Der Kulturbetrieb und die Katastrophe

Hikaru Fujiis Videoarchiv „3.11 Art Documentation“ als filmische Ethnologie eines Ausnahmezustandes


Ulrike Krautheim (Tokio)

 

 

https://vimeo.com/69378373

 

Sacht gezupfte Akkorde reihen sich zu einer sanft dahin fließenden, eingängigen Gitarrenmelodie. Dazu sehen wir aus der Vogelperspektive Filmaufnahmen des Küstengebiets von Minami Sanriku, einer Stadt, die durch den Tsunami infolge des Großen Tohoku-Erdbebens vom 11. März 2011 nahezu vollständig zerstört wurde. Klein wie Spielzeugautos erkennen wir Bagger beim nicht enden wollenden Abtragen der Trümmer sowie einige PKW, die träge dahinrollen auf der frisch asphaltierten Straße, welche die überdimensionale Schutthalde durchquert.

Die Katastrophe und ihre Begleitmusik. Oder auch: Welche Musik, welche Kunst brauchen wir nach einer Katastrophe wie dieser, die neben dem konkreten Verlust von Menschen, Städten und letztlich einem ganzen Landstrich, an den wirtschaftlichen und technischen Prämissen der westlichen Zivilisation der Nachkriegszeit insgesamt rüttelt? Können wir ‚Kunst’ nach einer derartigen traumatischen Erfahrung überhaupt ertragen? Was für eine Art von Kunst ist möglich im Angesicht von Trümmerlandschaften, die noch vor Kurzem der lebendige Organismus einer ganzen Stadt waren?

 

https://vimeo.com/69377269

 

Die meisten der Videos, die der Dokumentarfilmer Hikaru Fujii in seinem Projekt 3.11. Art Documentation zusammengefasst hat, beginnen mit Einstellungen, die einem aus der medialen Berichterstattung unmittelbar nach der Katastrophe allzu vertraut erscheinen: Straßen, deren Betondecke in der Mitte aufgerissen ist wie eine geplatzte Eiterblase, irgendwo in der Landschaft gestrandete Wohnhäuser, bei denen das Erdgeschoss fehlt, Auto- und Schiffswracks, die wie beklemmende Trophäen auf Bergen von Schutt thronen. Dennoch unterscheidet die nüchterne Sachlichkeit von Fujiis Bild- und Schnitttechnik, die bevorzugt mit Weitwinkeleinstellungen und langsamer Aneinanderreihung von Stills fast ohne Kamerabewegung arbeitet, diese Aufnahmen elementar von der fiebrigen Stimmung der Massenmedien in den Wochen nach der Katastrophe. Es ist spürbar, dass in Fujiis Filmen nichts mehr erklärt werden muss – wer diese Aufnahmen sieht, kennt den Kontext. Knapp wie visuelle Kurzmitteilungen bilden die Überreste ehemaliger Wohngebiete, die neben der Zerstörung von urbaner Infrastruktur auch den Zusammenbruch von Lebenskonzepten und Wertegemeinschaften verbildlichen, den Rahmen für Fujiis filmische Auseinandersetzung mit den Aktivitäten von Künstler/innen, Kulturinstitutionen und Kunstinitiativen nach der japanischen Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011. Über den Zeitraum von etwa einem Jahr reiste er wiederholt mehrere Wochen in das Katastrophengebiet, um an verschiedenen Orten – in verwüsteten Kulturzentren, Schulen oder Notunterkünften – mit der Kamera zu verfolgen, welche Konzepte und Strategien Akteure der Kunst- und Kulturszene in Reaktion auf das Desaster entwickelten. Dokumentiert sind sehr heterogene Aktivitäten: Gedenkveranstaltungen, die Aufräumarbeiten einer Gruppe von Freiwilligen in einem vom Tsunami getroffenen Wohnhaus, die erste Probe einer Brass Band nach der Katastrophe. Das umfangreiche Filmmaterial, das im Rahmen von Fujiis Aufenthalten im Katastrophengebiet entstand, ist derzeit noch nicht vollständig aufgearbeitet. Fertig gestellt hat Fujii bisher elf Videos, die im vergangenen Jahr im Rahmen der Ausstellung Artists and the Disaster – Documentation in Progress im Art Tower Mito (Mito, 13. Oktober bis 9. Dezember 2012) gezeigt wurden. Ein Teil der Filme ist auch im Internet veröffentlicht. Die 3.11 Art Documentation wurde in Kooperation mit der Sendai Mediatheque realisiert, einem Film- und Kunstzentrum in Sendai, Hauptstadt der Präfektur Miyagi und zugleich diejenige Großstadt Japans, die am nächsten am Epizentrum des Erdbebens vom 11. März 2011 lag. Es ist vorgesehen, das gesamte Filmmaterial der 3.11 Art Documentation dort zu archivieren. Ob und wie das Material für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ist derzeit noch ungeklärt.

 

 

Medien-Mitgefühl

Zurück nach Minami Sanriku: Die Klänge am Beginn des Films stammen von einem Gitarristen, der im Schulhof der Shizugawa Junior High School in Minami Sanriku aufspielt – hinter ihm Zelte, Lastwagen und Toilettencontainer der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, die ins Katastrophengebiet entsandt wurden, um dort eine provisorische Infrastruktur herzustellen. Eine Vertreterin der Kunstinitiative ENISI erklärt einigen geschäftig auf Notizblöcken mitschreibenden Journalisten, dass die heutige Veranstaltung für die Anwesenden eine Gelegenheit schaffe, zusammen mit Menschen in Notunterkünften, die die Veranstaltung per Internet-Liveschaltung verfolgen, zur Ruhe zu kommen, um sich gemeinsam mit den anderen Teilnehmern ihrer Gefühle im Angesicht des Meeres bewusst zu werden und der Opfer zu gedenken.

Schülerinnen und Schüler in Sportkleidung haben sich in ordentlichen Reihen auf die Treppenstufen im Schulhof gesetzt, gefolgt von Soldaten der Selbstverteidigungsarmee. Man harrt dem Beginn der Zeremonie. Eine Frauenstimme fordert über Lautsprecher zum stillen Gebet auf, die Versammelten erheben sich. Doch die Schweigeminute entpuppt sich als unerwartet geräuschvoll, da im Moment ihres Beginns ein Blitzlichtgewitter der Journalistenkameras losbricht und zugleich das Rotorengeräusch eines sich nähernden Hubschraubers mehr und mehr anschwillt. Ein Kamerahubschrauber des staatlichen Fernsehsenders NHK, der möglichst spektakuläre Panoramaaufnahmen aus der Luft schießen will? Diese lokal angebundene Inszenierung des kollektiven Trauerns ist zugleich auch ein landesweit ausstrahlendes mediales Großevent.

Die Teilnehmer gehen mit abgeschnittenen PET-Flaschen, in denen Teelichter platziert sind, nach und nach zu einer Küstenstraße, um sich dort mit Blick auf das Meer in einer Reihe aufzustellen. Die Lautsprecher-Frauenstimme verkündet, gleich sei die Uhrzeit, zu der der Tsunami Minami-Sanriku erreicht habe. Der Gestus ihrer Stimme ist der einer Fernsehansagerin im Trauerflor, ihr sanft gemäßigter Tonfall verströmt die Überlegenheit der ausgefeilten Sprechtechnik des Medienprofis. Das Gedenken muss hier in massenmedientaugliche Form gebracht werden, damit die Fernsehzuschauer im ganzen Land sich eins fühlen können mit den Betroffenen der Katastrophe. Das Unglück soll die ohnehin stark gruppenorientierten Japaner noch mehr zusammenschweißen. „Kizuna“ – „Gemeinschaftsbande“ war und ist eines der gängigsten in den Massenmedien verwendeten Schlagworte nach dem 11. März 2011.

Doch Fujii weicht nun mit seiner Kamera beiläufig von der vorgegebenen Betroffenheitsdramaturgie ab und begibt sich auf visuelle Seitenstraßen. Während noch die offizielle Tonspur mit Gedenken, Gitarrenakkorden und Sopran-Gesangsstimme weiterläuft, zeigt er eine Mutter mit Kind, die – sich noch einmal höflich vor dem Personal verbeugend – offenbar vorzeitig nach Hause gehen. Oder die Schülerinnen und Schüler der Mittelschule, die nach dem Ende der Zeremonie zurück in das Schulgebäude schlendern und dabei die Disziplin der offiziellen Inszenierung durch zaghafte gegenseitige Boxer oder Schulterrollen abschütteln. Und dann ist da wieder die Schuttlandschaft – noch einmal erscheinen die Bilder des träge dahin fließenden Verkehrs auf der Straße, die das vom Tsunami zurückgelassene Geröll durchschneidet. Während die Fernsehansagerin des Staatsfernsehens NHK noch von der Trauer um die Toten spricht, sehen wir auf der Straße in weiter Ferne einige Fahrradfahrer – wahrscheinlich die Mittelschülerinnen und -schüler von eben auf dem Heimweg. Wenn sich auf der Tonspur die Fernsehleute und das Event-Organisationsteam nach erfolgreicher Erfüllung ihres Auftrags gegenseitig beieinander bedanken, bricht für die Bewohner von Minami-Sanriku der kaum noch medienwirksame Alltag an.

 

 

„Was kann ich tun?“

Der unmittelbare Anlass, dass Fujii bereits etwa zwei Wochen nach der Katastrophe, Ende März 2011, mit der Arbeit an seiner 3.11 Art Documentation begann, war seine Teilnahme an einem Treffen von Non-Profit-Organisationen aus dem Kunst- und Kulturbereich in der westjapanischen Kansai-Region, das zufällig auf den 16. März 2011, also fünf Tage nach dem Erdbeben terminiert war. Dort hatte Fujii Gelegenheit, sich mit diversen Vertreter/innen insbesondere der unabhängigen japanischen Kulturszene auszutauschen. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Erdbebenkatastrophe in Nordjapan alle anderen Gesprächsthemen bleischwer überlagerte. Bei Fujii blieben in diesem Zusammenhang vor allem zwei Informationen eindringlich haften: Die Kunst- und Kulturleute aus der Kansai-Region, die das Hanshin-Erdbeben in Kobe 1995 erlebt und ihre NPOs in vielen Fällen gerade in dessen Nachklang gegründet hatten, berichteten ihm erstens, dass es keine visuellen Dokumentationen kultureller Aktivitäten in Bezug auf das Hanshin-Erdbeben gebe. Zweitens sprachen sie über die ‚Gewalt durch Kunst‘, von der Gewaltsamkeit des ‚guten Willens‘. Davon, wie wohlmeinende freiwillige Helfer, die nach dem Erdbeben in Kobe in Scharen anreisten, um sich nützlich zu machen, die ohnehin nur noch spärlich vorhandene Infrastruktur zum Kollaps brachten. Sie berichteten von Künstlern, die willfährig aus der Hauptstadt herbeigeeilt waren, um den Erdbebenopfern mit ihrer Theaterkunst Trost und Mut zu spenden, deren Aktivitäten angesichts des übergroßen Auseinanderklaffens der Erfahrungswelt von Akteuren und Publikum vor Ort aber zur Farce gerieten.

 

Da Fujii natürlich auch selbst vor der Frage stand, die sich direkt nach der Katastrophe wohl die meisten japanischen Künstler/innen stellten – „Was kann ich tun?“ –, lieferten die Schilderungen der Kulturleute aus Kansai ihm entscheidende Ansatzpunkte für sein eigenes Vorgehen. In früheren Arbeiten hatte Fujii bereits Erfahrungen mit der filmischen Dokumentation künstlerischer Produktionsprozesse gesammelt[1]; er entschied sich deshalb für einen zugleich direkten wie indirekten Zugriff auf die Frage, was Kunst und Kultur in einer derartigen Krisensituation vermögen. Mit seiner Entscheidung, die Aktivitäten anderer Künstler und Kulturschaffender im Katastrophengebiet mit der Kamera zu verfolgen, stellte er die Frage nach dem Potential der Kunst in Krisensituationen zwar ganz unmittelbar, delegierte deren Beantwortung aber zunächst einmal an die Dokumentierten und zog sich selbst auf einen beobachtenden Standpunkt zurück.

 

https://vimeo.com/69378724

 

Der zweite wesentliche Faktor für die Realisierung der 3.11. Art Documentation war ein Anruf der Sendai Mediatheque, mit der Fujii in der Vergangenheit bereits Projekte verwirklicht hatte. An die Ausformulierung einer konkreten Projektagenda in Bezug auf Zeitraum, thematische Eingrenzung oder Projektressourcen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu denken. Es gab zunächst nur die eindringliche Bitte der Mitarbeiter: „Komm!“. Fujii folgte dieser Aufforderung ohne Zögern. So begann eine Recherche vor Ort, die anfangs spontan und sprunghaft verlief, da Informationen nur in ungeordneter und lückenhafter Form vorhanden waren. Wenn Fujii von künstlerischen Aktivitäten erfuhr, reiste er in die entsprechenden Städte und Gemeinden und sah sich auch in der Umgebung nach weiteren Initiativen um. So gewann er ein dem Zustand nach der Katastrophe gemäß unvollständiges und in manchen Teilen auch zufälliges Bild von auf das Desaster bezogenen Reaktionen und Strategien von Künstler/innen.

Was jedoch alle Filme der 3.11 Art Documentation verbindet, ist, dass sie nicht allein auf Fujiis Initiative hin realisiert wurden. Fujii informierte die Akteure über seine Anwesenheit und sein Projektvorhaben, drängte aber niemanden dazu, sich als ›Gegenstand der Dokumentation‹ zur Verfügung zu stellen. So entstanden alle Videos im Auftrag der Gruppen bzw. Künstler, die darin dokumentiert sind. Dieser Aspekt einer transparenten Wechselbeziehung zwischen den Auftraggebern und Fujii als Ausführendem ist ihm ungemein wichtig, für ihn gar so etwas wie der Kern seiner Arbeit. Denn es geht ihm vor allem um einen wechselseitigen Prozess der Sichtbarmachung, bei dem die Perspektiven der Akteure und des beobachtenden Filmemachers miteinander im Konflikt stehen.

„Die Gruppen, die ich dokumentiert habe, dachten nach dem Ende einer von ihnen geplanten Veranstaltung oft, dass die Veranstaltung so abgelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt hatten. Wenn sie dann aber meine Filme sahen, stießen sie auf für sie Unerwartetes, Dinge, die sie so nicht gesehen hatten. Das ist mein Blick, der in ihre Welt eindringt. Auf diese Weise stellt sich eine Relativierung der Perspektiven her. Bei der 3.11 Art Documentation geht es weniger um ›Dokumentarfilme von mir‹, sondern daraus müssen an irgendeiner Stelle ›Dokumentarfilme von uns‹ entstehen.“

 

 

Polyphonie der Blicke und Stimmen

Fujii sieht sich in seiner Vorgehensweise wie eine Art Film-Ethnologe, der zum temporären Mitglied einer bestehenden sozialen Gemeinschaft wird, um deren Funktionsmechanismen mit der Kamera zu beobachten und zu dokumentieren. Einerseits wird er durch seine Teilhabe am Vorhaben der Gefilmten zum Beteiligten, zum Mit-Täter. Doch verschafft ihm die Kamera andererseits das Sonderrecht der Wertung, der Kritik. Durch seine Kameraarbeit – die gewählten Perspektiven, Szenen, die er fokussiert oder auslässt – formuliert er seinen individuellen Blick, mit dem er kontinuierlich austariert, welchen Abstand der Betrachter zum Geschehen einnimmt. Dieses Entfalten eines kritischen Standpunkts auf die Vorgänge von innen heraus sieht Fujii als die größte Herausforderung seiner Filmdokumentationen. „Das ist der gefährlichste und auch spannendste Anteil meiner Arbeit. Ob aus den Filmen Propagandafilme werden oder kritische Auseinandersetzungen. Wenn ich in meinen Filmen die Aktivitäten derer, die ich portraitiere, einfach in den Schmutz ziehe, ist das das Ende. Andererseits muss ich mich aber auch davor hüten, von ihnen vereinnahmt zu werden.“ Als Adressaten seiner Filme sieht Fujii zuallererst diejenigen, die darin vorkommen, also die beteiligten Künstler, Vertreter der Kulturinitiativen und nicht zuletzt die Kommunen, in deren Kontext die Aktivitäten stattfinden.

„Man sagt oft, die Möglichkeiten des Films liegen darin, dass man ihn ungeachtet von Zeit und Ort allen möglichen Leuten zeigen kann. Aber das interessiert mich eigentlich nicht besonders. Aus meiner Sicht ist das Wichtigste an einem Archiv, dass es innerhalb einer Gemeinschaft wirksam ist. Damit meine ich nicht, dass man es sich in der Bibliothek ansieht. Wichtig ist, dass die Gemeinschaft, die darin portraitiert wird, es sieht.“

Mit diesem Bekenntnis zur Anbindung seiner Dokumentationen an einen lokalen, relativ fest umgrenzten Kontext formuliert Fujii auch eine Gegenperspektive zu Protestformen in Japan nach dem 11. März 2011, die auf eine breite Öffentlichkeit abzielen und mit klar ausformulierten politischen Zielsetzungen operieren.

„Die Anti-Atomkraftbewegung. Das ist der Tonfall von Tokio. Aber wenn ich mich in Fukushima oder im Erdbebengebiet bewege, habe ich das Gefühl, dass dieser ›Tokio-Tonfall‹ unglaublich weit weg ist. Er hat dort keinen Widerhall. Es ist ein Ruf, bei dem irgendetwas fehlt. Es hat keine Bedeutung, in Fukushima zu sagen, dass man gegen Kernkraftwerke ist. Das ist, als ob man zu Leuten, die gerade im Krieg sind, sagt: ›Ich bin aber gegen Krieg‹.“


Fujiis 3.11 Art Documentation wendet sich nicht vorrangig an diejenigen, die in sicherer Entfernung von mehreren hundert Kilometern vom Katastrophengebiet präzise zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden können, für die das Vorgefallene zumindest einen so hohen Grad von Abstraktheit hat, dass sie daraus bereits die Agenda eines zukunftsbezogenen politischen Programms ableiten können. Zwar verwirft er ihren Ansatz nicht, jedoch ist es nicht sein eigener. Fujii begibt sich direkt hinein in die Schicksalsgemeinschaft derjenigen, die infolge der Katastrophe nicht nur ihren Besitz, sondern auch den Kanon ihrer bisherigen Werte und Überzeugungen in Trümmern sehen. Was er dort vorfindet, ist vor allem ein verworrenes Knäuel ungelöster und wohl auch auf längere Sicht unlösbarer Widersprüche, eine Vielfalt von widerstreitenden Interessen und Versuchen, aus der Katastrophe Nutzen zu ziehen. Aus den mannigfaltigen Umgangsweisen mit dem Desaster, mit denen Fujii bei seiner Arbeit konfrontiert wird, lässt sich kein „Modell einer Kunst in Zeiten der Katastrophe“ destillieren. Was Fujii im Angesicht dieser Situation anstrebt, ist eine Visualisierung der Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der Perspektiven, ein leise und bescheiden auftretendes kritisches Bewusstsein, das auch seinen eigenen Blick, den des Filmemachers, mit einbezieht.

„Im Mai trat der in Fukushima geborene Dichter Ryoichi Wago in einer Fernsehsendung namens Fukushima wo ikiru [Deutsch: ‚Fukushima leben’ bzw. ‚In Fukushima leben’] auf. Das hat mich sehr irritiert. Ich habe in Äußerungen wie ‚Fukushima nicht aufgeben’ auch die Beschränkung der Freiheit gesehen, aus Fukushima wegzugehen. So etwas darf man nicht sagen, dachte ich. Aber im August und September habe ich erfahren, dass viele der Bewohner durch diese Worte ermutigt wurden. Für Menschen, die sich entschlossen hatten, dort zu bleiben, waren diese Worte von großer Bedeutung. Ich denke, es gibt sehr viele Wahrheiten. Auch wenn ich kein Verständnis für bestimmte Strategien und Zugriffe habe, Herr A oder Herr B haben ihren eigenen Zugang. Und in ihrem Umfeld gibt es wieder Leute, die daran glauben. Diese Wahrheit des anderen als solche anzunehmen ist auch eine Herausforderung. Das ist das, was ich durch die Katastrophe vor allem gelernt habe.“

 

https://vimeo.com/69379252

 

Diese Polyphonie der Blicke und Stimmen, der Fujii sich und die Aktivitäten, die er in seinen Filmen reflektiert, aussetzt, sind ein leises, aber vehementes Plädoyer gegen die Vereinheitlichung der Perspektiven, auf die die japanischen Massenmedien in ihrer inflationären Benutzung von Parolen wie „Kizuna“ (Gemeinschaftsbande) oder „Ganbare Nippon“ (gleichermaßen übersetzbar mit: ‚Viel Glück, Japan’ wie auch ‚Japan, streng Dich an’) abzielen. Hikaru Fujii hat im Zuge seiner Arbeit an der 3.11 Art Documentation keine verbindliche Antwort auf seine Ausgangsfrage nach dem Potential der Kunst im Angesicht der Katastrophe erhalten. Die japanischen Medien und die Politik hingegen scheinen mit ihren Kampagnen des Ärmel-Hochkrempelns die Antwort schon längst gefunden zu haben. Umso relevanter ist daher die diskret subtile Kritik von Fujiis Beobachterperspektive, die Unbehagen, Uneindeutigkeit und Zweifel nicht nur zulässt, sondern als produktive Prinzipien kultiviert.

 

center for remembering 3.11

http://recorder311-e.smt.jp/participants/hikaru-fujii/

 

 

Hikaru Fujii

Bildender Künstler, Filmemacher. 1976 in Tokio geboren. Er studierte an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs und erwarb einen DEA-Abschluss an der Université de Paris 8.

Seit 2005 setzt er sich in verschiedenen Arbeiten im Bereich der visuellen Medien mit der sozialen und politischen Situation in Japan auseinander. Zu seinen neueren Arbeiten zählen Create my own media (Yamaguchi Center for Arts and Media, 2010-2011), Now, what is the barrier? (Sendai Mediatheque, 2010) und Reflection/ 'another world' in the image (Art Tower Mito, 2010). Seit dem Großen Tohoku-Erdbeben vom 11. März 2011 widmet er sich in den Projekten 3.11 Art Documentation, PROJECT FUKUSHIMA! und Record of Coastal Landscape verstärkt der Frage nach der Verbindung von Kunst und dem 11.3.2011.
http://hikarufujii.com/

 

 

Ulrike Krautheim (Tokio)
Dramaturgiestudium in Leipzig. Lebt seit 2004 in Japan. Nach Tätigkeiten im Veranstaltungs- und Konzertmanagement von 2008 - 2013 Produktionskoordinatorin beim Festival/Tokyo. www.festival-tokyo.jp
Seit 2012 Ko-Direktorin des Residenzprogramms "Residency East Asia Dialogue" http://r-ead.asia/, seit 2013 außerdem Koordinatorin beim Japan Media Arts Festival http://j-mediaarts.jp/?locale=en

 

 


[1] Bereits in Fujiis früheren Arbeiten legte er besonderes Augenmerk auf die Verknüpfung von künstlerischen Aktivitäten mit sozialen Initiativen und Bewegungen. So dokumentierte er beispielsweise im Jahr 2010 die Aktivitäten des Artist in Residence Miyashita Park (Shibuya, Tokio), einem Bündnis von KünstlerInnen, Obdachlosen und Aktivisten, die sich gegen den Kauf und die Säuberung des Miyashita Parks durch die Firma Nike richtete. Vgl. http://airmiyashitapark.info/wordpress/, 05.08.2013.