Bewegung als Zugang: Performance – Geschichte(n) – Ausstellen
Barbara Büscher (Leipzig/Köln)
In den vergangenen Jahren widmete sich eine stetig steigende Anzahl von Ausstellungen und Reenactments der Vergegenwärtigung und Re-Vision der Geschichte von Performance-Kunst und integrierte Aufführungen in diesen Kontext.[1] Sie sind Ausdruck einer Institutionalisierung und Sicherung vergangener Ereignisse wie auch deren Verwertung auf dem Kunstmarkt[2] und zeigen gleichzeitig in ihrer gegenwärtigen Inszenierung und aktuellen Kontextualisierung neue Formen der Aneignung. Sie sind beweglicher Umgang mit den Archiven. Sie aktualisieren die Frage nach dem Charakter der Artefakte, auf die sich alte und neue Erzählungen zu und über Geschichte(n) der Performance beziehen und thematisieren ihre Lesbarkeit in je neuen Zusammenhängen. Man kann sie auch als Positionen in der Diskussion um den ontologischen Status von Performance Art – wie sie vor allem Peggy Phelan[3] angestoßen hat – begreifen. Die kuratorische und inszenatorische Praxis, denen die Ausstellungen sich verdanken, hat – oft explizit reflektierend – die Auffassung, dass es um Nachvollzug (oder eben unwiderruflichen Verlust) einer performativen Authentizität gehen könnte, überschrieben. Insofern kreuzt das Besondere der Historisierung und Re-Aktualisierung von Performance-Kunst in den Fragen nach Ereignis und Evidenz, nach Narrationen und beweglichem Zugang, nach Archiven und ihrer Wirkmacht, das Allgemeine der Geschichtsschreibung.
Installationsansicht Allan Kaprow. Kunst als Leben, Haus der Kunst, München 2006
© 2006, Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
In verschiedener Weise bewegt sich die Untersuchung dieses Feldes an intermedialen und interdiskursiven Schnittstellen: Sie lässt sich in einen wissenschaftlichen Teilbereich einfügen, der sich dem Ausstellen als einer Form der Wissensordnung und Re-Präsentation widmet. Sie greift Untersuchungen zum Thema Raum auf, in dem der Raum als konfigurierende Größe für unterschiedliche Beziehungen zwischen Betrachter / Zuschauer und Akteur / Objekt beschrieben wird. Räumliche Anordnung wird so als Handlungsanweisung sichtbar. Und sie stützt sich auf Medientheorie und Medienarchäologie, indem der mediale Charakter der ausgestellten und präsentierten Artefakte eine zentrale Rolle für ihre Lesbarkeit spielt. Insbesondere Fragen nach dem Dokumentarischen als Strategie sowie nach der Transparenz der medialen Transformation verweisen auf die Ambivalenz der Artefakte zwischen Zeugnis, Relikt, Spur und eigenständigem Kunstwerk.
Ausstellen: Praktiken des Zeigens – Inszenieren im Raum
Ausstellung, Galerie und Museum lassen sich als aufeinander bezogene Orte und Praktiken des Zeigens, des Zur-Schau-Stellens, Versammelns von Artefakten beschreiben. Die Reflexion der Formen des An-Ordnens von Dingen oder Artefakten im Raum, deren typologisierende Beschreibung ebenso wie ihre diskursanalytische Untersuchung auf visuelle Rhetoriken, aber auch das wiederum vor-zeigende Nachdenken über Ausstellen in Ausstellungen bilden ein weites Spektrum aktueller Untersuchungen und Veröffentlichungen.[4]
Gestaltung von Raum, Inszenierung in Räumen, Anordnen von Artefakten und deren Kontextualisierung – diese für Kuratoren und Ausstellungsmacher wesentlichen Aspekte von Ausstellen finden sich in einem aktualisierten Begriff von Szenografie[5]. Der Begriff selbst legt ebenso wie der der Inszenierung, der inzwischen zum Repertoire des Nachdenkens über Ausstellung und Museum gehört, eine Verbindung von Bühne / Performance und Kunst-Präsentation nahe. Als ‚Inszenierung im Raum’ teilt die Ausstellung mit der Performance die Dimension des Temporären und Ephemeren. Ausstellungen sind auch als Aufführungen zu verstehen und als Ereignisse zu beschreiben.[6]
Wenn Schneemann davon spricht, dass das isolierte Objekt zu Gunsten des Raumes aufgegeben wird, so verweist er auf eine gegenüber dem klassischen Kunstmuseum veränderte Wahrnehmungsstrategie. Die Idee vom Betrachten des Werkes als „Eins-zu-Eins-Gegenüberstellung von Objekt und Betrachter-Subjekt“, wie es u. a. Dorothee Richter formuliert hat (Richter 2008: 89), wird als historische gewordene Vorstellung und Praxis durchstrichen. Die Geschichte dieses Blickregimes als bürgerliches hat Tony Bennett untersucht und dabei herausgestellt, wie in der Anordnung der Dinge in verschiedenen Arten von Museen, in ihrer Kommentierung oder eben Isolierung, Aspekte visueller Kompetenz, der Einübung von Kontemplation und Selbstbildung verankert werden.[7] Auch Bennett verweist darauf, wie in der Einleitung des Bandes die beiden Herausgeberinnen, dass sich die Adressierung des Betrachters und die sich in der Inszenierung im Raum entworfene Wahrnehmungsdisposition im 20. Jahrhundert verändern.
Welche anderen Formen und Konzepte der Adressierung und eventuell auch der physischen Aktivierung des Betrachters werden entwickelt? Dieser Frage gehen Untersuchungen zu Inszenierung im Raum und Display-Entwürfen nach, und sie wird auch für die Beschreibung neuer Formen der Verbindung von Aufführen und Ausstellen zentral.
Move. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren, Haus der Kunst, München 2011
© 2011 Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Wenn neben der Auswahl der Artefakte die Inszenierung im Raum das zentrale kuratorische Statement ist, sind dann je neue, originelle und überraschende Setzungen als Kennzeichen neuen Ausstellens[8] anzusehen? Es ginge dann bei derartigen Dynamisierungen der Rauminszenierung auch darum, ob und wie man „den [in der Anordnung im Raum und der Inszenierung der Objekte, die Verf.] eingelagerten Narrativen erst durch analytische Anstrengung auf die Spur kommen“ (Muttenthaler 2008: 179) kann. Dass die Anordnung im Raum eine Lenkung des Betrachters und so auch ein machtvolles Instrument zur Konstruktion von Wissen, Meinungen und Wertungen ist, hat u. a. die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal am Beispiel des New Yorker Museum of Natural History gezeigt (Bal 2002).
Kunstmuseen sind seit den 1960er Jahren zunächst von Künstler_innen selbst – im Rahmen der später so genannten Institutional Critique – untersucht, unterlaufen, ihre Inszenierungspraktiken wahrnehmbar gemacht worden.[9] Jüngst hat Charlotte Klonk in ihrer Studie Spaces of Experience die Inszenierungsstrategien von Museen und Ausstellungen an historischen Wendepunkten untersucht und gefragt: “How have Western cultures used the art gallery since the eighteenth century to conceptualize the nature of subjective experience, its value and its relationship to the ideal of society pursued at the time?” (Klonk 2009: 3)[10]
Neben die Fokussierung auf die Inszenierung im Raum treten – je nach Typ der Ausstellung und musealem Kontext – Überlegungen zum Status der Artefakte und zum Charakter ihrer Zurschaustellung. Wie z. B. gestaltet sich der Übersetzungsvorgang vom Archiv- oder Sammlungsobjekt zum Exponat?[11]
Gerhard Korff hat auf (kultur)historische Ausstellungen und Museen bezogen geschrieben:
Die Rede vom Objekt im ‚falschen’ Zusammenhang lässt sich nicht einfach auf das Ausstellen von Kunst übertragen, ist die Ausstellung doch deren ureigenster Präsentations- und ‚Gebrauchs’zusammenhang. Das Verhältnis zwischen dem Status der Artefakte im musealen Zusammenhang von Wissensvermittlung, als Verweis und Zeugnis mit besonderer sinnlicher Anmutung (vgl. z.B. Thiemeyer 2011), und dem Status der Werke in Kunstmuseen wirft in dem hier thematisierten Zusammenhang wichtige Fragen auf und weist auf den ambivalenten, mehrdeutigen Charakter der Artefakte hin. Und so lässt sich die Idee der ‚Objekte im falschen Zusammenhang‘ auf den Bereich des Ausstellens von Performance-Kunst anwenden, auch wenn diese Ausstellungen an Orten zeitgenössischer Kunst gezeigt werden. Die Relikte, Spuren, Zeugnisse vergangener performativer Ereignisse werden aus ihrem Kontext herausgelöst und in einen neuen Zugang eingestellt. Die ausgestellten Artefakte können dann sowohl als Zeugnisse wie als Kunstwerke/-prozesse verstanden werden.
Exkurs: … im Medium der Ausstellung: Räume, Wege, Zonen (visuell und auditiv)
An dieser Stelle möchte ich auf eine Ausstellung hinweisen, die sich in diesem Sinne als Versuch, als Experiment mit offenem Ausgang, verstanden hat – auf die von Jean-François Lyotard und Thierry Chaput zusammen mit dem Ausstellungsarchitekten Philippe Délis und einer großen Gruppe von Kurator_innen 1985 im Pariser Centre Pompidou inszenierte Schau Les Immatériaux.[12] In dem Versuch, Ausstellung als Medium des Philosophierens zu praktizieren, wurde eine Vielzahl von Situationen und Räumen inszeniert, die Artefakte aus den unterschiedlichsten Bereichen (Kunstwerke, Dokumente, Gegenstände der Alltagskultur, technische Apparate, Texte usw.) zueinander angeordnet und die kulturell eingeübten Hierarchien ihrer Wertschätzung unterlaufen hatten.
Als eines der Ziele dieser Einschreibung von Philosophie in ein anderes Medium als das Buch (Lyotard 1985: 62) ist in einer Presseerklärung die Sensibilisierung des Publikums für den Abschluss eines Zeitabschnitts, die Neugier auf den Anbruch der Postmoderne genannt. Es gehe darum, eine Sensibilität zu wecken, „von der wir glauben, dass sie beim Publikum bereits vorhanden ist, jedoch noch ohne Ausdrucksmittel“ (Lyotard 1985: 11).
Plakat Les Immatériaux
Die Einschreibung des Denkens in den Raum erfordert ein Höchstmaß an Reflexion der An-Ordnung und der Anmutungsqualitäten der ausgestellten und in Zusammenhang gebrachten Artefakte. Die vom ganzen Körper aus gedachte Wahrnehmung und Aneignung der im Parcours ausgebreiteten Ideen und Fragen betont immer wieder das Gehen und Sehen, das Gehen als Sehen und Hören, dem sich explizit das Audioprogramm, das als eigenständige, nicht erläuternde, sondern erweiternde Ebene zu den visuellen Artefakten hinzutrat, widmete.[13]
Die Körper-Bewegung des Betrachters – im Unterschied zum Kino oder Theaterraum – wird als eine Möglichkeit der aktiven Aneignung von Situationen und An-Ordnungen begriffen. Ein komplexes Wegesystem, das mehrere Varianten offen hält und nicht auf eine lineare Erzählung in der Abfolge setzen will und kann, macht die Such-Bewegung der Ausstellungskonzeption quasi körperlich für den Betrachter erfahrbar.[14]
„Der Besucher spaziert in einem Rhizom herum, in dem kein Wissensfaden aufscheint, sondern generalisierte Interaktionen, Deplatzierungsprozesse, in denen der Mensch nicht mehr als ein Interface-Knoten ist.“ (zit. nach Wunderlich 2008: 56).[15]
Und an anderer Stelle – im Konzept zu Immaterialien – heißt es:
Die zur Reflexion zwingende Unruhe, das von der Ausstellung angestrebte Ziel, kann durch einen vorgezeichneten Weg durch die Ausstellung nicht bewirkt werden. Es darf keine Ausstellung (exposition) sein, sondern es sollte eine Überausstellung (surexposition) sein im Sinne der ‚überbelichteten Stadt‘ (ville surexposée), von der Virilio spricht. Die ausgestellten Objekte sollen auch nicht mehr nach ‚Materien‘, Themen oder Disziplinen verteilt werden, als sei die Aufteilung, auf der diese beruhen, heute noch intakt. (Lyotard 1985: 88)
Das Schreiben über eine solche Inszenierung im Raum, die die Ordnung der Dinge und ihre Befragung gleichzeitig körperlich erfahrbar machen will und das Schwindelerregende als Teil der Arbeit an neuem Wissen nahelegt, muss im Grunde den Vorgang der ‚Einschreibung in ein anderes Medium‘ wieder rückgängig machen bzw. ihn transformieren. Es zeigt aber auch, wie schwierig es ist, gerade in solchen Fällen der experimentellen Neu-Fassung eine Idee von der Adressierung des Betrachters zu re-konstruieren. Wunderlich hat das im dritten Teil ihres Bandes versucht, in dem sie eine abgewandelte Form der ‚dichten Beschreibung‘ (nach Clifford Geertz) entwickelte.[16]
Performance (Geschichte) Ausstellen – Bewegung im Raum
Der Raum der Ausstellung wird nicht nur zentraler Parameter der kuratorischen Inszenierung, sondern ist zugleich Handlungsanweisung an die Besucher / Betrachter / Akteure. Die Abfolge der Räume im Raum, der Situationen oder Stationen, das offene oder aber stark lenkende Wegesystem lädt ihn ein oder weist ihn an, wie die Zusammenstellung der Artefakte zu ‚lesen’ ist, wie sie auch gelesen werden kann oder wie man Sicht-Weisen variieren soll.
Für die folgenden Überlegungen zu zwei beispielhaften Ausstellungen, die sich in sehr unterschiedlicher Weise der Geschichte von und dem aktuellen Zugang zu performativen Kunstformen widmen, sollen genau diese Aspekte eine Rolle spielen:
- Wie wird ein Konzept und eine Auffassung vom Umgang mit Performancegeschichte nicht nur in der Auswahl von Artefakten deutlich, sondern in eine markante Inszenierung im Raum transferiert?
- Wie wird die Auswahl der Artefakte kontextualisiert, ihr besonderer Status sichtbar gemacht bzw. reflektiert?
- Wie wird der Betrachter (bzw. verschiedene Arten von Publikum) adressiert, welche Wege werden ihm eröffnet, wie ein aktueller Zugang ermöglicht? Welche Handlungsanweisungen werden nahegelegt? Gibt es so etwas wie eine Dramaturgie, eine Entfaltung der Konzeption / Narration des kuratorischen Konzeptes in der Zeit?
Beispiel 1: ALLAN KAPROW – ART AS LIFE (2006-2008)
Die Ausstellung Allan Kaprow – Art as Life wurde von Eva Meyer-Hermann und Stephanie Rosenthal kuratiert und in einer Szenografie des in Berlin ansässigen Büros cheweitz & rosapple inszeniert. 2006/7 wurde sie zunächst im Haus der Kunst in München gezeigt, dann in Eindhoven, Bern, Genua und 2008 in Los Angeles (www.moca.org/kaprow ).
Erstes Merkmal, was sie nicht unbedingt von traditionellen Kunstausstellungen, wohl aber von meinem zweiten Beispiel unterscheidet, ist die Tatsache, dass es eine monografische Ausstellung ist, die sich dem Werk eines Künstlers widmet und dabei seine performativen Arbeiten ins Zentrum rückt.
„What is a Happening? – A game, an adventure, a number of activities, engaged in by participants for the sake of playing. (Allan Kaprow 1967)“ Diese Kurzdefinition findet sich auf dem Cover des Begleitheftes zur Ausstellung. Mit ihr verweisen die Autorinnen zugleich auf einen wesentlichen Aspekt ihrer Konzeption, die Stephanie Rosenthal im Gespräch so beschreibt:
Es ist aufschlußreich, dass Kaprow an der Vorbereitung der Ausstellung noch mitwirken konnte – er starb 2006. Seiner Skepsis gegenüber einer Musealisierung seiner Arbeiten hatte er dadurch Ausdruck verliehen, dass er nicht von exhibition, sondern von presentation seiner Arbeit sprach. (Meyer-Herrmann 2007: 70) Und er übergab ausdrücklich seine Handlungsanweisungen in Form der Scores dem Publikum, auf das es sie ‚neu erfinde‘. „Since Kaprow’s Happenings and Activities were about participation, it seems logical to allow new versions to be made by other people […]. So he decided, for the purposes of this exhibition, to invite others to realize new versions of Happenings, in effet to ‘re-invent’ them.” (Rosenthal 2007: 74) Reinvention war der Begriff, den Kaprow dieser aktuellen Aneignung gab.
Die beiden Kuratorinnen sprechen in verschiedenen Texten (Meyer-Herrmann 2007; Rosenthal 2007; beide auch in: Potts 2008) von zwei leitenden Ideen, die das Projekt als Ganzes motivierten und eben dazu führten, dass nicht nur die Räume des Museums mit verschiedenen Formaten ‚bespielt‘ und dem Konzept eine spezifische Form der räumlichen Inszenierung zugeordnet wurde, sondern dass das Projekt in den Stadtraum, in andere Aufführungsräume, übergriff. Diese beiden Ideen, die auch eine Antwort auf die grundlegende Skepsis des Künstlers versuchten, bezeichnen sie als „museum as mediation“ und „agency for action“ (Meyer-Herrmann 2007: 71; Rosenthal 2007: 73).
Installationsansicht Allan Kaprow. Kunst als Leben, Haus der Kunst, München 2006
© 2006, Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Der Grundriss der räumlichen Aufteilung im Haus der Kunst in München zeigt verschiedene Zonen, die mit unterschiedlichen Materialien, Informationen und Handlungsmöglichkeiten die Besucher adressierten.[17] In der zentralen Eingangshalle, die – ohne Eintritt zu entrichten – zugänglich war, wurden aktuelle Aneignungen von Environments gezeigt sowie ein Teil der Scores in Vervielfältigungen zugänglich gemacht. Entschied man sich, die Ausstellung zu besuchen, fand man zunächst in zwei Räumen Malerei und Collagen Kaprows aus der Zeit, bevor er seine Arbeit in Raum und Zeit erweiterte. Rosenthal erläutert diese An-Ordnung und das Zusammenspiel verschiedener Aspekte im Umgang mit den historischen Artefakten, die sowohl als materielle Zeugnisse wie als Handlungsanweisungen für künftiges Spiel verstanden sind:
Ergänzt wurden die von der Kuratorin beschriebenen Artefakte durch eine umfassende Video- und Filmsammlung, die dem Besucher erlaubte nachzuvollziehen, dass und wie Kaprow seine Scores wiederholt und in anderen Zusammenhängen, an wechselnden Orten, realisierte.
Installationsansicht Allan Kaprow. Kunst als Leben, Haus der Kunst, München 2006
© 2006, Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
So dominierte den zentralen Ausstellungsraum eine Archiv-Inszenierung des historischen Materials, in dem auch die Möblierung (Arbeitstische, Overheadprojektoren, Stationen zur Durch- und Ansicht von Film- und Videomaterial) dem Besucher eine Arbeitsatmosphäre offerierte und ihn einlud, das Material zu studieren. In einem Papier der Szenografen Detlev Weitz und Rose Epple wird die Wahl der Ausstattung auch als Reaktion auf „den starren architektonischen Monumentalismus“ des Münchener Hauses beschrieben:
Wenn also auf der einen Seite innerhalb der Ausstellungsinszenierung die Möglichkeit bestand, sich – wie in einem Archiv – mit reproduzierten Scores, Fotos und den zahlreichen Filmen zu verschiedenen Varianten und Aufführungen von Kaprows Happenings zu beschäftigen, wurden andererseits auch auf ‚klassische Weise‘ Originale präsentiert:
Indem nun zur Ausstellung in den Räumen des Hauses der Kunst – hier als Beispiel beschrieben – die Reinvention von Happenings und Aktionen durch verschiedene Gruppen von Akteuren trat, wurde auch der Raum des Projektes erweitert: zum einen in die Innenstadt, den Außenraum, in dem eine erweiterte Öffentlichkeit adressiert und – jenseits der Rahmung durch den Kunstkontext – mit diesen Aktivitäten konfrontiert wurde. Zum anderen wurde sie durch ein gesondert gebautes Environment im Haus der Kunst erweitert, in dem das Redoing (Lepecki 2007 und 2009) von 18 Happenings in 6 Parts aufgeführt wurde.[19] In einem weiteren Raum war der Choreograph Thomas Lehmen eingeladen, für einige Tage seine interaktive Installation Invitation[20] zu zeigen (Ploebst 2006).
Diese erste Beschreibung belegt, dass die Ausstellung das Ambivalente, die unterschiedlichen Qualitäten der Artefakte zum Thema machte und sie in verschiedenen räumlichen Anordnungen in-szenierte. Sie beschränkte sich nicht auf das Ausstellen im engen Sinne, sondern lud die Besucher ein, sich das Material aktiv anzueignen und beauftragte Expert_innen mit der performativen Re-Aktualisierung der Scores.
Installationsansicht Allan Kaprow. Kunst als Leben, Haus der Kunst, München 2006
© 2006, Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Die konzeptionelle Grundidee der Verbindung von temporärem Archiv mit öffentlichem Zugang und Ausstellung mit erweiterter Präsentation haben einige Projekte aufgegriffen und je eigene Varianten entwickelt. Dazu gehört u. a. das Archiv- und Ausstellungsprojekt re.act feminism#2: a performing archive, ein internationales Videoarchiv zu Arbeiten von ca. 160 Künstlerinnen, das während zweier Jahre durch Europa tourt und an den einzelnen Stationen jeweils ergänzt, kommentiert, bearbeitet und diskutiert wird.[21] Dazu gehört auch das bereits abgeschlossene, in Basel von einer Forscherinnengruppe der Zürcher HdK mit Kooperationspartnern realisierte Projekt archiv performativ.[22]
Beispiel 2: MOVE – Choreographing You / Kunst und Tanz seit den 60er Jahren (2010-11)
2010 kuratierte Stephanie Rosenthal für die Londoner Hayward Gallery Move. Choreographing You (10/2010-1/2011). Unter dem Titel MOVE. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren wurde die Ausstellung dann 2011 wiederum im Haus der Kunst in München (2-8/2011) sowie in der Kunstsammlung NRW K 20 in Düsseldorf (7-9/2011) gezeigt.
Diese Ausstellung untersuchte und präsentierte das Verhältnis von bildender Kunst und Performance / Tanz in einer spezifischen Weise. Sie ging davon aus, dass mit den experimentierenden Bewegungen der Künstler_innen der 1960er Jahre eine Markierung gesetzt wurde, die das Verständnis von Choreographie und professionellem Kunst-Tanz neu bestimmte.
Move. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren, Haus der Kunst, München 2011
© 2011 Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Es wurden sowohl Skulpturen und Installationen aus dieser Zeit wie auch aktuelle Arbeiten von Choreograph_innen ausgestellt, die wiederum Anlass für körperliche Bewegung der Besucher_innen werden. Entscheidend für das kuratorische Konzept von MOVE war – was im englischen Titel deutlich hervortritt – die Aufforderung und Einladung an die Besucher_innen, aktiv zu partizipieren.
Schon in dieser ersten Erläuterung scheinen verschiedene Motive für diese spezielle Konzeption einer Ausstellung zum Thema Bildende Kunst und Choreographie auf, die historische Aspekte mit aktuellen Entwicklungen verbinden. Ein Ausgangspunkt ist – Rosenthal hat das an anderer Stelle noch deutlicher formuliert[23] – die Beobachtung und Überlegung, dass jede Ausstellung die Bewegung ihrer Besucher ordnet und lenkt, um Sehen und Gehen als zwei verschiedene Modi der Wahrnehmung zu koppeln. „Sehen und Bewegen, so die These von MOVE, sind gleichrangige Mittel der Wahrnehmung und Erkenntnis“, heißt es im Pressetext zur Düsseldorfer Ausgabe.[24] Dies – und daran knüpft die Auswahl der Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre an – ist zum Gegenstand, Thema und impliziten Gestaltungsparameter der Künstler selbst geworden, wenn sie Installationen entwerfen, in denen die Bewegung(serfahrung) der Besucher wesentlich ist. Die gezeigten Installationen von Bruce Nauman, Dan Graham, Robert Morris u. a. sind Beispiele dafür.[25] Die aus der gleichen Zeit stammenden choreographischen Objekte[26] von Simone Forti, Yvonne Rainer und Trisha Brown zeugen wiederum von der konzeptionellen Nähe zwischen Tanz/Choreographie und Bildender Kunst (Skulptur/Installation) dieser Zeit, wie sie z. B. Yvonne Rainer zu Beginn ihres berühmten, 1966 verfassten Textes A Quasi Survey of Some ‘Minimalist’ Tendencies (Rainer dt. 1995) auflistet. Die skulpturalen oder installativen Objekte fungieren entweder als Impulsgeber für die Bewegung professioneller Tänzer_innen oder als Aufforderung an Besucher_innen zur Partizipation. In beiden Fällen verweisen sie auf alltägliche Bewegungen jenseits von tänzerischer Virtuosität.[27] Sie bieten dem Besucher an, die in den Objekten implementierte Idee der Choreographie am eigenen Leib zu vollziehen und sie treiben die Idee und die Auffassung, dass Raum als Handlungsanweisung zu verstehen sei, in eine neue Dimension: „The exhibition is about the use of one’s own body.“ (Rosenthal 2012: 138).
Move. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren, Haus der Kunst, München 2011
© 2011 Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Auch wenn die räumlich-konzeptuellen Bedingungen an den drei Orten sehr unterschiedlich waren[28], die konkreten An-Ordnungen variierten und die Erfahrungen vorhergehender Stationen aufnahmen, bildete die Platzierung der ,choreografischen Objekte’, Skulpturen und Installationen, die dem Besucher einen Parcours zur eigenen körperlichen Bewegung anboten, das Zentrum.
Dass die choreographierten Situationen mit Besucherpartizipation gelegentlich wie ein großer Spielplatz mit mehr oder weniger schwierig zu bewältigenden Turnübungen erschienen, ist ein Aspekt, der die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Reflektion auch für die Kuratorin, im Nachdenken über die Reaktionen der Besucher, aufgeworfen hat.
Die aktuellen Arbeiten der eingeladenen Choreograf_innen – Boris Charmatz, La Ribot, Mårten Spångberg / Xavier Le Roy u. a. – reagierten mit selbstreflexivem Gestus auf die Ausstellungs-Inszenierung, wie es z. B. in der Arbeit production erkennbar ist.[29]
Move. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren, Haus der Kunst, München 2011
© 2011 Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Für die Düsseldorfer Variante ergab sich aufgrund von Charakter und Profil des Hauses ein zusätzlicher Aspekt: aus der Sammlung wurden Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre integriert, z.B. von Jackson Pollock, die zwar nicht zur Interaktion gedacht waren, aber „das Nebeneinander formaler Analogien“ (Krystof 2011) in genau geführten Blickachsen in den beiden Hallen hervorhob und damit einen kunsthistorischen Zusammenhang offerierte. „The perspective we created in Düsseldorf was more an art-historical contextualization and inquiry. There my concept was based on an examination of Jackson Pollock.” (Rosenthal 2012a: 141)
Diese kunsthistorische Kontextualisierung wurde wiederum durch die Kombination von Ausstellung und Archiv unterstützt. Das Archiv hat die Kuratorin Stephanie Rosenthal gemeinsam mit André Lepecki zusammengestellt. Es war in einer nach verschiedenen Kategorien navigierbaren Datenbank organisiert, die an mehreren Arbeitsplätzen am Rand der Ausstellungspräsentation zur Vertiefung in das historische Material einlud. Es handelt sich um Material zu 175 Arbeiten von 140 Künstler_innen, vorwiegend Filme, aber auch Fotografien und Partituren.[30]
Interessant im Zusammenhang meiner eingangs entwickelten Frage nach dem ambivalenten Charakter der Artefakte ist, dass die Kuratorin Stefanie Rosenthal in Hinblick auf den Charakter der auf dieser Datenbank als Archiv zugänglichen Artefakte eine eindeutig abgrenzende Auffassung vertritt:
Zum Schluss
In den aktuellen Diskussionen und Reflektionen zu Methoden der Archivierung und Geschichtsschreibung performativer Künste verbinden sich Überlegungen zu einem beweglichen Zugang mit medientheoretischen Fragen. Die Beglaubigungsstrategien, die Aussagen und Bilder als Dokumente oder Zeugnisse auszeichnen, werden als solche sichtbar gemacht und befragt. Dokumente oder Spuren – beide Begriffe sind medientheoretisch aufgeladen[31] – von Performances oder allgemeiner: von Aufführungen werden als mediale Transformationen verstanden, deren technisch-apparative und ästhetisch-diskursive Bedingungen reflektiert werden müssen. Ihre Medialität wird nicht mehr als notwendige Voraussetzung vernachlässigt, sondern muss gerade als Bedingung aktueller Lesarten und Kontextualisierungen begriffen werden.
Was und unter welchen Bedingungen wird als Bewegung und wie aufgezeichnet? So könnte eine der weiter reichenden Fragen lauten. Für die Lesbarkeit unterschiedlicher audiovisueller Artefakte eines Performance-Archivs sind die Kontextualisierung in der Präsentation und ihre An-Ordnung zueinander entscheidend.
Installative Anordnungen von Archiv-Materialien unterschiedlichen medialen Charakters z. B. erlauben dem Betrachter, einen wechselnden Standpunkt einzunehmen und im Raum ein Verhältnis zwischen verschiedenen medialen Formaten herzustellen. Womit wir erneut bei den Wegen, Räumen und räumlichen Dispositiven als Medien der Reflexion und Bedeutungsgenerierung sind.
Move. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren, Haus der Kunst, München 2011
© 2011 Haus der Kunst, München, Foto: Wilfried Petzi
Barbara Büscher (Leipzig/Köln)
Medien- und Theaterwissenschaftlerin, Professorin für Medientheorie und -geschichte/ Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte und Theorie von Medienkunst und Performance, der Verbindung von Medien und Aufführungsformaten, der Geschichtsschreibung performativer Künste und deren Archivierung.