installationskunst ist demgegenüber, dass die selbstreflexiv-performative Struktur des ästhetischen Objektbezugs durch ihre jeweiligen räumlichen Inszenierungen in besonders deutlicher Weise hervorzutreten scheint. Dies wohl vor allem auch deshalb, weil der Betrachter Beziehungen zum ästhetischen Gegenstand hier auch durch seine körperliche Aktivität herstellt, dadurch, dass er sich beispielsweise um das minimalistische Objekt oder die Elemente der Installation herumbewegt. Doch geht die selbstreflexiv-performative Aktivität des Betrachters eben nicht in der körperlich-räumlichen Involvierung oder in jenen interaktiven Spielen auf, die normalerweise mit dem Begriff der Betrachtereinbeziehung assoziiert werden.“ (Rebentisch 2003:59)

Es ist bemerkenswert, dass diese selbstreflexiv-performative Struktur sich parallel zu den von den beiden Theoretikern hier beschriebenen Beobachtungen auch in der japanischen Theaterszene, zum Beispiel bei Matsuda, entwickelte. Die neue Struktur ermöglicht den Zuschauern einen anderen Zugang zu und Umgang mit den Aufführungen.[3]

Mit diesem Projekt interessierte sich Matsuda dafür, einen neutralen Zustand – die Grenze zwischen dem spielenden (darstellenden) und alltäglichen (ausgestellten) Körper – des Schauspielers zu zeigen und ein alternatives Theaterformat zu suchen.

Marebito Live (2011) ist eine Fortführung dieses Versuches. Das Projekt bestand aus einer Straßenszene, die einmal pro Monat im Mai (Part 1), Juni (Part 2) und Juli (Part 3) in der Stadt Kyoto aufgeführt wurde, sowie einer Aufführung, die im August im Kyoto Art Center gezeigt wurde. Dafür schrieb Matsuda das Stück Einwohner der Stadt N – eine Geschichte der Familie Midorishita mit kleinen Dialogen. Die Schauspieler spielten das Stück an den Originalorten, die darin beschrieben wurden. An einem Tag fanden verschiedene Szenen an verschiedenen Orten aufeinander folgend statt. Die genaue Zeit und der Ort wurden durch Blog und Twitter angekündigt. Die Zuschauer konnten vorher einen Text und eine Anleitung von der Website herunterladen und lesen. Nach dem Abschluss einer Straßenszene liefen die Zuschauer gemeinsam zum nächsten Ort. (Abb. 3)

 

Abb. 3.1-3.6:  Marebito Live Part 1-3 (Fotos: Yujiro Sagami)

 

Auch bei diesen Straßenszenen rechnete man nicht mit vielen Zuschauern; sie brachten vor allem Erfahrungen für die Theatergruppe selbst.

Nachdem die Straßenszenen drei Mal stattgefunden hatten, gab es eine so genannte Digest-Aufführung. Wie in Hiroshima-Hapcheon wurden die Schauspieler im Auditorium ausgestellt. Während der vierstündigen Veranstaltung wiederholten sie jede Straßenszene. Wie in einem Museum wurde eine Bildunterschrift neben jeden Schauspieler gestellt. (Abb. 4)

 

Abb. 4.1-4.5: Marebito Live Digest-Aufführung (Fotos: Yujiro Sagami)

 

Die Zuschauer waren aufgefordert, nicht ein Drama zu verstehen, sondern in den Gesichtern der Schauspieler zu lesen. Matsuda selbst wollte den Zuschauern eine neue Form der Präsentation zeigen. Die meiste Zeit der Aufführung hielten die Schauspieler Monologe – wie ausgestellt –, manchmal jedoch sprachen sie in Dialogen und es fand eine theatrale Szene statt, eine Prügelei oder die Aufnahme einer Familienfotografie.

Auch lag ein Kassettenrekorder auf einem Tisch und die Zuschauer konnten selbst eine Kassette abspielen. Auf ihr konnte man eine Ton-Collage hören, die ein eigenständiger Beitrag des Ton-Mitarbeiters war. (Abb. 5)

 

Abb. 5: Marebito Live Digest Aufführung, Ton-Collage (Fotos: Yujiro Sagami)

 

 

Die erste Aufführung

Die Struktur des Projekts Aufzeichnung einer Reise zu Antigone und deren Aufführung (2012)[4] kann mit Marebito Live parallelisiert werden. Die Straßenszenen entsprechen der ersten Aufführung und die Digest-Aufführung entspricht der zweiten Aufführung. Zu diesem Format sagte Matsuda in meinem Interview:

 

MY: Wie kamen Sie dazu, sich für dieses Format des Stücks zu entscheiden?
MM: Marebito Live war dabei ein wichtiges Element. Damals interessierte ich mich nicht dafür, ein Theaterstück auf der Straße aufzuführen, sondern Schauspieler zu sehen, die eine fiktive Situation in der Wirklichkeit erleben. Ich wollte die Gesichter der Schauspieler / Menschen zeigen. Ein Gesicht, das zwischen dem Spielen und der Wirklichkeit liegt. Ich habe größeres Interesse an einem Gesicht, wenn ein Schauspieler aufhört zu spielen, als an einem, wenn er spielt. Theater ist eine Kunst der Gegenwart. Aber wir Menschen haben eine Vergangenheit im Vergleich zu anderen Tieren und wir können die Erinnerungen wiedergeben. Ich möchte den Körper eines Schauspielers, der an die Vergangenheit denkt, sehen.
MY: Wollten Sie von Anfang an die Digest-Aufführung sehen?
MM: Ja, die Digest-Aufführung war wichtig. Aber ich fand sie damals nicht so gut, weil wir doch wieder eine Theater-Szene aufgeführt haben. Während dieser theatralen Szene haben die Schauspieler richtig gespielt und da war dann wieder ein spielendes Gesicht.
MY: Und Sie wollten in dem neuen Projekt sehen, was Sie in Marebito-Live nicht sehen konnten, oder?
MM: Ja, im Antigone-Projekt versuchte ich eine vier Monate dauernde, vergangene Reise in sieben Stunden wiederzugeben.
MY: War das vor allen Dingen eine Reise für die Theatergruppe selbst?
MM: Ja, und wir erschufen eine Fiktion, die von uns absichtsvoll geschrieben wurde. Daraus resultierte eine sehr kunstvoll erzählte Welt. Alle Theater sind so. Wir haben ein Theater im Hinblick auf unsere Methode gemacht.

 

Für das Projekt eröffnete die Gruppe eine spezielle Website. Die erste Aufführung kann über die Blogs, Twitter und Facebook-Acounts der Protagonisten verfolgt werden, die auf dieser Website verlinkt sind. (Abb. 6)

 

Abb. 6: Eine spezielle Website (http://www.marebito.org/antigone/)

 

Auf dieser Webseite werden die Informationen zur ersten Aufführung archiviert. Wenn Sie „Name des Protagonisten“ anklicken, können Sie sein Tagebuch in seinem Blog oder Twitter lesen. Wenn Sie „zukünftige Ereignisse“ anklicken, können Sie bei Twitter lesen, wann und wo zukünftige Ereignisse stattfinden. Wenn Sie „bisherige Aufzeichnung“ anklicken, können Sie lesen, was bisher passiert ist.

 

Wie in Marebito Live schrieb Matsuda ein Stück mit kurzen Dialogen. Es gibt drei Geschichten. Eine handelt von Minoru Ikiune, der in einer Buchhandlung jobbt. Eine weitere handelt von der Theatergruppe Patoriot Theater, welche für eine blinde Person das Stück Antigone aufzuführen versucht. Die Theatergruppe besteht aus der Leiterin und Regisseurin Momoko Ohki, sowie Umemi Hibari, die Antigone spielt, Mika Yoshimoto, die Ismene spielt, Touki Kurume, der Kreon spielt, und Jun Rosso, der Haimon spielt. Die dritte Geschichte handelt von einem „Ich“, das in einer Functional Food Firma in Koenji arbeitet, das Leben von einer Kollegin, Frau Isoyama, und deren Freund Kinoshita beobachtet und in ihrem Blog aufzeichnet. Daneben gab es noch weitere Protagonisten und Geschichten. Beispielsweise lief Sanae Kurihara über die Straße und verteilte ihre Visitenkarten an Passanten. (Dies kann man sich bei youtube ansehen.) Die Geschichten wurden vom 10.08.2012 bis 04.11.2012 während der Reise von Tokio in die geschädigten Gebiete Fukushima und Minami-Soma entwickelt. Insgesamt fanden ca. 40 Szenen wie folgt statt: (Abb. 7)

 

Abb. 7: Das Programm der ersten Aufführung

 

Fotos der ersten Aufführung
http://www.marebito.org/archive.antigone.photo.html

 

Videos der ersten Aufführung
http://www.marebito.org/archive.antigone.movie.html

 

Während der Reise beschrieben sechs Schauspieler ihre Erfahrungen in jenem Blog, zwei Schauspieler twitterten und einer zeichnete Ton auf und lud die Aufzeichnung in das Internet hoch. Sie schrieben jedoch nicht als Schauspieler, sondern als fiktive Protagonisten. Die Schauspielerin Chise Ushio schrieb ihren Blog als Umemi Hibari, einer Schauspielerin des Patoriot Theaters. Im Tagebuch vom 25. 9. – drei Tage nach der Aufführung in Fukushima – schrieb sie:

„2012-09-25 14:29:27
22.9. Notiz.
Aufführung in Fukushima. Nach der Aufführung kam ich nach Hause zurück.
Wenn ich mich frage, wozu ich gefahren bin, war es nur, um meine Rolle zu sprechen.
Das war wie das, was ich angesammelt habe, auszuspeien. Anderen schien es auch wie mir zu gehen.“

 

Diese Notiz wurde zwar von der Protagonistin Umemi Hibari geschrieben, aber die Grenze zwischen der Protagonistin und der Schauspielerin ist undeutlich geworden.

Zuschauer hätten die erste Aufführung auch live miterleben können, aber es gab tatsächlich sehr wenige solcher Zuschauer. Die meisten lasen Twitter oder einen Blog des jeweiligen Protagonisten und verfolgten so die Ereignisse der Reise. Dazu sagte Matsuda:

 

MY: Waren Sie auch bei der ersten Aufführung dabei?
MM: Nein, wir haben jeweils eine kleine Probe gemacht, aber das war’s.
MY: Dann kennen Sie die Erinnerungen, die die Schauspieler erzählt haben, durch Twitter oder Blogs wie normale Zuschauer?
MM: Ja. Wenn ich ein interessantes Tagebuch fand, reagierte ich darauf und der neue Dialog wurde davon beeinflusst.

 

 

Die zweite Aufführung

Die zweite Aufführung wurde zu einem Raum, an dem sich sowohl die Gruppe als auch die Zuschauer an die erste Aufführung erinnerten. Sie fand vom 15. 11. 2012 bis 18. 11. 2012 in Nishi-Sugamo Arts Factory statt. Der Aufführungsort ist die ehemalige Turnhalle einer Mittelschule und wurde 2004 renoviert. Die Aufführung fand von 14 Uhr bis 21 Uhr statt und die Zuschauer konnten jederzeit kommen, gehen und wieder kommen. (Abb. 8)

 

Abb. 8: Das Programm der zweiten Aufführung

 

Fotos der zweiten Aufführung
http://www.marebito.org/archive.antigone.photo2.html

 

Die Turnhalle wurde ein Ort zum Sehen. Es war sehr dunkel in der Turnhalle. Manche Stellen waren schwach beleuchtet, dort standen die Schauspieler. Im Unterschied zu den bisherigen Stücken fand hier keine theatrale Inszenierung statt. Die Schauspieler erinnerten sich daran, was sie auf der Reise herausgefunden hatten, ohne etwas auszusprechen. In meiner eigenen Erfahrung hörte ich sie undeutlich etwas murmeln. Ihre Körper bewegten sie etwas, zum Beispiel hielten sie den Kopf schief. Die Zuschauer konnten sich den Schauspielern nähern oder auf einer Bank sitzen. In der Ecke waren die Kataloge, die einen Text von Matsuda und alle Tagebücher enthielten, ausgelegt. Die Zuschauer konnten die Kataloge mitnehmen und lesen.

 

Video 1: Die zweite Aufführung - http://www.youtube.com/watch?v=i0gC8vrGreg

 

Das Schulhaus war ein Ort zum Hören. Dort wurden gleichzeitig die Hörspiele vorgeführt. Im 2. OG lief ein siebzigminütiges Hörspiel, das sich aus während der Reise gesammelten Tönen und Geräuschen zusammensetzte. Im UG konnten die Zuschauer selber eine Kassette auswählen und abspielen.

 

 

Im Erweiterungsbau fanden Künstlergespräche mit Matsuda und einem Gast statt. Als ich diese Aufführung sah, war der Theaterwissenschaftler Eiichiro Hirata als Gast eingeladen. Er erwähnte, dass die zweite Aufführung ein Ort der Abwesenheit sei und dass die Zuschauer den Raum verändern könnten. In dieser Abwesenheit versuchte man etwas zu spüren und fühlte sich von den Schauspielern wahrgenommen.

Aus meiner eigenen Erfahrung konnte ich das jedoch nicht so nachvollziehen. In der Aufführung konnte ich selbst kaum spüren, was die Schauspieler auf der Reise herausgefunden hatten. Ein Grund dafür war, dass die Gruppe die Informationen an die Zuschauer in der zweiten Aufführung auf ein Minimum reduzierte. Im Gegensatz zu vorherigen Projekten gab es keine Bildunterschrift oder ausführliche Anleitung. So fehlte eine Vermittlung zwischen den Erfahrungen der Gruppe und denen der Zuschauer. Das Künstlergespräch war ein wichtiges Format, um den Hintergrund des Projekts besser zu verstehen. Aber auch Informationen auf anderem Weg müssten den Zuschauern den grundlegenden Rahmen vermitteln.

 

 

Archiv und Selbstreflexion

Da die Gruppe sich darüber bewusst war, eröffnete sie ein Archiv auf der Website. Über das Archiv äußerte sich Matsuda so:

 

MY: Wie denken Sie, ist das Antigone-Projekt zu archivieren?
MM: Ich denke, dass das Archiv bereits ein Teil des Stücks ist. Wir möchten nicht nur die Informationen, sondern auch die Echos zeigen. Es wäre gut, dass noch weitere Echos entstehen, wenn man unser Archiv liest. Live ist ein Aspekt des Theaters, aber wir versuchen ein neues Format zu finden. Archivierung des schon geschehenen Ereignisses im anderen Format und Synchronisierung zwischen den Spuren der ersten Aufführung auf der Website und der Realität. Ich finde, dass die andere Form der Verfügbarkeit von Zeit im Internet eine Möglichkeit für das künftige Theater bietet.

 

Im Archiv wurden die Kritiken, die Transkription der Künstlergespräche, Fotos, Videos und Texte veröffentlicht. Weiterhin wurde ein 37-seitiges Referat zum Projekt dort veröffentlicht. Der interessanteste Beitrag ist der der Schauspielerin Chise Ushio, die Umemi Hibari spielte. Sie beschrieb – als Tabelle angeordnet –, an was sie sich in der zweiten Aufführung erinnerte. Sie musste ca. vier Stunden auf der Bühne stehen und sie teilte sich diese Zeit in sechs Teile: Begegnung und Probe (30 min), Über die Stimme (40 min), Auftreten in Ikiunes Traum (60 min), Antigone Aufführung in Fukushima (40 min), Rede und Brief (30 min) und Stehen (30 min). Ihre Erinnerungen in Antigone Aufführung in Fukushima sieht wie folgt aus: (Abb. 9)

 

Abb. 9: Ushios Erinnerungen in der Antigone Aufführung in Fukushima


Aus der Tabelle kann man herauslesen, was die Schauspielerin auf der Reise herausfand und wie sie es in der Aufführung zeigte. Zuerst zeichnete sie ihre Erinnerungen in einem Blog oder per Twitter auf. Dann ordnete sie ihre Erinnerungen und ihre Gefühle in Teilaspekten an und formte sie in tatsächliche Bewegungen um. Jeder Schauspieler entwickelte eine eigene Methode, wie er sich an die Vergangenheit erinnerte. Matsuda wollte die Methode nicht vereinheitlichen.

Das war auch eine Selbstreflexion über den kollektiven Produktionsprozess, den Matsuda und seine Gruppe seit 2009 versuchten. Sie verzichten darauf, dass jemand eine zentrale Perspektive oder einen Überblick hat. Und sie versuchen, die Welt der Sprache / der Images und die tatsächliche Sicht parallel fließen und harmonieren zu lassen. Die Archivierung spielt eine wichtige Rolle sowohl in den einzelnen Stücken, als auch im Übergang zu einem neuen Projekt. Wenn man auf seiner Reise etwas herausfindet, sie aufzeichnet, sie selbst reflektiert, dann tritt man eine neue Reise an.

 

 

 

Masahiko Yokobori (Leipzig/Tokio)
1986 in Tokio geboren. Er promoviert an der Tokyo University of the Arts zum Thema „Über die Dramaturgie des kollektiven Theaters in Deutschland und Japan“. Seit 2012 ist er als Gastdoktorand an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig. Zudem ist er als Dramaturg und Produktionsleiter tätig

 

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Literatur
Bennett, Susan: theater & museums. Hampshire 2013.
Büscher, Barbara: „Beweglicher Zugang, Bewegung als Zugang. Performance – Geschichte(n) – Ausstellen.“ In: Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik. Nadja Elia-Bohrer u.a. (Hg.). Bielefeld 2013: 501-521.
Eiermann, André: Postspektakuläres Theater: Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste. Bielefeld 2009.
Hirata, Eiichiro: „Das japanische Regietheater.“ In: Theater in Japan. Eiichiro Hirata und Hans-Thies Lehmann (Hg.). Berlin 2009: 109-119.
Matsuda, Masataka: „Bericht über das Theaterstück “Aufzeichnung einer Reise zu Antigone und deren Aufführung”“ (Japanisch) In: Rikkyo Review of New Humanities. Nr.1/ 2013: 95-117.
Matsuda, Masataka: Unveröffentlichtes Interview mit Masahiko Yokobori, April 2013 in Tokio.
Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M. 2003.

 



[1] Japanische Übersetzung von Tsunari Fukuda (Shincho Verlag), nach der englischen Übersetzung von Richard C. Jebb.
[2] Ein Auftragswerk des Festival Tokyo 2010 unter dem Thema „Disrobing Theatre“.
[3] Vgl. u.a. Bennett (2013) und Büscher (2013).
[4] Ein Auftragswerk des Festival Tokyo 2012 unter dem Thema „Beyond the Words“.