Phonographische Ereignisse

Zum Aufführungscharakter des Abspielens von Schallplatten

Jan Thoben (Berlin)

 

 

 

 

 

Vor ihm "versammelt sich die bürgerliche Familie, die Musik zu genießen, die sie selber – wie zuweilen der feudale Haushalt – nicht mehr musizieren kann", urteilte Theodor W. Adorno 1927 über das Grammophon im Mahagonischränkchen [Adorno 1984: 526]. Die Schallplatte entstamme einem Zeitalter, "das die Übermacht der Dinge über den Menschen zynisch bekennt" [Ebenda: 530]. Der künstlerische Prozess bleibe von Dingen wie technischen Medien unberührt, denn das Material beträfe "im eigentlichen Sinn [...] die Töne und ihre Beziehungen untereinander, nicht das diesem Material äußerliche und relativ zufällige Aufnahmeverfahren" [Adorno 1976: 65]. Hier liegt die Annahme einer quasi unvermittelten musikalischen Kommunikation zugrunde, bei der vollständig autonom über die Produktionsmittel verfügt werde. Technische Medien seien als solche ohnehin kategorisch auszuschließen und mit dem Grammophon als Instrument der Kulturindustrie zur "angepassten Mitteilung vorgegebener Werke" [Adorno 1984: 526] sei ergo nicht zu musizieren: "Ganz folgerichtig ist der Begriff mechanischer Musik auf Sprechmaschinen kaum anzuwenden" [Adorno 1927] (1).

Andererseits wurde der Phonograph noch 1937 - 50 Jahre nach seiner Erfindung - in Carlos Chavez Schrift 'Toward A New Music. Music and Electricity' [Chavez 1975/1937] zusammen mit den Selbstspielklavieren als musikalische Instrumentengattung aufgeführt. „Zu selbstverständlich war noch die Vorstellung, dass ein Musik hervorbringendes Gerät eben ein Instrument sei", bemerkt Volker Straebel [Straebel 1996: 219].

 

 

Die Einbürgerung grammophoneigener Musik

Inwiefern Plattenspieler als Musikinstrumente in Erscheinung treten können, lässt sich letztlich weniger anhand ihrer Beschaffenheit, als vielmehr im Hinblick auf kulturelle Handlungszusammenhänge bestimmen. Gelegentlich wird der Topos der Zweckentfremdung stark gemacht, um den Instrumentalcharakter medientechnischer Apparate zu beschreiben. So heißt es, dass "gerade jene Stücke der neueren Musik, die teilweise oder ausschließlich »für« Medien konzipiert sind, zumeist sowohl gegen deren eingebürgerte Produktionsweisen wie auch gegen den allgemein akzeptierten Mediengebrauch verstoßen." [Zeller 1990: 107]. Was sich jedoch als Mediengebrauch einbürgert, ist vom kulturhistorisch-gesellschaftlichen Konsens abhängig und wandelbar. So verkündete der Bundesfinanzhof im Jahr 2005 ein Urteil, welches besagt, dass Veranstalter von DJ-Acts die Eintrittspreise lediglich mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 Prozent, statt regulär mit 19 Prozent zu versteuern haben, da sich das Auflegen von Platten von nun an als Konzert ausweisen ließe: "Bei Musik, die durch Verfremden und Mischen bestehender Musik entsteht, können Plattenteller, Mischpulte und CD-Player 'Instrumente' sein" i.S.d. § 12 Abs. 2 Nr. 7a UStG (2). Eine solche staatsrechtliche Legitimierung des DJing als Kunstform ist das späte Erbe der Neu-Konfiguration des Plattenspielers zur Produktion einer grammophoneigenen Musik, deren Konzeption in die 1920er Jahre zurückreicht.

Originalwerke für Schallplatten, genauer Paul Hindemiths Trickaufnahmen und Ernst Tochs Gesprochene Musik, wurden 1930 auf dem Musikfestival Neue Musik Berlin aufgeführt. Hindemiths Etüden, welche nicht als Studien für einen Instrumentalisten, sondern für ein technisches Instrument angelegt waren, umfassten Experimente mit den Möglichkeiten der Tonhöhenveränderung durch Zeitachsenmanipulation, also dem Verlangsamen und Beschleunigen der Abspielgeschwindigkeit des Grammophons, sowie der Montage bzw. Schichtung von Klängen. Hindemiths Interesse galt der Transposition und kontrapunktischen Montage, während Toch mit qualitativen Klangfarbenveränderungen experimentierte, die bei der Skalierung der Zeitachse entstehen [Katz 2010: 109-123]. Das Potential der Phonographie zur spezifischen Manipulierbarkeit aufgenommener Klänge war sowohl für die grammophoneigene Musikpraxis als auch für die DJ-Culture anleitend.

So ist das Urteil des Bundesfinanzhofs zweifellos die Besiegelung der längst vollzogenen kulturellen Einbürgerung einer musikalischen Medienpraxis. Ein auf Handlungs- und Verwertungszusammenhänge abzielendes Modell kulturkritischer Medienkomposition verwickelt sich somit in Widersprüche, wenn behauptet wird, Medienmusik müsse sich durch den strategischen Verstoß gegen eingebürgerte Produktionsweisen überhaupt erst als musikalisch auswiesen. Ferner lässt sich sinnvoll kaum von einem Status quo des Mediengebrauchs, sondern vielmehr von einer Pluralität der Handlungsoptionen durch technische Medien sprechen.

 

 

Zeitachsenmanipulation und Präsenzeffekte

Transpositionsexperimente und das Rückwärtsspielen des Tonträgers haben den Phonographen seit seiner Erfindung begleitet. Edison selbst hatte bereits im Rahmen der ersten öffentlichen Pressevorführung seiner Sprechmaschine Walzen rückwärts abgespielt. "Making the machine talk the language backward", zitiert Feaster entsprechend aus dem im März 1978 im Scientific American erschienenen Artikel "The Phonograph" [Feaster 2007: 106]. Im Grunde ist mit dieser knappen Versuchsbeschreibung die performative Dimension der phonographischen Wiedergabe schon benannt. Während das Rückwärtsspielen einer Phonographenwalze die Abtastung eines aufgenommenen Signals unter Spiegelung der Zeitachse bedeutet, wird dieser Vorgang von den Hörenden als Sprechen interpretiert. Allerdings spreche nicht mehr ein Mensch sondern die Maschine, so stark war der präsenzerzeugende Effekt des Mediums. Folglich versuchten die Reporter den phonogenen Klängen mit dem Alphabet beizukommen, um die neuartigen Klänge, die sie für Phoneme hielten, zu transkribieren. Allerdings geschah dies nicht durch eine onomatopoetische Verwendung des Alphabets, wie zu vermuten wäre. Feaster führt stattdessen zwei Artikel an, die andere Übersetzungsmodelle repräsentieren. Der aufgenommene Text "Mary had a little lamb" war den Journalisten bekannt, jedoch rückwärts abgespielt nicht wieder zu erkennen. Im ersten Fall wurde daher versucht, die Klänge der Maschine durch Spiegelschrift zu transkribieren, was der technischen Logik der gespiegelten Zeitachse entspricht. Im zweiten Transkriptionsbeispiel bemühte man sich allen Ernstes, an die ursprüngliche Semantik rückzukoppeln, indem lediglich die Wortreihenfolge umgekehrt wurde. Edison übertrug das zweite Beispiel in sein Notizbuch und versah es mit der sarkastischen Bemerkung "Wonderful, ain't it?" [Ebenda]. Eine Re-Semantisierung der Aufnahme einfacher musikalischer Motive schien mithin weniger Probleme zu bereiten als jene der rückwärts gesprochenen Sprache, was auf die reduzierte akustische Komplexität des Eingangssignals zurückzuführen ist. So wurde die Umkehrung des Signals einer gepfiffenen Melodie zunächst als formale Permutation wahrgenommen, ganz im Sinne eines musikalischen Krebsgangs. Effekte des Mediums, die aufgrund der operativen Hüllkurvenumkehrung entstanden, waren offensichtlich leichter zu vernachlässigen als bei Sprache. Entscheidend ist jedoch, dass der Phonograph von Beginn an auch als Musikinstrument aufgefasst wurde.

 

 

Performative Aspekte phonographischer Wiedergabe

"Die Schallplatte wird aufgelegt. Der Plattenteller wird über Motor in Drehung versetzt. Der Tonarm wird über die Schallplatte bewegt und aufgesetzt", so beschreibt Stefan Heidenreich die Schnittstelle der phonographischen Maschine zum Menschen. Und weiter: "Die Kunst des DJ's [sic!], des Solisten am Plattenspieler, besteht aus nichts anderem als einer sehr variablen Ausführung dieser drei Handlungen" [Heidenreich 1997: o. S.]. Dabei haben sich Elemente des mechanischen Interfaces des Plattenspielers soweit etabliert, dass sie erfolgreich - vor allem kommerziell - durch digitale Technologien emuliert werden und den analogen Plattenspieler überdauern. So konnte Pioneer Mitte der 1990er Jahre den CDJ-500 auf den Markt bringen, einen CD Player, der mit einem Interface ausgestattet war, das an einen Plattenteller gemahnt. (3) Mit Entwicklung des Musiksystems Final Scratch ist eine solche Nachbildung des Interfaces jedoch redundant geworden. Timecode-Vinyls, die auf gewöhnlichen Plattenspielern aufgelegt werden operieren als Speicher von Daten zur Steuerung digitaler Audioprozesse. Das Signal wird mittels Scratch Amp in Echtzeit decodiert und damit die Abspielgeschwindigkeit und Position des Tonabnehmers auf der Vinlyscheibe errechnet. Durch entsprechendes Datenmapping ist es somit möglich, die diversen Spieltechniken des DJings weiterhin mit regulären Schallplattenspielern auf digitale Audio Files anzuwenden. Es handelt sich hier allerdings nicht mehr um eine Schallplatte im engeren Sinne, sondern um einen digitalen Datenträger, der mechanisch Informationen über seine Abtastung ausgibt. (4) Der Instrumentalcharakter des Plattenspielers ist im hybriden Medienverbund mit Digitaltechnik absolut geworden. Was bleibt, ist das analoge Interface, ein Relikt der Medientechnik, das vertraut und handhabbar geworden ist. Doch die performativen Aspekte des Plattenspielers beschränken sich nicht auf seine technische Bedienbarkeit, sondern ebenso auf seine Klanglichkeit, wie bereits am Beispiel der phonographischen Vorführungen Edisons deutlich wurde.

Medien determinieren unsere Wahrnehmungsoptionen, sie "bestimmen unsere Lage", wie Friedrich Kittler formuliert hat [Kittler 1996: 3]. Keineswegs treten sie als 'neutrale' Vermittler in Erscheinung. Medienmusik trägt mithin die offenkundigen Insignien der spezifischen Handhabung der Klangerzeuger in sich, etwa das manuelle Aufsetzen der Nadel oder den avancierten Backspin des DJs. Doch auch die weniger vordergründigen Klangartefakte weisen einen Schallplattenspieler als solchen aus, etwa durch Knacksen oder Gleichlaufschwankungen des Antriebs. Nicht zuletzt diese hörbaren Indizien verweisen auf die Problematik des Verhältnisses von Aufnahme und Wiedergabe: "Ein Abbilden oder Vermitteln von musikalischer oder klanglicher 'Realität' als Teil eines systemeigenen Wirklichkeitskonstrukts zwischen den beteiligten Personen kann daher den Abbildungsmechanismen technisch-medialer Übertragung und Speicherung nicht entsprechen", erläutert Rolf Großmann [Großmann 1997 : 74-75]. Wenn im Sinne musikalischer Wertschätzung der "zauberhafte Augenblick" einer Aufführung, die von Schallplatte gehört wird, im heimischen Wohnzimmer den Anschein von Realität bekommt, dann, so Großmann "nicht als Abbildung durch das Medium, sondern durch das 'Vorwissen' des bedeutungsgenerierenden Systems" vor dem Hintergrund der "Folien 'realer' Erfahrung" [Ebenda]. Kommen technische Medien in Form emergenter Effekte allerdings zur Anschauung, werden sie selbst performativ.

Um den Plattenspieler als technisches Medium in seiner performativen Dimension, d.h. in seinem wahrgenommenen Praktischwerden zu verstehen, ist es zunächst sinnvoll, zwischen Operativität und Performativität zu unterscheiden. Das Operative ist ein komplementärer Gegenbegriff zum Performativen. Während das Performative die Ebene der Phänomene, also das menschliche Wahrnehmen und Verarbeiten medialer Oberflächen adressiert, verweist Operativität auf den Bereich der Signale. Wolfgang Ernst weist darauf hin, dass "[d]ie mediale Oberfläche [...] an und für sich noch nicht performativ [ist], sondern als physikalisches Interface der Maschine streng operativ." Die Rezeptionsoberfläche als Schnittstelle zur Wahrnehmung sei eine "Ermöglichungsmaschine semiotischer Prozesse", denn an ihr wird Sinn erzeugt. Operative Prozesse als solche sind jedoch "im semantischen Sinne sinnfrei" [Ernst o. J.: o. S.] und unterlaufen in dieser Eigenschaft eine Mimesistheorie technischer Reproduktion. Diese medientechnische Subebene kultureller Kommunikation ist im vorliegenden Text von zentralem Interesse, denn die vermeintliche Repräsentationsfunktion einer medientechnischen Wiedergabe unterliegt spezifischen Formungsbedingungen, d.h. spezifischen Möglichkeiten, Beschränkungen und handlungsbezogenen Implikationen. Diese Bedingungen werden anschaulich, wenn medientechnische Artefakte im Kontext einer entsprechenden Wahrnehmungssituation auf ihre eigene Konstituierung verweisen. Eine Diskussion der Begriffe Wiedergabe und Aufführung wird damit unausweichlich.

 

 

Écoute reduite

Sibylle Krämer ruft im Hinblick auf eine Abgrenzung von Medien und Instrumenten in Erinnerung, dass das, "was mit ihnen [den Instrumenten, der Verf.] bearbeitet wird, [...] eine vom Werkzeug durchaus ablösbare Existenz" habe [Krämer 1998 : 83] (5). Nun scheint es aber von der Perspektive abzuhängen, ob ein bearbeitetes Klangmaterial als autonom empfunden wird. Wenn grammophoneigene Musik als geschlossenes System im Sinne Pierre Schaeffers bestimmt wird [Schaeffer 1977], soll die Aufmerksamkeit zwangsläufig dem musikalischen Zusammenhang gelten, denn die Strategie des reduzierten Hörens (écoute reduite) versucht, Klänge gleichsam als musikalischen Naturstoff aufzufassen.

Nach Schaeffer emanzipiert sich das Klangobjekt qua Speichermedium von seiner Quelle und geht als musikalisches Objekt in einem formalen Zusammenhang auf [Schaeffer 1977, Chion 1983]. Bis Ende 1950 wurden Plattenteller und Schaltersysteme zur Aufnahme und Montage der Klänge verwendet, später Bandmaschinen und schließlich digitale Audiotechnologie. Im Rahmen der Theorie der Musique Concrète wird allerdings der Vermittlungscharakter des Speichermediums notwendigerweise vernachlässigt, um den ästhetischen Status einer absoluten Musik als formales System sicherzustellen. Doch gerade weil eine solche phänomenologische Hör- und Kompositionsstrategie die medientechnische Aufzeichnung von Klängen voraussetzt, ist die Rede von der Emanzipation des Klanges nicht unproblematisch. Zwar ist der phonographisch aufgenommene Klang einer Glocke nicht mehr an die Ursächlichkeit der Glocke gebunden. Allerdings ist an die Stelle der Glocke nun das technische Medium getreten, das sich im Prozess der Aufnahme wie Wiedergabe sowohl in den Klang einschreibt, als auch die Handlungsoptionen des Komponisten/Instrumentalisten im Hinblick auf die Klangerzeugung grundlegend neu konfiguriert. Das Schaeffersche Klangobjekt ist somit keineswegs seiner Quelle enthoben und ausschließlich formal morphologisch beschreibbar, sondern trägt die Insignien der technischen Übertragung und Speicherung in sich, auch wenn diese die Wahrnehmung unterlaufen bzw. nicht reflektiert werden. Der unverkennbare Vinylsound der frühen Musique Concrète, der sich in Störgeräuschen, Frequenzbereichsverzerrungen sowie Hüllkurvenmodulationen als operativer Folge von Transpositionen äußert, konterkariert ihre theoretische Fundierung.

 

 

Schizophonie

Für heutige Ohren schwer vorstellbar, wurden Artefakte des Plattenspielers auch in außermusikalischen Zusammenhängen lange Zeit wie selbstverständlich ignoriert, denn die illusionistischen Effekte des Mediums waren zu vordergründig. “Schizophonia = That which makes dogs bark at speakers, children look for the man behind the box and savages demand their captured souls returned", kommentiert der Medienkünstler Erik Bünger [Bünger 2007-2009] unter Verwendung der Terminologie Raymond Murray Schafers [Schafer 1994]. Schizophonie und Klangobjekt sind antagonistische Konzepte desselben Sachverhaltes. (6)

Pierre Schaeffers Theorie des Hörens liegt die Idee der Emanzipation des Klangobjekts von seiner Quelle zugrunde, um die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Hören selbst zu richten. Reduziertes Hören verhelfe demnach zu einer auditiven Erfahrung, die vormals durch die erklärenden Eigenschaften des Kontextes ihrer Entstehung, d.h. ihrer Zeichenhaftigkeit verschlossen war [Schaeffer 1977: 93]. Murray Schafer hingegen verwendet den Begriff Schizophonia, um die Nervosität zu charakterisieren, die entstehe, wenn Klänge aus der raumzeitlichen Verankerung ihres Entstehungskontextes herausgerissen werden. Damit entwirft er ein im Gegensatz zur Idee der Emanzipation durchaus pessimistisches Modell technisch mediatisierten Hörens. Wenn auch mit dem moralisierendem Fingerzeig der akustischen Ökologie, so macht doch das Konzept der Schizophonie auf die spezifische Klanglichkeit technischer Medien aufmerksam. Im Gegensatz zur Schaefferschen Hörtheorie, die medientechnisch induziertes Hören auf einen akusmatischen Archetyp reduziert, d.h. zwischen der Hörerfahrung der akusmatikoi (7) und der technisch vermittelten Hörerfahrung nicht unterscheidet, rückt Schafers Begriff der Schizophonie die Medialität der subjektiven Hörerfahrung ins Bewusstsein.

 

Der Begriff Schizophonie ließe sich demnach auch als "Zweiklanglichkeit" von aufgezeichnetem Klang und Medienklang deuten. Offenkundig bedarf es einer Re-Ästhetisierung, einer verfeinerten Kulturtechnik des Hörens, um auf Phänomene der Zweiklanglichkeit aufmerksam zu werden. Erik Bünger weist in seiner Lecture on Schizophonia auf die subliminale Wirkmächtigkeit medientechnisch erzeugter Klangartefakte in Spielfilmen hin. In William Friedkins The Exorcist (1973) beispielsweise erzeugt die technisch modulierte Stimme der Besessenen die Präsenz des Geisterhaften gerade in einer Szene, in der der Dämon für eine akustische Beweisaufnahme die ihm zugeschriebenen Eigenschaften simuliert [Bünger 2007-2009]. Eine solche Medienreflektion vermisst Bünger allerdings bei den Auferweckungsversuchen, die Celine Dion im Duett mit der medientechnisch reproduzierten Stimme Frank Sinatras im Rahmen eines multimedialen Live-Spektakels in Las Vegas inszeniert hat. Dion adressiert während des Auftritts die Großprojektion Sinatras, als sei sie über eine Live-Schaltung ins Jenseits mit ihm verbunden. Diese phantasmagorische Rekonstruktion des Sängers scheint ein kollektives Vergessen darüber zu erzeugen, dass die vermeintlich auratische Präsenz seiner Stimme auf vorausgesetzte Annahmen angewiesen ist. Sinatras Stimme, deren Einsatz mit Zwischenapplaus begrüßt wird, ist überdies ein Produkt des Sound Designs seiner Zeit – der Einsatz von Mikrophonen, Verstärkern, Mischpulten etc. prägen ihr Klangbild grundlegend (8). Doch eben diese medientechnisch produzierte Spezifik der Stimme ist so selbstverständlich an die Figur Sinatra gekoppelt, dass sie als Surrogat offenbar ausreichte, um ihn 2001 posthum für den Grammy Award der Kategorie Best Pop Collaboration With Vocals zu nominieren.

Der Eigenklang (elektro-) akustischer Medien wird demgegenüber als performativer Effekt vor allem dann wirksam, wenn die Artefakte eines Mediums wahrgenommen werden [Miyazaki o. J.: o. S.]. Entscheidend ist dabei, dass es sich um eine performative Kategorie handelt, die ohne die konstitutiven Eigenschaften des Operativen nicht zustande kommen könnte. In diesem Fall führt das Medium sich selbst auf. (9) Eine solche Medienmusik scheint jedoch die Jurisdiktion einstweilen zu überfordern, denn im oben zitierten Urteil des Finanzhofs wird explizit festgelegt, dass "das bloße Abspielen eines Tonträgers kein Konzert" sei [UStG 1993 § 12 Abs. 2 Nr. 7a].

 

 

Das Abspielen eines Tonträgers als Aufführung

Werden jedoch mit John Cage Schallplatten nicht als bewegliche Konzertsäle, sondern als Schallplatten benutzt, entstehen neue Präsenzeffekte und Hörerfahrungen – auch und gerade durch bloßes Abspielen. Cages satirisches Stück Credo in US, bei dem erstmals Plattenspieler und Radio eingesetzt wurden, machte bereits 1942 diese performative Zweiklanglichkeit evident. Die Partitur sieht folgende Besetzung vor: ein Pianist und zwei Percussionisten, die Blechdosen, Gongs, Tomtoms und eine elektronische Klingel zu spielen haben, sowie einen vierten Performer, der einen Plattenspieler und/oder ein Radio bedienen soll. Verwenden die Aufführenden das Radio, ist laut Partitur auf tagespolitische Katastrophenmeldungen zu verzichten (10). Falls ein Plattenspieler gewählt werde, sind "Klassiker", etwa Aufnahmen von Dvorák, Beethoven, Sibelius oder Schostakovich zu Gehör zu bringen. Motiviert wurde diese Auswahl sicherlich weniger durch avantgardistischen Ikonoklasmus mit einem Fingerzeig auf massenmediale Verwertungszusammenhänge, als vielmehr aufgrund ihrer Geläufigkeit. Mit dieser Musikauswahl wird sichergestellt, dass der Schallplatte in ihrer Besonderheit als Speichermedium identifiziert wird und nicht etwa im Sinne des reduzierten Hörens innerhalb des musikalischen Zusammenhangs unerkannt bleibt. Somit kommt die phonographische Wiedergabe im Kontext der Instrumentalkomposition als medial induzierter Fremdkörper ins Bewusstsein, wird aber ebenso zum Material einer musikalischen Komposition erklärt. In dieser Perspektive wird die mediale Konstituierung deutlich, der jedes ästhetische Material immer schon unterliegt.

Dass performative Effekte technischer Medien nicht zwangsläufig das Ergebnis der Negation eines scheinbar konsensfähigen Mediengebrauchs sein müssen, sondern gleichermaßen durch die iterative Affirmation eines solchen Gebrauchs hervorgerufen werden können, zeigt auch Yuri Suzukis Prepared Turntable (2008). Dabei handelt es sich um einen Plattenspieler mit fünf Tonarmen, die sich jeweils in ihrer Wiedergabelautstärke regeln lassen. Jeder dieser Tonarme greift die Plattenrille an einer anderen Stelle ab. Damit implementiert die Hardware bereits das Mixing. Über die Tatsache, dass ein solches bloßes Abspielen der Schallplatte eine Aufführung ist, lässt sich kaum streiten. Ob auf die Eintrittsgelder für ein Konzert mit dem Prepared Turntable ein verminderter Steuersatz erhoben wird, muss wohl ein Sachverständiger entscheiden.

 

 

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Anmerkungen

(1) Diese Bemerkung spiegelt die in den 1920er Jahren aufkommende Debatte um Mechanische Musik. Das Donaueschinger Kammermusikfestival hatte 1926 den Schwerpunkt "Musik für mechanische Instrumente", bei dem zahlreiche Kompositionen für Selbstspielklaviere aufgeführt wurden. Auch Vorschläge, mittels Ritzschrift Klangkompositionen direkt auf einer Schallackplatte zu realisieren, waren 1923 von László Moholy-Nagy und 1925 von Hans Heinz Stuckenschmidt publiziert worden (Moholy-Nagy 1986; Stuckenschmidt 1976).
(2) Weiter heißt es: " Eine "Techno"-Veranstaltung kann ein Konzert i.S. des § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG 1993 sein." http://lexetius.com/2005,2664 (Zugriff 20.11.11) In einem Artikel in der Online Ausgabe der Zeitschrift De:Bug vom 6.10.2011 wird allerdings berichtet, dass das Finanzamt in Einzelfällen erneut 19 Prozent zugrunde lege, da Mitarbeiter bei einem Ortstermin in Berliner Clubs nicht die gewünschten Charakteristika eines Konzertes vorgefunden hätten. (Kinkel 2011: o. S.) Die Gründe sind rezeptionsästhetischer Art, es wird beispielsweise beanstandet, dass das Publikum dem DJ nicht zwangläufig zugewandt sei.
(3) Der letzte als DJ Turntable bekannt gewordene analoge Plattenspieler SL-1210 MK2 von Technics/Panasonic ging 2010 vom Band. Zur Entwicklung von Handlungsoptionen und künstlerischen Strategien, die an der spezifischen technischen Anordnung des CD Players entwickelt wurden. Siehe Straebel 2009 und Kelly 2009.
(4) Auch wenn die Time-Code Vinyls des Final Scratch Systems primär Daten speichern, so ist ihnen genau genommen der Charakter einer Schallplatte nicht abzusprechen. Wie alle Hardware verfügt auch diese Daten-Platte über eine spezifische Klanglichkeit. Der mechanisch eingepresste digitale Code wird als analoges Signal audifiziert, wenn es nicht mittels Scratch Amp decodiert, sondern über einen Audioverstärker wiedergegeben wird.
(5) Bezeichnenderweise versteht Krämer das Grammophon aufgrund seines Potentials zur Zeitachsenmanipulation aber nicht als Instrument. Siehe Krämer 1998: 84.
(6) Schafer definiert Schizophonia als "the splitting of sounds from their original contexts", verursacht durch "electroacoustic transmission and reproduction" (Schafer 1994: 88). Siehe dazu auch López, Franzisco. "Schizophonia vs l'objet sonore: soundscapes and artistic freedom". 1997. http://www.franciscolopez.net/schizo.html (Zugriff 20.11.11)
(7) Die akusmatikoi hörten Pythagoras Worte durch einen die Sicht verstellenden Vorhang hindurch.
(8) Dass die klangliche Spezifik der elektroakustischen (Re-)Produktionskette auch auf die Gesangstechnik zurückwirken kann, lässt sich exemplarisch am Phänomen des Croonings beoachten. Dabei handelt es sich um einen Vokalstil, für den die Verstärkung der Stimme durch Mikrophonierung unabkömmlich ist. Sinatra gilt als stilprägender Crooner.
(9) Vgl. dazu die Videodokumentation des Vortrags (incl. Diskussion), den Jochen Venus unter dem Titel „Resonanzen und Reflexionen. Zur Problematik einer Semiotik des Akustischen" auf der Siegener Tagung "Auditive Medienkulturen. Methoden einer interdisziplinären Klangwissenschaft" gehalten hat. http://auditive-medienkulturen.de/?p=667 (Zugriff 20.11.11)
(10) Die Komposition entstand mitten im zweiten Weltkrieg, der Kriegseintritt der USA erfolgte nach der Bombardierung von Pearl Harbour im Dezember 1941.

 


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Literatur

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Video
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