Das Performance-Bild


Knut Ebeling (Berlin)

 

 

 

Der Diskurs um die Aufzeichnung von Performances, der immer ein Diskurs der Dokumentation und des Dokuments war, versteht seine Medien falsch, wenn er folgende Fragen stellt: Wie soll man Performances aufzeichnen? Was soll man aufzeichnen? Soll man sie überhaupt aufzeichnen? Diese Fragen laufen schon deshalb ins Leere, weil sie von ontologischen Differenzen ausgehen, die auf die beteiligten Medien nicht zutreffen. Hier verdeckt das gute Gewissen der Vorsicht, das diese Fragen umsichtig umkreist, die fundamentalen Irrtümer, denen es aufsitzt.

 

Das Dispositiv der Performance

Diese Missverständnisse sind schon aus dem Grund bedauerlich, weil die Kunstform der Performance durchaus medienaffin ist: schließlich wurde sie zu einem Zeitpunkt erfunden (wenn man überhaupt von einer Erfindung sprechen kann) oder sie erscheint jedenfalls innerhalb eines Dispositivs, in dem filmische Aufzeichnungen eine Rolle spielen und möglich sind. Aufgrund dieses filmischen Dispositivs der Performance lässt sich die These aufstellen, dass diese Kunstform erst innerhalb dieses filmischen Rahmens oder Gestells möglich wird. Oder wie wäre die Performance unabhängig von ihren Aufzeichnungsmodalitäten zu denken?

Wenn man die Frage nach dem medialen Dispositiv der Performance stellt, muss man die Perspektive einer konventionellen Geschichte zunächst aus zwei Gründen einklammern. Schließlich würde eine Geschichte der Performance diese unabhängig von ihren Aufzeichnungsmedien schreiben – also diejenigen Medien vergessen, die uns zuallererst sagen, was Performances überhaupt waren. Denn die Geschichte der Performance würde davon ausgehen, dass die Geschichte der Performance etwas anderes sei als ihre Aufzeichnung und Dokumentation – also einen ontologischen Unterschied behaupten, der sich gerade bei der Performance als höchst problematisch erweist.

Kurz: Weil jede Geschichte der Performance ihren Gegenstand selbst voraussetzt, läuft sie auf eine betriebsblinde Veranstaltung hinaus, die ihre äußeren Voraussetzungen, ihr Gestell, ihr Dispositiv, nicht mitreflektiert. Doch alles, was erfunden wird und was wir finden, beruht auf einem ganzen Set von Bedingungen, ist eingefügt, eingebaut, eingekeilt in diese Bedingungen, die dann allerdings in den jeweiligen Erfindungen, wie zum Beispiel der Performance, nicht mehr erscheinen.

Also muss man die Frage der Aufzeichnung von Performances oder Performanz so stellen, dass sie sich nicht selbst voraussetzt. Man muss quasi einen Nullpunkt finden, an dem diese Geschichte – oder diese Nicht-Geschichte – ansetzen könnte. Man muss die Nicht-Geschichte des Dokumentarischen, diese Archäologie des Dokuments aus einer Perspektive erzählen, in der die Performance noch nicht erfunden war, ihr Problem aber schon bestand.

 

 

Das Problem der Aufzeichnung

Was ist das Problem an der Aufzeichnung von Performances? Wir kennen es alle: Performances bleiben nicht, sie sind immer schon vorbei, weshalb wir sie nur vom Hörensagen oder von Aufzeichnungen her kennen. Ihr Problem ist die Vergänglichkeit der Dauer, der Performanz, die Einmaligkeit des gelebten und performten Augenblicks – die den Wunsch, das Begehren, vielleicht die Notwendigkeit seiner Aufzeichnung unablässig hervortreiben. An diesem alten Motiv hat sich jedoch Folgendes geändert:

Performances finden heute nicht mehr in einer kulturellen Situation statt, in der es viele Performanzen und wenige Aufzeichnungen gibt. Das war die Situation zur Zeit der Erfindung der Performance. Heute gibt es viele, unübersehbar viele Aufzeichnungen und wenig Performanz – also Dinge, die dauern, Dinge, in deren Dauer sich etwas ereignet, das aufgezeichnet werden sollte. Heute hat sich die kulturelle Situation umgekehrt: Man hat den Eindruck, die Aufzeichnungen hätten das Aufzuzeichnende ersetzt oder sich wenigstens vor es geschoben. Heute sehen wir vor lauter Aufzeichnungen das Aufzuzeichnende nicht mehr. Wir kennen alle Millionen Aufzeichnungen und wenige Performances; woran wir uns erinnern können, sind eher Aufzeichnungen von Performances als Performances selbst.

Diese veränderte kulturelle Situation müsste auch das Nachdenken über die Aufzeichnung von Performances verändern. Denn allein mit einer harmlosen Aussage wie: ›Die Aufzeichnung hat sich vor das Aufgezeichnete geschoben‹ begeht man schon einen folgenreichen Irrtum, ist man schon auf dem Holzweg, das heißt: in der Geschichte. Denn die Geschichte unterscheidet zwangsläufig zwischen Aufzeichnung und Aufgezeichnetem, was in einer kulturellen Situation problematisch ist, in der nicht mehr zwischen Leben und Repräsentation, dem Realen und seinen Medien unterschieden werden kann.

 

 

Ontologien der Performance

Anders gesagt: Das Problem der Aufzeichnung von Performance im Allgemeinen und das harmlose Statement ›Die Aufzeichnung hat sich vor das Aufgezeichnete geschoben‹ im Besonderen enthalten bereits diverse ontologische Annahmen – wie zum Beispiel, man könne das Aufgezeichnete vom Aufzeichnenden unterscheiden, das Aufgezeichnete sei wesensmäßig etwas anderes als das Aufzeichnende, so wie das Signifikat etwas anderes als der Signifikant sei oder die Spur unterschieden von seinem Träger. Das ist auch die Ontologie der Aufzeichnung der Performance, die von einer Trennung von Aufgezeichnetem und Aufzeichnung, von Performance und Dokumentation ausgeht: Zuerst wird performt, anschließend wird dokumentiert.

Nichts anderes als diesen scheinbar banalen Sachverhalt bezeichnet der ontologische Claim: Man glaubt daran, dass die aufgezeichnete Performance etwas anderes sei als ihre aufzeichnenden Medien wie zum Beispiel Fotografie und Film; dass die Spur ontologisch anders verfasst sei als ihr Träger; dass diese ›natürlich‹ und ›authentisch‹ wahrgenommenen Bilder einer Performance von anderer Natur seien als diejenigen, die sie dokumentieren – ohne diesen Glauben würden wir die Dokumentationen verschiedenster Kunstformen nicht regelmäßig in den Vorzimmern ihrer Ausstellungen antreffen, wo sie zumeist auf derselben ontologischen Ebene wie die Einleitungstexte rangieren.

Gegen diesen verbreiteten Glauben kann gerade eine höchst medienaffine Kunstform wie die Performance zeigen, dass diese Unterscheidung nicht zutrifft oder ihrem Material nicht gerecht wird: den Medien nicht gerecht wird, die daran beteiligt sind. Gerade an der medienaffinen Performance lässt sich demonstrieren, dass sich das Aufgezeichnete vom Aufzeichnenden und die Spur vom Träger ontologisch nicht unterscheiden lässt.

 

 

Die Dauer der Bilder

Jemand, der auf das ontologische Problem der Aufzeichnung zu sprechen kam, war der französische Filmtheoretiker André Bazin. Zwar konnte er noch nicht zur Frage der Aufzeichnung von Performance Stellung beziehen, aber wenigstens zum verwandten Problem der filmischen Aufzeichnung von performter, also abgefilmter Malerei. In drei Texten von 1945 bis 1956 skizziert er ein Feld, das mit dem filmischen Dispositiv der Performance identisch ist: »Ontologie des photographischen Bildes«, »Malerei und Film« und »Ein bergsonianischer Film: Le mystère Picasso«.[1]

Bazins Argument ist Folgendes: Sein erster Text sagt, Malerei und Fotografie liefern unterschiedliche Bilder, sie sind verschieden und funktionieren ontologisch auf unterschiedlichen Ebenen, weswegen der Text auch »Die Ontologie des photographischen Bildes« heißt. Der zweite, »Malerei und Film«, liefert die Antithese: Nein, sagt er, es gibt keine ontologische Differenz zwischen gemalten und gefilmten Bildern. Denn es handelt sich bei der Malerei im Film gar nicht um Malerei, sondern um abgefilmte Malerei – was etwas anderes sei als reine Malerei. Die abgefilmte Malerei verschluckt die Malerei, sie wird zum Film, verwandelt sich in Film, weshalb gefilmte Malerei ontologisch etwas anderes sei als Malerei.

Warum ist das so?, fragt nun der dritte Text zum berühmten Picasso-Film von Henri-Georges Clouzot von 1956.[2] Warum ist abgefilmte Malerei etwas anderes als Malerei? Was Bazin selbst durch das Argument der Dauer beantwortet: Abgefilmte Malerei ist etwas anderes als Malerei, weil es hier um die Aufzeichnung einer Dauer geht. Die Aufzeichnung der Dauer stellt für Bazin die »zweite Revolution des Films über Kunst« (WF 232) dar, also eine zeitliche Revolution oder Revolution der Zeitlichkeit. Davor gab es die erste Revolution, eine räumliche Revolution, was er anhand des Beispiels des Künstlerfilms klar macht: Im Dokumentarfilm, der den Maler beim Malen zeigt, dringt die Kamera ins Gemälde ein und zerstört den Rahmen des Bildes. Die Malerei erscheint hier als Film codiert. Der Film bildet nicht dokumentarisch die Malerei oder Zeichnung ab; Zeichnung und Malerei werden zum Film, sie verwandeln sich in Film.

»Das Kino ist hier nicht bloß die bewegte Photographie einer zuvor existierenden, äußerlichen Wirklichkeit. Es ist eine legitime, innige Symbiose mit dem Ereignis des Malens eingegangen.« (WF 239) Malerei wurde zum Film, als Film codiert. Diese Filme sind die ersten, die Malerei nicht repräsentieren, sondern neu codieren, auf eine neue Grundlage stellen: Die Malerei tritt als Kino auf. Aus diesem Grund wechselt die Malerei ihren ontologischen Status, sie wird etwas anderes.

Weil die Malerei zum Film wird, fallen beide ontologisch in eins: Aufgezeichnetes und Aufzeichnung sind nicht mehr verschieden, sondern verbinden sich in einem neuen Sein. Hier kann man schon deshalb nicht mehr von Aufgezeichnetem und Aufzeichnung sprechen, weil die Malerei verschwunden ist. Im Malereifilm gibt es nicht erst das Bild der Malerei und anschließend seine Aufzeichnung; was wir sehen, ist immer schon Aufzeichnung, ist immer schon Film und Filmmaterial.

 

 

Die Dekonstruktion der Malerei

Bazin beobachtet diese Zerstörung der Malerei durch den Film minutiös. Weil die Malerei aber nicht nur zerstört wird, handelt es sich nicht nur um eine Heideggersche Destruktion. Sie wird zerstört und zugleich neu aufgebaut, weswegen Derridas Konzeption der Dekonstruktion hier angebrachter erscheint: Zwar sind keine der von Picasso im Film bemalten Blätter und Folien überliefert, sie wurden also tatsächlich zerstört oder überdauerten einfach nicht; doch wurden sie im Film und als Film aufgehoben. Ihr Überdauern und ihre Überlieferung war der Film. Sämtliche Picasso-Bilder aus dem Film sind nur im und als Film überliefert – sie zerstören also nicht nur die Malerei, sondern bauen sie in derselben Bewegung auch neu auf. Mit diesem Akt – indem nicht erst etwas gemalt wurde, was dann abgefilmt und damit ontologisch unterschieden wäre – dekonstruieren sie buchstäblich den behaupteten Unterschied zwischen Bildern innerhalb und außerhalb des Films.

Nach dieser ersten Revolution des Künstlerfilms sieht Bazin eine zweite Revolution, die die Performance und die Performanz als Dauer betrifft. Zur räumlichen Revolution des Künstlerfilms tritt eine zeitliche hinzu. Es ist die Revolution der Dauer, der abgefilmten Dauer. »Was Le mystère Picasso uns zeigt, ist (…) dass diese Dauer ein integraler Bestandteil des Werks selbst sein kann, eine zusätzliche Dimension, die im Endzustand dummerweise ignoriert wird (…) das heißt ein Bild, das in der Zeit existiert, das seine Dauer, sein Leben – und manchmal (…) seinen Tod hat.« (WF 232)

Auch wenn Bazin das von der Malerei sagt, lässt es sich auf die Performance übertragen – was für die abgefilmte Malerei gilt, zählt für die Performance sogar umso mehr. Auch bei der Performance ist die Dauer ›ein integraler Bestandteil des Werks‹, sie ist ebenfalls ›ein Bild, das in der Zeit existiert, das seine Dauer, sein Leben – und manchmal (…) seinen Tod hat.‹ Mit anderen Worten: Was Bazin hier entdeckt, ist nichts anderes als die Zeitlichkeit der Performance – die Tatsache, dass ein Bild ontologisch nicht nur aus Materie bestehen kann, sondern auch aus immaterieller Zeit. Er entdeckt, um es mit Deleuze zu sagen, das Zeit-Bild, das Bild der Dauer, das Bild der Performanz: Das ist das Performance-Bild.

 

 

Das Performance-Bild

Bereits bei der abgefilmten Malerei lässt sich die Frage nach der Kondition, nach dem Seinsstatus des Bildes nicht mehr nur materiell stellen. Bereits bei Picassos Mal-Performance ist klar, dass die Zeit eine grundlegende Funktion dieses Bildes ist, dass hier eine neue Zeitlichkeit eingestellt und codiert wird. Und jedes Bild einer Performance und jedes Performance-Bild ist abgefilmte Zeit. Die ganze Geschichte der Aufzeichnung der Performance sagt nichts anderes: Es handelt sich um abgefilmte Zeit, um Dauer.

Aber beinhaltet nicht die Performance selbst schon diese Dauer? Und was ist mit der Zeitlichkeit der Malerei? Trug sie nicht bereits die Dauer ihrer Entstehung in sich, bevor sie abgefilmt wurde? Ist nicht die Malerei schon ein Aufzeichnungsmedium von Dauer? Registriert nicht jede Linie ihre Zeitlichkeit und Prozessualität? Durchaus, weswegen aus der Perspektive der prozessual gewordenen Kunst der ontologische Schnitt auch nicht zwischen Malerei und Film verläuft. Aufgezeichnetes und Aufzeichnung fallen schon in diesen Medien in eins, weil sie beide als Dauer funktionieren und mit dem Element der Dauer arbeiten.

Deshalb ist der Clou des Filmtheoretikers Bazin ein anderer: Zwar besaß schon die Malerei diese Dauer. Aber erst der Film hat sie sichtbar gemacht; nur er konnte »endlich die Dauer selbst sichtbar machen« (WF 234); denn er arbeitet mit »einer filmischen Zeit und verwendete die konkrete Dauer« (WF 238). Nur der Film, erst der Film: Das ist die Sensation aus dem Mund des Filmenthusiasten Bazin.

Was heißt das nun? Es heißt, dass man die Wirkung der Aufzeichnung kaum unterschätzen kann. Es heißt, dass es nicht um Gutes oder Schlechtes oder überhaupt um das Abfilmen von Malerei oder Performance geht. Die dauernde Frage nach den dokumentarischen oder fiktiven Anteilen des Dokumentar- oder Künstlerfilms versteht ihr Medium schon darin falsch, dass sie von einer ontologischen Trennung ausgeht, die die Frage nach den dokumentarischen oder fiktiven Anteilen zuallererst ermöglicht.

Man muss das Verhältnis zwischen Aufzeichnung und Performance umgekehrt denken: Wenn erst der Film die Zeitlichkeit der Performance – auch der Malerei – entbirgt, wenn er sie eigentlich erst hervorbringt, wenn die spezifische Zeitlichkeit der Performance erst im Zeitalter des Films denkbar wurde, dann war man nie weiter von der dokumentarischen Funktion des Dokumentarfilms entfernt. Die Aufzeichnung dokumentiert nichts, nichts außer sich selbst. Sie ist ein eigenes Kunstwerk, ein eigenes Monument – um die Opposition Michel Foucaults aufzugreifen –, kein Dokument. Aus diesem Grund ist es für Bazin auch »lächerlich«, von der »dokumentarischen Natur« (WF 238) des Films zu sprechen.

 

 

Die Metaphysik der Aufzeichnung

Das zweite, bereits erwähnte Argument gegen die dokumentarische Natur des Performance-Bildes ist seine Hierarchie, die eingebaute Metaphysik der Bilder. Denn dokumentarisch heißt immer: nachträglich. Erst kommt der Gegenstand, dann seine Dokumentation. Erst das Aufzuzeichnende, dann die Aufzeichnung. Erst die Performance, dann seine Doku. Gegen diese Metaphysik der Aufzeichnung spricht nicht nur die zeitgenössische Atelier- oder vielleicht sollte man besser sagen: Büropraxis, in der es nichts gibt, was nicht aufgezeichnet wird und die immer schon von der Frage der Aufzeichnung ausgeht. Dagegen spricht auch die prozessuale und performative Kunst, die mit ihrer eigenen Aufzeichnung zusammen fällt – selbst dann, wenn sie sich dafür entscheidet, nicht aufzuzeichnen. Denn das ist gar nicht die Frage.

Weil die Performance innerhalb des Gestells des Films, das heißt der Dauer existiert, kann man sie gar nicht von der Frage ihrer Aufzeichnung trennen. Hier kommt die Aufzeichnung nicht erst nachträglich hinzu, Performances gehen immer schon von Fragen der Aufzeichnung aus: Denn selbst (oder gerade) wenn sie sich gegen die Aufzeichnung entscheiden, wurde deren Möglichkeit in der Performance aufgrund ihrer Vergänglichkeit immer schon mitgedacht. Aus diesem Grund gehören die Fragen ihrer Aufzeichnung – Wie soll man oder was soll man aufzeichnen? Soll man überhaupt aufzeichnen? – noch der ontologischen Unterscheidung zu, die vom technischen Medium längst unterlaufen wurde. Diese Fragen rennen also bei diesem Medium durch offene Türen.

Weswegen Bazin diese ontologische Ordnung von eigentlichen und uneigentlichen Bildern auch vehement verwirft. Es gehe nicht um eine »nachträgliche Animation« (WF 236) oder Dokumentation eines Bildes, es gehe nicht um die »bewegte Fotographie einer zuvor existierenden, äußeren Wirklichkeit« (WF 238), um ein Bild, »das auch für sich existieren« könnte. Stattdessen geht es um die »Veränderung des Bildes selbst« (WF 236). Und diese »Veränderungen des Bildes selbst« sind die des Performance-Bildes, das durch folgende Kriterien gekennzeichnet ist:

1. Die Aufzeichnungen von Performances haben diese nicht aufgezeichnet – sie haben sie von Grund auf verändert. Sie haben ein neues Bild der Kunst geschaffen. Sie haben das Zeit-Bild oder das Performance-Bild geschaffen.

2. Das Performance-Bild wurde nicht nur durch die filmische Aufzeichnung von Performances oder anderen künstlerischen Akten geschaffen. Diese Verwandlung und Neucodierung des Bildes durch seine filmische Aufzeichnung hat auf das Aufgezeichnete zurückgewirkt: Die Bewegung verläuft aus der Performance zu ihrer Aufzeichnung – und zurück. Die Performance ist also von ihren technischen Aufzeichnungen nicht unberührt geblieben. Sie war von Anfang an filmisch, das heißt zeitlich, dauerhaft, gestisch.

3. Weil der Film oder die filmische Aufzeichnung gewissermaßen in die Performance eingebaut ist, hat diese sich nach dem Film gerichtet oder innerhalb des filmischen Dispositivs ein- und ausgerichtet – weswegen es auch völlig unerheblich ist, ob Performances nun dokumentiert werden oder nicht. Filmisch, innerhalb des filmischen Dispositivs der Dauer befindlich, sind sie ohnehin. Diese Kunst ist filmisch von Anfang an und nicht erst in dem Moment, wo die Kamera nachträglich herbeigeholt wird.

4. Die Performance ist umgekehrt aber auch ins Gestell des Films eingebaut – doch nicht aufgrund von Ereignissen, die verschwinden, weswegen man sie schnell noch mit der Kamera dokumentieren muss; auch nicht, weil das Performte verschwindet. Sondern weil es überhaupt erst in der Zeit erscheint und emergiert: also nicht am Ende, sondern von allem Anfang an. Performance selbst ist – nach ihrem Namen – eine dauernde Kunst und der Film oder das Video die Medien dieser Dauer.

5. Aus diesem Grund ist die Aufzeichnung nichts Zweites, sie ist etwas Erstes, eine arché, ein Archiv – und genau das sagt Bazin: »Das Spektakel«, das man in den Künstlerfilmen sehe, sei »also die Faszination angesichts des Auftauchens freier Formen im Zustand ihrer Entstehung«, es sei ein »Keimen, ein Sprießen« (WF 236). Dieses »Spektakel« einer Emergenz sollte nicht durch seine Aufzeichnung, das heißt durch die falschen Fragen nach seiner Aufzeichnung, erstickt werden: Schließlich besteht seine Emergenz in seiner Aufzeichnung – weswegen Performances nicht an ihren richtigen oder falschen Aufzeichnungen, sondern an dem falschen Glauben ersticken, der diesen Fragen zu Grunde liegt.

 

 

 

 

Knut Ebeling, Professor für Medientheorie/Semiotik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und Lecturer an der Stanford University Berlin. Zahlreiche Publikationen zu zeitgenössischer Kunst, Theorie und Ästhetik, zuletzt: Die Aktualität des Archäologischen – in Wissenschaft, Medien und Künsten (Mithg.), Frankfurt am Main 2004; Das Archiv brennt (gemeinsam mit Georges Didi-Huberman), Berlin 2007; Stadien. Eine künstlerisch-wissenschaftliche Raumforschung (gemeinsam mit Kai Schiemenz); Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten (Mithg.), Berlin 2009; Wilde Archäologien 1. Theorien materieller Kultur von Kant bis Kittler, Berlin 2012; Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit von Archiv bis Zerstörung, Berlin 2014.

 



[1] André Bazin, Was ist Film, hg. von Robert Fischer, Berlin 2009. Alle Zitate aus diesem Buch im folgenden abgekürzt als WF.
[2] Le mystère Picasso. Frankreich: Filmsonor 1955 (Festivalpremiere 1956). 78 Min.