Komische Geräuschkomposition und visuelle Musik in Jacques Tatis Film PLAY TIME

 

Frieder Butzmann (Berlin)

 

 

 

"Mein ganzes Leben habe ich für den Ton gekämpft."[1]
Jacques Tati

 

Zum Filmton (vorweg)

Ton im narrativen dramatischen Lichtspiel soll die Vorgänge des Films akustisch glaubhaft abbilden oder musikalisch illustrieren. Wir erwarten zu hören, was wir im Bild sehen, oder wir erwarten zumindest das zu hören, was auch an die Ohren der Darsteller dringt, damit uns das Filmgeschehen glaubhaft und realistisch erscheint. Im Kinofilm wird also das als Geräusch bezeichnet, was den Vorgang im Bild akustisch ergänzt und dadurch den Realismus der Szene verstärkt.

Darum meinen manche Filmemacher: Das, was im Film Geräusch genannt wird, muss den Ereignissen und der gesamten Story hinterherrennen. Das Geräusch darf kein Eigenleben haben. Es muss sich dem Bild unterordnen. Das musikalische Artefakt im Film, sprich, die Filmmusik soll ein wenig darüber hinaus gehen und das zu Sehende kommentieren, verstärken oder abmildern, karikieren, auf die allgemeine Stimmung eingehen, die innerpsychische Situation der Handelnden wiedergeben, musikalische Hinweise auf Ort und Zeit geben, epische Akzente setzen oder einfach die Bilder integrieren.[2]

(Das ist 1966 die Situation des Filmtons unter der Dominanz Hollywoods, zwar schon durch die dem Realismus verpflichteten Gegenströmungen aus Europa in Frage gestellt, aber noch vor dem allgemeinen Aufbruch von 1968 und der "Emanzipation der Geräusche" [Martin 1998: 26] in der Filmmusik der 8oer.)

 

Geräuschdefinitionen (vorweg)

In der Physik wird ein Klangereignis dann Geräusch genannt, wenn sein Amplitudendiagramm (seine Schwingungsform) keinen periodischen Klangverlauf aufweist (z. B. das Klappern eines Schlüsselbundes). In der Musik gibt es die Schlag- und Geräuschinstrumente, die dieser Definition genügen. Aber sie (die Musik) spricht von Instrumenten, die keine feste Tonhöhe haben und von sogenannten nichtstationären Klängen, also Klängen, die sich in der Zeit entwickeln, wie z. B. ein mehrsilbiger gesprochener Wortklang oder das Anlassen eines Autos, eine aufheulende Motorsäge etc. Es gesellen sich also die Klänge der Umwelt hinzu; sozusagen direkt aus dem Leben, aus der Umwelt per Mikrofon auf Tonträger gespeichert und in die Musik einbezogen.

Im Alltag ist es ein wenig anders: Das Geräusch ist etwas, das stört, gerade im Moment eigentlich nicht zur Situation passt. Es ist etwas, das an unsere Ohren dringt, wir wissen nicht, was es ausgesandt hat und fragen uns: "Was war das für ein Geräusch?" – – Aber dann erkennen wir (unter Umständen) die (Geräusch-)Quelle und wissen, dass es sich um das Platzen eines Autoreifens gehandelt hat. Und wir sagen: "Das gerade war kein Geräusch, sondern der Ton, den ein Autoreifen macht, wenn er platzt." – Informationstheoretisch also ist das Geräusch ein Signal, dessen Quelle (zunächst) nicht zu identifizieren ist.

 

Die Mischung

Als Tati 1967 den Film Play Time schneidet, sieht die alltägliche Arbeit am Schneidetisch (prinzipiell) so aus, dass dem Cutter fünf Bänder vorliegen: Das Zelluloid-Band mit dem Film, dazu ein perforiertes Tonband in den Ausmaßen bzw. den Normen eines 16mm-Films, auf dem die Dialoge aufgenommen sind. Dazu ein drittes Band mit der Musik, eines mit der Atmo(-sphäre) und ein fünftes mit den Geräuschen. – Dies ist eine übliche Anordnung, um den Überblick zu wahren und um später bei der Mischung Übersicht halten zu können. Die Mischung sieht (im Allgemeinen) zumeist so aus, dass Sprache am lautesten ausgesteuert wird, die Atmo, Geräusche und Musik leiser, je nach Intensität im Bild. Gewöhnlich wurden die akustischen Signale, d.h. die Atmo, die Geräusche, die Dialoge am Drehort von einem Toningenieur auf Band aufgezeichnet.

Aber Tati dreht Play Time ohne Tonaufnahme. So wie er die Darsteller und ihre Handlungen für das weite Panorama des 70-mm-Formats drapiert, in der Raumtiefe staffelt, so nuanciert er auch alle akustischen Signale. Im Schnittstudio werden alle Szenen nachsynchronisiert.

Tati hat für Play Time das 70mm-Format gewählt, weil es neben der visuellen Schärfe auch tontechnische Möglichkeiten eröffnet. In den späten 60ern garantierte dieses Format, dass die Vorführkopie mit sechs Magnettonspuren ausgestattet ist. Der Magnetton hat einen besseren Frequenzgang und einen besseren Abstand von Signal zu Grundrauschen, als der damals übliche Lichtton; vor allem in den oberen Bändern. Durch den verbesserten Frequenzgang werden die akustischen Signale getreuer abgebildet, vor allem ist der Ort des Signals im Stereopanorama und in der Tiefe des Raumes besser darstellbar bzw. vom Hörer (wegen hörphysiologischer Gegebenheiten) besser zu orten. Zudem erlauben es die fünf genutzten Kanäle,[3] den Ton an jedem Ort entlang der vollen Leinwandbreite genau zu platzieren.

Diese technischen Voraussetzungen eröffneten Tati ein Spiel mit der Divergenz von Auge und Ohr. Es gibt eine Augenmischung (die Staffelung der Ereignisse in der Raumtiefe beim Drehen der Szenen + die zeitliche Abfolge der Szenen, also der Schnitt) und es gibt eine Ohrenmischung, die das Bild differenziert, den visuellen Fokus ablenkt. Das heißt: Das Ohr hört gleichzeitig in alle Richtungen und kann aus allen Ecken angerufen werden. Das Auge verweilt momentan auf einem ausgewählten Punkt im Panorama, fokussiert sich auf einen Vorgang der oftmals gleichzeitig ablaufenden Handlungseinheiten. Das stets erreichbare Ohr ist dann Mittel zum Zweck, die Aufmerksamkeit des Seherhörers von der Leinwand herab über einen genügend starken, sprich, lauten Impuls fernzusteuern. Der Kopf des Seherhörers wird durch ein lauteres Geräusch plötzlich auf einen anderen Vorgang gelenkt. Die räumliche Anordnung der akustischen Ereignisse (Geräusche) ersetzt so zu einem großen Teil die bei Tati fehlenden Kamerafahrten. Die Kopfdrehungen sind unterschwellige geheime Kamerafahrten. Zum Beispiel „[...] wird Tati (bzw. M. Hulot im Film Play Time) erst sichtbar, als er weit hinten im Bild seinen Regenschirm fallen läßt, das Geräusch wird überdimensional verstärkt, und auf einmal merkt man überhaupt erst, daß er da ist."[4]

 

Geräuschfolgen, 1. Satz

In den ersten (nur) 120 Sekunden nach dem Vorspann sind neben Gesprächsfetzen, Babygeschrei und einer sehr leisen Flughafenatmo zu hören:

- Zwei Nonnen im Gleichschritt mit harten Sohlen (Holz?).
- Schritte eines Hilfskochs mit scheppernden Flaschen und Tellern auf einem vierrädrigen Wagen.
- In der Ferne kurze, schnelle, suchende Schritte eines Herrn mit Bowler Hat.
- Kaum hörbare Schritte eines Reinigungsbeauftragten auf leisen Sohlen (Gesundheitsschuhe?).
- Der wendige und stockende Stechschritt eines Generals mit Säbel, der klanglich und im Tempo durch die Stöckelschuhschritte einer powackelnden Krankenschwester, die ein Kind trägt, aufgegriffen wird.
- Eine durch ihren engen Rock am Schnellschritt gehinderten Frau, die jemanden hektisch zu suchen scheint.
- Schritte einer Frau mit langsamem Stöckelschuhschritt, die einen Kinderwagen schiebt.
- Schritte eines Mannes mit Gummischuhen.
- Schritte eines Mannes, der einen Instrumentenkoffer trägt und am Toiletteneingang
- einen beschnauzten Turbanträger trifft, dessen Gang das typische Geräusch von Klapperlatschen erzeugt.
- Schritte einer Kleingruppe bestehend aus zwei Damen.
- Schritte eines Blumenverkäufers, der Trauerblumen anliefert.
- Die fast unhörbaren Sohlen eines Geistlichen.
- Und Schritte eines Doppelgängers von M. Hulot.

Unterbrochen wird die Schrittkomposition endlich durch lasziv vorgetragene Lautsprecherdurchsagen, ein vorbeifahrendes Flugzeug und einen Flughafengong.

Alle Schritte durchqueren nicht nur den Raum, sondern dimensionieren ihn durch die Hallfahne, die jede einzelne Bodenberührung nach sich zieht. Diese Art der Dimensionierung des Raumes durch akustische Mittel hat Tati offensichtlich ganz bewusst eingesetzt. Hört man sich den Soundtrack mit Kopfhörer an, dann wird klar, wie er unter Zuhilfenahme der technischen Möglichkeiten der Zeit den verschiedenen Schritten jeweils unterschiedliche Hallsorten mitgegeben hat. Die Lautsprecherdurchsagen bekommen gar ein raumgreifendes, kurzes Echo angehängt.

Wenn Tati sagt: "Es ist meine Aufgabe, jede Szene noch einmal zu drehen, allerdings nicht in Bildern, sondern in Tönen" [Maddock 1993: 158], dann wird dies hier besonders deutlich. So wie im Bild (oder auch in der Beschreibung der obigen Liste) eine Variation typischer Charaktere, obskurer Typen, lustiger Kerle und seltsamer fremder Leute zu erkennen ist, so hört man klangliche Variationen schneller, langsamer, trippelnder, tänzelnder, marschierender, stolzierender Schritte.

Im narrativen Film der Zeit werden solch beiläufige Geräusche wie Gehen oder hintergründige Flughafenansagen eher vernachlässigt. Ein Schritt ist ja nur das akustische Anhängsel eines Vorgangs, dem durch auditive Unterstreichung eine zu große Bedeutung zukäme. Also wird es einfach weggelassen.

Aber in Tatis Schrittsymphonie haben viele Handelnde des Films (ohne wirklichen Hauptdarsteller) ihren im wörtlichen Sinne ersten Auftritt; jeder Schritt ein kleines Signal: "Hier bin ich!"

 

Immer wieder wird im Zusammenhang mit Tatis Tonarbeit von einer 'Musique Concrète' gesprochen. Und sicherlich legt der virtuose Umgang mit den Geräuschen des Alltags (den Klangobjekten der Musique Concrète) diese Sicht nahe: Die 1957 von Pierre Schaeffer[5] formulierten Postulate[6] einer konkreten Musik gehen von einem Vorrang des Ohres aus. (Als Gegensatz dazu, dass sich Musik erst durch das Instrument traditioneller Analysetechniken der Musikwissenschaft eindeutig als solche zu erkennen gibt. Eine Erkenntnis, der zu ihrer Zeit – heute kaum nachvollziehbar – noch etwas Revolutionäres anhaftete.) Die Aufforderung, die Umwelt musikanalytisch zu hören, ist eine Idee der Musique Concrète, der Tati ganz offensichtlich gerne nachkommt. Das, was die Musique Concrète die Realisation neuer Klangobjekte nennt, bedeutet auch für Tati zunächst nur die bewusste Aufnahme von akustischen Signalen auf einen Tonträger. Um all die vielen Geräusche von Play Time (im Nachhinein) aufzunehmen, müssen lange Aufnahmesessions notwendig geworden sein.

Die weitere technische Verarbeitung von Geräuschen (bis in die 60er Jahre waren das vor allem tonbandtechnische Manipulationen wie die Beschleunigung, Verlangsamung, Beschneidung oder Umkehrung des Bandes) führt zur Realisation musikalischer Klangobjekte. Durch die Manipulation des Klangs soll zwar seine Herkunft nicht per se verleugnet werden, doch seine Abstraktion bis zur Unkenntlichkeit, bis zu einem autonomen Klang ist ein musikästhetisches Vorrecht.

 

Von diesem Verhältnis zum Geräusch im Alltag distanziert sich Tati durch die Art, wie er den Ton einsetzt. Tatis kompositorischer Ansatz ist ein anderer. Es existieren keine abstrakten Geräusche. Jeder Ton, jeder Sprachfetzen, jedes Rauschen oder Brummen, Pfeifen und auch jede Musik ist zuzuordnen und spiegelt, kommentiert, interpretiert, relativiert, dimensioniert die Personen, die Nonnen, den Hilfskoch, den Herrn mit Bowler Hat, den Reinigungsbeauftragten, den General, die Krankenschwester usw.

Tatis Welt ist der komische Klang. Das, was gehört wird, verdoppelt nicht das Filmbild, sondern komponiert klangliche Bedeutungen zu den visuellen Ereignissen. Es sind komische Klänge im Sinne Jean Pauls dialektischer Definition vom Umgekehrt Erhabenen [Paul 1963]. Es ist keine Musik, deren Einzeltöne sich zu einem autonomen Klanggespinst zusammensetzen, sondern jeder Klang ist in sich ein Bedeutungsträger, der erst durch einen Bezug zum Bild vollendet wird. Jede Klangfolge (wie z. B. eine Schrittfolge) ist eine kurze Komposition visueller Musik. Visuelle Musik, weil das Bild den Ton und der Ton das Bild vervollständigen. Und erst so entstehen komische Klänge.

Komische Klänge[7] sind nicht abstrakt, sondern beziehen sich auf einen Gegenstand oder Vorgang. Die Schrittouvertüre des Films setzt sich aus komischen sympathietragenden Peinlichkeiten zusammen. Durch (den musikalischen Parameter) hohe Lautstärke ziehen die Erzeuger der jeweils solistisch vorgetragenen Schrittgeräusche in der verhallenden Architektur übergroße Aufmerksamkeit auf sich. Die Vortragenden sind klanglich zumeist eine Karikatur ihrer selbst. Sie sind durch Amt (General, Geistlicher), Aufgabe (Musiker mit Instrument auf dem Weg zur Probe), Beruf (Krankenschwester), aber auch Exotik (Turbanträger) erhabene Personen. Und diese sichtbaren Erscheinungen stehen im Widerspruch bzw. sind erst die Voraussetzungen für das Misslingen ihrer hörbaren akustischen Erscheinung. Die Nonnen trappeln geschwind und fleißig, der recht kleinwüchsige Reinigungsbeauftragte schleicht sich träge lautlos durch die Halle, der General beherrscht die Szene durch schnellen und bestimmten Auftritt der Sohlen, die Krankenschwester bleibt unnahbar, weil sie den militärischen Schritt aufnimmt. Alle sind akustisch beinaktiv, alle relativieren ihre Erhabenheit durch ihre eigene Erscheinung, aber auch ihre übertriebene akustische Auffälligkeit.

Die Musik des Films besteht also aus komischen Klängen, die sich im weiteren Verlauf zu einer Geräuschorgie ausweiten. So wie alle Musik visuell ihren Erzeuger bzw. ihr erzeugendes Instrumentarium assoziiert, so bezieht das Alltagsgeräusch erst recht sein erzeugendes Objekt mit ein. Und wenn man Cages Behauptung, der Klang sei die Seele eines Gegenstandes, ernst nimmt, dann beseelt Tati die Welt mit Tönen, die zu ihren Körpern in einem spannungsreichen, komisch verwunderlichen Verhältnis stehen.

Am Ende ergibt sich dann tatsächlich eine Vielfalt aus Klanglichkeiten, deren Abfolge in der Überlagerung und Verdichtung kompositorischer Durchorganisation folgt. Dies wird noch deutlicher, wenn die Lautsphäre Flughafen verlassen wird, Tati und der Seherhörer ins Bürogebäude eintreten und die 'Lautsphärenkomposition'[8] in einen neuen Satz eintritt.

 

Geräuschfolgen, 2. Satz

Inhaltlich, aber auch klanglich ändert sich der Film, als Hulot an der ersten Station seines Tages ankommt. Formal ist es der 2. Satz. In der Eingangshalle des Gebäudes herrscht eine technische Brummstimmung. Physikalisch bezeichnet ist ihre Obertonstruktur ungeordnet, eine Klangstruktur wie sie von Glocken oder anderen metallischen Klangkörpern in unseren Ohren klingt. Dies verstärkt nicht nur den glas-beton-metallischen Eindruck der Architektur, sondern sie scheint von ihr abgestrahlt zu werden. Die Atmo ändert sich immer wieder sprunghaft, öffnet den Raum durch eine reichere Ansammlung von Obertönen. Der Raum klingt dadurch vergrößert. Und er wird durch eine dumpfere (weil an Obertönen ärmere) Klangstruktur akustisch kleiner und enger.

Die Geräusche des Kommunikationspults, mit dem der Pförtner Meldung zu machen versucht, sind ein Sounddesign, das in den ca. 10 davor liegenden Jahren für den Weltraum- und Science-Fiction-Film entwickelt wurde. Es ähnelt den Videospielgeräuschen der 1980er und 1990er Jahre. Die Klänge[9] sind komisch, weil sie auf der Erde stattfinden und von keinem Helden, sondern von einem überforderten Stumpen rauchenden, mickrigen Männchen erzeugt werden.

Komisch sind Klänge, die in eine neue Umgebung gestellt werden. Beispielsweise, wenn die lose Folge von Alltagsgeräuschen zu einem kurzen rhythmischen Stück, einer Klangcollage wird, die ein amerikanischer Geschäftsmann[10] erzeugt. Als der Mann in bestechender Akkuratesse den Reißverschluss seiner Kollegmappe öffnet, seine Finger einzeln lang zieht, die Bügelfalten glatt streicht, Staubfusseln vom Hosenbein entfernt usw. fügen sich die losen Ereignisse in ein absurdes Metrum, das das akribische Styling seiner äußeren Erscheinung tonbildnerisch perfekt widerspiegelt. Hinzu kommt, dass nicht nur die Rhythmisierung der Geräusche, sondern auch ihre tonaufnahmetechnische Klarheit den akustischen Eindruck überdimensionieren.

Beim weiteren Irrgang durch Verkaufs- bzw. Messehallen des Gebäudes variiert Tati die Lautsphäre. Es ist aber keine realitätsstiftende Atmo, wie man sie von anderen Filmkunstwerken kennt, sondern ein Spiel zwischen Klang und Bild.

Zunächst verdichtet sich die Akustik. Ächzende moderne Ledersessel, Schreibmaschinengeräusche, weitere Schritte, Gesprächsfetzen einer Telefonistin, allgemeines Gemurmel etc. verdichten die Büroatmosphäre.

Ein erster musikalisch komischer Höhepunkt findet in dem Büro statt, das als Motto Slam your Doors in Golden Silence an die Wand geheftet trägt. Der Begriff slam (laut Langenscheidt Wörterbuch Tür, Deckel zuschlagen, zuknallen oder etwas auf den Tisch etc. knallen oder jemanden schlagen) steht schon durch seine eigene Bedeutung im Gegensatz zum zweiten Teil des Satzes Golden Silence. Noch komischer wird die Szene durch den lautstarken Vortrag des Verkäufers, der die Türe tatsächlich in aggressiver Manier heftig zuknallt, was aber natürlich nicht zu hören ist, denn es sind ja Doors in Golden Silence.

Und kurz vorher taucht plötzlich etwas auf, das der Hörer im Gegensatz zur bisherigen kontrolliert zurückhaltenden Eskalation der Geräusche sofort geneigt ist, als Musik zu bezeichnen: die Komposition Musique Strand. Obwohl Strand sich hier auf den Namen des Bürogebäudes bezieht, liegt die flapsig anmutende Übersetzung 'Strandmusik' sehr nahe. Denn das Stücklein von Francis Lemarque[11] ist ein leichtes Easy listening mit elektrischer Kaufhausorgel, sedierendem Schlagzeug und zurückhaltend exotisierender Bläsergruppe. Die Hawai-Gitarre taucht auf, als im Bild Müllkörbe in Gestalt von griechischen Säulenstümpfen angepriesen werden. Die Musik vom atmosphärischen Charakter bis zum Instrumentarium steht im Gegensatz zum Bildinhalt. Und dennoch ist sie nicht vom Bild entkoppelt, im Gegenteil, sie verzerrt und ergänzt es zu einer komischen, weil schief beleuchtenden Wirkung.

Schon im Vorspann ist vor einem wunderschönen blauen Himmel ein Stück namens Thème Africain[12] zu hören. Es ist ein Stück im Stil eines Gene Krupa, der sich in den 1930er Jahren in Benny Goodmans Swing Big Band als erster Schlagzeuger durch lange exzessive Soli einen Namen machte. Passend wäre das Blau des Himmels hinter dieser rhythmischen Orgie, die offensichtlich afrikanische Trommelinstrumente einsetzt, als den Himmel über einem Touristenafrika zu interpretieren. Aber die Tom-, Drum- und Snare-Kaskaden mit kurzen Orgeleinsätzen lassen wohl eher den Krach der Stadt vorausahnen, und die Ruhe des schönen Himmels erscheint als eine seltsam komische, beinahe künstliche Darstellung.

Michel Chion schreibt 2003 zu der Musik an dieser Stelle (und meint generell den Einsatz von Musik bei Tati): "You are listening to radio-cosmos […] with radio-cosmos we are tuned to the universe [...] music is never imposed on you: Neither by the characters, nor by the director" [Chion 2003: 150]. Chion sieht also die Musik bei Tati stets als den Radio-Hintergrund des kosmischen Rauschens, das nur die Szenerie für verschiedene Auftritte liefert. Die musikalische Beiläufigkeit und Unaufdringlichkeit, die zwar den Raum ausfüllt, illustriert, zuweilen karikiert, aber nie die Personen kommentiert, lässt die Musik zu einer wichtigen, liebevoll gestalteten Kulisse werden. Tatis eigentliche Filmmusik bleiben aber die Geräusche!

Ein weiteres Element der akustisch musikalischen Komik ist das nebeneinander verschiedener Sprachen. An dieser Stelle ist nochmals auf die immer wieder zitierte Musique Concrète im Zusammenhang mit Tatis Vertonungen zu kommen. Pierre Schaeffer bestimmt die verschiedenen

Klangtypen [...] als Grundkonstellationen der Hörwahrnehmung [...] (1) im Bereich der Musik die Klänge, die um ihrer selbst willen gehört werden [...] (2) die Umweltgeräusche (deren Klänge als Verweise auf reale Vorgänge wahrgenommen werden) […] (3) Sprache (deren Klänge als Übermittler von Bedeutungen aufgefaßt werden).[13]

Dies ist an dieser Stelle erwähnenswert, weil Tati mit diesen Ebenen spielt. In der Behandlung der Sprache ist dies gut zu beobachten. In den graduellen Übergängen zwischen den Polen unsinniger Sprachklang einerseits und bedeutungstragender Sprachklang andererseits wird klar, dass sich unter die Sprache als semantischem Träger auch eine Freude/Lust am Klang, teilweise sogar an der Unverständlichkeit und dem Misslingen des Sprechaktes mischt.

Alle mündlichen Äußerungen sind bekannten Sprachen zuzuordnen, dennoch sind nur manche verständlich. Das Gemurmelte hat nur einen Klang, aber keine Information, die hochgestimmten, erwartungsvollen englischen Sprachlaute einer Damengruppe auf dem Weg zum Hotel sind ein vielstimmiger Chor. Und die deutsch-englischen, grammatikalisch ungeformten, exaltierten, floskelhaften Wortfolgen des Türenverkäufers sind ein halbverständliches Gestammel, das nicht unähnlich einer Arie sich zum Höhepunkt steigert, um im lautlosen Türenknall zu enden. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen Klängen um ihrer selbst willen und Klängen als Übermittler von Bedeutungen.

Nie vergessen sollte man das andauernde Grundgeräusch im Haus. Technische Brummtöne und menschliche Geschäftigkeit werden von kurzen darüber liegenden akustischen Ereignissen und Sprachfetzen überlagert. Zwischen bedeutungstragend und abstrakt, zwischen Bildgeräusch und Musik bewegen sich alle Töne des Films. So auch die immer wieder auftauchenden akustischen Warnsignale und technischen Piepser. Sie sind zumeist für die Akteure semiotisch nutzlos, wirken für den Seherhörer aber atmosphärisch und musikalisch.[14]

 

 

Zeichnet man ein Zeit-Amplituden-Diagramm des Filmtons von Play Time über die gesamten 120 Minuten, so ist daraus nichts an Inhaltlichem abzulesen. Dennoch fällt eine klare Gliederung auf. Gewiss wäre auch eine differenziertere Rasterung der akustischen Ereignisdichte möglich, doch die drei Hauptorte (Flughafenhalle/Strand Building/Restaurant Royal Garden) und ein weiterer wichtiger Ort, das Apartment-Haus, in dem Tati Gast der Familie ist, legen mir (subjektiv, spekulativ) eine Einteilung in drei Sätze plus einem Intermezzo nahe.
Deutlich ist zu erkennen, wie bei ca. 15 Min. (als Hulot zum Strand Building kommt) die Ereignisdichte plötzlich abnimmt, um sich langsam wieder aufzubauen, bis bei ca. 48 Min. das Intermezzo im Apartmenthaus die Klangdichte reduziert, um sich im 3. Satz immer stärker zu verdichten. Die Einschnitte in diesem 3. Satz sind bei ca. 78 Min. der Wechsel von Samba zu Bebop Combo, bei ca. 99 Min. die Übernahme des Klaviers durch Barbara. Der Einschnitt nach ca. 107 Min. markiert das Ende der Party im Royal Garden bzw. das Hinaustreten der Gäste nach durchzechter Nacht. Diesen letzten Abschnitt kann man als Abklingen des 3. Satzes sehen oder als eine kurze Koda interpretieren.

 

Geräuschfolgen, Intermezzo

Bei Filmlänge ca. 47:50 bis 55:00 Minuten (mehr als sieben Minuten!) schaltet Tati, wie es hin und wieder im klassischen Sonatensatz geschieht, in die musikalische Abfolge der Lautsphären ein Intermezzo ein. Vor bewohnten Apartments mit Straßenschaufenstern (zumeist sind nur zwei nebeneinander liegende zu sehen) fließt gemächlich das Geräusch des Straßenverkehrs, unterbrochen nur von Schritten der Fußgänger und einmal von einem Martinshorn. Wir versuchen unbewusst und zwanghaft Bild und Ton zu verknüpfen, d.h. in Übereinstimmung zu bringen. Die Geräusche im Glaskäfig sind nicht zu hören und gewinnen paradoxerweise durch ihre Absenz eine irreale Wirkung, weil die Geräusche von den Vorgängen, die sie erzeugt haben, entkoppelt wurden. Das Zuschlagen der Haustür, der gestikulierende Wortschwall bei der Vorstellung der Familie, das blecherne Quietschen eines mechanischen Zigarettenspenders, das Anschalten und die Geräusche aus dem Fernsehapparat und das (im Rhythmusstück des amerikanischen Geschäftmannes) bereits gehörte Ächzen des modernen Ledersessels erklingen beim Seherhörer wie ein Echo der eigenen Vorstellung. Vielleicht ohne es zu ahnen, hat Tati hier einen Beitrag zur mit John Cage in den 50ern einsetzenden, mit den Arbeiten im Umkreis der sogenannten "akustischen Hörökologie"[15] vorangetriebenen und in den 90ern durch den reduktionistischen Charakter verschiedener Klanginstallationen fortgeführten Diskussion der Stille einen filmischen Beitrag geliefert. Aber es ist eine ganz andere, auf Gegenstände bezogene, visuelle Stille. Hier ist Stille als ein Schweigen der Dinge zum Zwecke ihrer merkwürdigen (komischen) Verfremdung zu erleben. Eine Stille, die sich ganz unweihevoll, nicht zugunsten einer Lautstärke dezent zurückzieht, sondern voll und laut im Kopfe tönt. Die Geräusche sind gerade durch ihr Fehlen deutlich gegenwärtig. (Wenn das nicht komisch ist!)

 

Geräuschfolgen 3. Satz

Ziemlich genau zur Hälfte des Filmes beginnt der furiose letzte Satz des Film/Musik-Werks. Wieder verdichtet sich die Geräuschkulisse, die keine Kulisse, sondern die vielschichtige Lautsphäre eines Restaurants ist, das gerade eröffnet wird und in dem die Handwerker noch hämmern, bohren und miteinander diskutieren. Wie in der Stunde zuvor gesellen sich zu den Arbeitsgeräuschen Schritte mit Sprachfetzen etc.

Bereits nach 9 Minuten setzt eine zur Sanftheit gezähmte Sambakulisse ein. Eine Ethnosoftband produziert eine Hintergrundmusik, die bis kurz vor Filmende kaum mehr aussetzt. Allerdings wird die Band als Steigerung von einer Bebop-Combo abgelöst, die die Hintergrundmusik mit hektischen Trommelklängen aufheizt. Als die Protagonistin Barbara das Piano übernimmt, gehören die letzten Stunden der Party einem Mix aus bekannten Chansonmelodien, die im Stile klassisch romantisch angehauchter Barmusik vorgetragen werden.

Dieser 3. Satz hat Lust an der komischen Performance aus Alltagsgeräuschen. Dem Restaurantinhaber klebt ein Stück Papier am Fuß, das bei jedem Schritt flattert, der Sahnespender produziert Quetschgeräusche, die an blubberndes Magengrummeln erinnern, das Aufsetzen einer Kiste auf den Boden, in der ein Sägeblatt liegt, erzeugt (recht schön) den typischen Klang einer singenden Säge usw. Hinzu kommt das, was fast immer zur komischen Musikperformance gehört: Menschliche Körper, die Merkwürdiges ans Ohr dringen lassen. Der laute Knall, wenn der Empfangschef beim Verbeugen mit der Hand an eine Säule schlägt ist ein Running Gag, die Kellner würzen und garnieren mit lautstarkem Reiben und Schaben, die Pendeltür vor der Küche knallt an den Kopf des Kellners, die Glastür am Eingang muss mehrmals als Kopfschlagzeug herhalten, bis sie durch einen unbeabsichtigten, aber finalen Kopfstoß durch M. Hulot höchstpersönlich zersplittert. Und als akustischer Höhepunkt wieder etwas, das man gar nicht hört: Bei der Kleiderabgabe an der Garderobe schwebt eine Frau. Durch den langen Rock sind ihre Füße nicht zu sehen, ihre Bewegung suggeriert ein Fortkommen auf Rollen. Es irritiert nicht nur die Gleichmäßigkeit der Bewegung, sondern auch das Fehlen jeglichen Geräuschs von Schritten oder Räderquietschen. (Obwohl der Film ja sonst nicht mit Geräuschen geizt!)

Dennoch wird in diesem letzten Filmteil musikalisch akustisch das eingelöst, was man von der modernen Welt erwartet. Lautstärke geformt aus dem Durcheinander einer hektischen Betriebsamkeit. Die Musik ist zu laut, die Maschinen summen vor sich hin, die Demolierung der Inneneinrichtung lässt den Geräuschpegel bruitistisch ansteigen. Am Ende verlängert Tati die "Kommunikations-, Konsum- und Verwaltungsmoderne" [Engell 2003] zu einer "Spaßmoderne"[16] aus "guter Laune, coolen Drinks, hohem Geräuschpegel"[17].

Und der am wenigsten erwartete, weil klischeehaft natürliche Moment am hellen Morgen nach der Eröffnungsparty ist der Hahnenschrei! Wenn man will, kann man hierin eine Kritik der Moderne hineininterpretieren, wie sie im Zusammenhang mit Tatis Film Play Time stets als eine grundlegende Motivation angenommen wird. Chion schreibt zu dieser Stelle im Film: " [...] a rooster, the only animal to have escaped the slaughterhouse, crows absurdly at dawn" [Chion 2003: 33]. Zumindest wirkt der Schrei als eine komische, neben den Geräuschen der erwachenden Großstadt leicht verwirrende akustische Umkehrung der trunkenen Verschlafenheit nach durchzechter Nacht.

Und zum Schluss ein geschäftiges Potpourri aus filmtypischen, weil die Szenen mit Land und Leuten untermalenden Illustrationsmusiken. Plötzlich, kurz vor Ende des Films, ist Filmmusik zu hören!! Der morgendliche Musettewalzer von einem Akkordeon intoniert, ist die Musik, auf die man als Untermalung zu einem französischen Stadtidyll schon zwei Stunden lang gewartet hat.

Die Schlussszene, das Karussell aus sich stauenden Autos, wird mit der passenden Musik versehen und zwar mit einer durch Geigen unterstützten Jahrmarktsorgel. Für ein Karussell die einzig richtige Musik, aber für einen Autostau irgendwie komisch.

 

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Zuerst veröffentlicht in: Glasmaier, Michael (Hg.). "Play Time" – Film interdisziplinär: ein Film und acht Perspektiven. Münster (LIT) 2005: 40-53.

 


[1] Maddock 1993, 159.
[2] Systematisch Genaueres zur Filmmusikdramaturgie und dem verwendeten Begriffsinventar in Schneider 1986, 87-104.
[3] Tati nutzte nur fünf Kanäle, weil die Lautsprecher des sechsten Kanals zumeist als sogenannte Effektkanäle im Rücken des Kinopublikums platziert waren. Wegen dieser Konstellation aus 5 plus 1 Kanälen gilt das sogenannte Stereo-Surround-Format des 70-mm-Films als Vorläufer des heute auch im Heimkino verwendeten 5.1-Kanal-Surroundformats.
[4] www.klangmuseum.de/archive.html.
[5] Schaeffer ist mit dem Begriff Musique Concrète untrennbar verbunden. Die erste radiophone Ausstrahlung von Pierre Schaeffers Etudes de bruits am 5.10.1948 wird gerne als Geburtsstunde der Musique Concrète bezeichnet. Auch der Begriff Musique Concrète geht auf Schaeffer zurück.
[6] www.kgw.tu-berlin.de/Studio/Motte-Vorwort.html .
[7] Mehr und Ausführlicheres zur Idee der Komischen Musik unter http://www.friederbutzmann.de/komu.html
[8] Ich verwende diesen Begriff hier als Abgrenzung zu dem wohl gebräuchlicheren Begriff Soundscape. Dieser geht in seiner ursprünglichen Ausformung durch den kanadischen Komponisten Murray Schafer von einer (ursprünglich) ortsbezogenen, vorgefundenen Geräuschwelt aus und betont deren ästhetisch klangliche Qualitäten. Tati hingegen gestaltet diese Geräuschwelt nach filmnarrativen Aspekten gegenstands- und situationsbezogen.
[9] Diese wurden 1967 vermutlich mit den ersten, damals erhältlichen spannungsgesteuerten Synthesizern erzeugt.
[11] Francis Lemarque war ein Komponist und Textdichter, der im Umkreis des Nouvelle Chanson für Yves Montand und Michel Legrand komponiert bzw. getextet hat.
[14] Die Musique Concrète geht erst in einer ihrer Weiterentwicklungen durch Luc Ferrarie in den 60er Jahren mit der von ihm so genannten Anekdotischen Musik ähnliche Wege zwischen Klang und Bedeutung. Tati ist dieser Verwendung von Geräuschen näher als der durch Klangmanipulation abstrahierenden Musique Concrète.
[15] Mehr zu diesem Begriff in Wrightson 2000.
[16] Diesen Begriff konnte ich im Internet bei Google nicht finden, also stammt er von mir.
[17] Antwort der Initiatoren des Karibiksommers in Frankfurt auf die Frage, was sie denn im verregneten Juni 2004 ihren Gästen zu bieten hätten, in der Sendung Wetterschau, ARD vom 15.6.2004, 9:55 Uhr.

 

Literatur:
Chion, Michel. The Films of Jacques Tati. Toronto 2003.
Engell, Lorenz. Skript zum Seminar Filme und Sachen. Das Gesicht der Dinge und die Metaphysik des Dekors. Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2003. Seminar für Filmwissenschaft WS 2003/2004.
Maddock, Brent. Die Filme von Jacques Tati. München 1993.
Martin, Jean. "Von Clair zu Cameron – Die Emanzipation der Geräusche im Film". In: Evangelischer Pressedienst. Heft Juli 1998: 26-33.
Paul, Jean. Vorschule der Ästhetik. In: Norbert Miller (Hg.). Werke Bd. 5. München 1963.
Schneider, Norbert Jürgen. Handbuch der Filmmusik. Bd. 1: Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film. München 1986.
Wrightson, Kendall. An Introduction to Acoustic Ecology. In: Soundscape 1,1. Jahr 2000.

Websites: