Weiße Bänke, schwarze Wasser
Zur Biophonie der Greifswalder Oie
Text & Aufnahmen von Patrick Franke (Leipzig)
(Patrick Franke, zit. nach: www.singwarte.info/About-this-blog.phtml)
Turbulenzen auf der Greifswalder Oie
Die 1.550m lange und 570m breite, Usedom nordöstlich vorgelagerte Insel Greifswalder Oie steht zweimal im Jahr über Monate hinweg unter dem Einfluss heim- bzw. wegziehender Vögel. Während es dabei zu verschiedensten Formen von Vogelzug kommen kann, bleibt die Funktion der Insel gleich. Sie dient Zugvögeln als willkommener Ort, um auf ihren entbehrungsreichen Wanderungen die Energiereserven wieder aufzufüllen, zu rasten und Nahrung aufzunehmen. Das war womöglich seit "jeher" so.
Unterschiedliche zum Teil sehr kleine Biotope sowie Bebauungen, die menschliche Nutzung über Jahre hinterlassen hat, sind Knoten, an denen Vergangenheit und Gegenwart durch Handlung zusammenlaufen.
Zwei Topographien des Handelns liegen hier dicht beieinander, vermischen sich mitunter auf einer horizontalen Ebene oder sind vertikal aufeinander geschichtet: Diskontinuität und Kontinuität - ein großer scheinbar immerwährender Zyklus und das Aufblitzen von menschlichen Handlungen für - im Verhältnis zur Entwicklung des Vogelzuges - kurze Zeiträume.
Beide Ebenen haben sich selten wirklich verbunden. Abgesehen von der Vogelzugforschung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre lediglich das Ausbeuten der anwesenden Vogelschwärme als Nahrungsquelle, z.B. durch das Aufsammeln verendeter Vögel als unmittelbarer Punkt des Kurzschließens zu nennen.
Durch Landwirtschaft, vor allem die Beweidung der Insel seit dem 13. Jh. wurde ihre Oberfläche stark verändert. Aber menschliche Aktivitäten auf der Insel haben sich darin nicht erschöpft.
Die Überreste eines Seemannsheims sind mit Mühe noch heute zu finden. Im so genannten Inselhof kehrten ebenfalls die Seeleute ein. Das Gebäude wird heute durch den Deutschen Wetterdienst genutzt wird und beherbergt die "Biologische Station Walter Banzhaf".
Der Inselhof gibt heute kaum noch optische Hinweise auf seine ehemalige Funktion.
Verstreut über die Insel liegen ehemalige militärische Anlagen, die dagegen sehr deutlich sichtbar von ihren ursprünglichen Funktionen sprechen. Ab 1937 wurde die Insel militärisch genutzt und zum Sperrgebiet erklärt. Die letzten Zivilpersonen mussten die Insel verlassen. Bis 1945 wurden auf der Insel unter anderem die in Peenemünde entwickelten V-Waffen getestet.
Ab 1945 war auf der Insel die Sowjetarmee stationiert, seit 1957 die Nationale Volksarmee. Auch hier sind Gebäude bis heute Zeichen des Etablierens von Territorien der Macht. Diese Machträume und Machtnetze, diese Inschriften von Kultur und Krieg wurden immer und naturgemäß überlagert durch die Netze der Vogelzugsrouten, die flüchtigen Kartierungen natürlicher Migration.
Anhand der Inselchronik möchte ich nun Orte vorstellen an denen ich in den Jahren 2008 und 2009 akustische Aufnahmen gemacht habe.
1282 Erste schriftliche Erwähnung der Insel
Nutzung der Insel als Pferdeweide
1820 Beauftragung der ansässigen Bauern mit der Errichtung eines Uferschutzwalles
Steilhang in dem sich durch Wettereinflüsse Höhlen
unterschiedlicher Grösse bilden
Bruthöhlen für Mittelsäger Mergus serrator und
Brandgänse Tadorna tadorna
01 Innenaufnahme einer Höhle an der Ostseite der Insel – 4:23 min
02 balzende Brandgänse Tadorna tadorna – 1:31 min
1700-1721 Zerstörung des Waldes durch stationierte dänische Soldaten während des Nordischen Krieges
Insel in schwedischem Besitz
heute ein kleines Wäldchen aus Jung- und Altbäumen sowie Hecken
03 Kormoran Phalacrocorax carbo - Schlafplatz im "Jungwald" – 1:01 min
1853-1855 Errichtung eines Leuchtturmes, Nordost-Spitze der Insel
seit jeher eine Todesfalle für Vögel, die in das Licht und dann gegen
das Gebäude selbst fliegen und sich dabei meist das Genick brechen
früher war dies eine "wertvolle Nahrungsergänzung für die BewohnerInnen
der Insel" (mündl. Rosemarie Halliger, letzte Bewohnerin der Insel)
heute rings um den Leuchtturm Rasen und Sträucher
04 Rufe der Wasserralle Rallus aquaticus, die in vielen Wintern in Brombeerhecken verborgen, überall auf der Insel zu hören sind – 0:25 min
05 durchziehender (nordischer) Gimpel Pyrrhula pyrrhula pyrhula – 0:29 min
1873-1877 Errichtung eines Fischereinothafens, Westspitze der Insel
ehemaliger Anlegeplatz für Fischerboote, Militärschiffe und Versorgungsschiffe
heute Nothafen und Anlegeplatz für Rettungs- bzw Versorgungsschiffe
06 balzende Eisenten Clangula hyemalis im Hafenbecken – 1:18 min
07 balzende Eiderenten Somateria mollissima im Hafenbecken – 2:26 min
08 Verkehrslärm von der Insel Usedom – 2:05 min
1889 Gründung eines Seemannsheimes
Anfang 1960er Jahre Abriss
auf den Grundmauern stehen Hecken und Sträucher,
Teil des sogenannten Fanggartens der Beringungsstation
09 singender Sprosser Luscinia luscinia – 2:51 min
Seit 1929 Ornithologische Arbeit durch Walter Banzhaf
Seit 1937 militärische Sperrgebiet
Test von so genannten Wunderwaffen ("V2 Rakete") durch
die Heeresversuchsanstalt Peenemünde
heute Weidefläche, Schutz vor Verbuschung durch Schafe
10 ziehende Singvögel (12 Arten) – 4:06 min
11 rastende Wacholderdrosseln – 2:46 min
Seit 1957 Küstenbeobachtungsstation der Seestreitkräfte der NVA
1965 Installation einer Radarstation, Nordost-Spitze der Insel
Heute ehemaliger Bunker für Radarwagen der NVA
12 singende Rauchschwalben Hirundo rustica am Brutplatz – 1:34 min
Seit 1990 Naturschutzgebiet
1991 Räumung des militärischen Materials von der Insel, Übergabe der Insel "besenrein und voll funktionsfähig"
Wohngebäude heute genutzt von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, dem Deutschen Wetterdienst und der Biologischen Station Walter Banzhaf – betreut durch den Verein Jordsand - Zum Schutze der Seevögel und der Natur
13 Innenaufnahme im Gebäude der Biologischen Station – 4:24 min
Feldforschung, natürliches und mediatisiertes Hören[1]
(…)
Parallel zum feldforschenden Teil wandelte sich das Aufstöbern immer neuer Klänge nun zu einer gerichteten Suche, als Folge einer Klanganalyse im Sinne einer inhaltlichen Bestimmung und genaueren Dokumentation von Ereignissen. Das Interesse am Klang entband mich, trotz guter Vorsätze, auf Dauer nicht vom Interesse an dem, was den Klang verursachte und warum (Indizwert). Zum Entdecken paart sich immer auch das Beibringen einer Topographie. Eine Topographie des Hörens ist dabei immer in Bewegung, sie verfeinert stetig ihre Auflösung, ihr Raster. Dieser häufig als Sensibilisierung bezeichnete Vorgang versperrt mit dem Betreten immer neuer Gebiete auch die Erfahrung eines Randlosen und vermindert das Sprunghafte. Mit der Entdeckung eines Details bleibe ich an seinem Raster zunehmend kleben und versuche, angrenzende weiße Flecken zu erschließen, springe nicht unvermittelt in weiter entfernte Quadranten. Diese Fixierung betrifft sowohl den Klang als auch den Raum.
Allgemein lässt sich sagen: Der Gedanke der Komplettierung gesellt sich gern zum/r ForscherIn.
(…)
Das Archiv oder: der Verlust der Unvoreingenommenheit
Die Funktion des Phonographen ist bestimmt durch das Archivieren akustischer Ereignisse. Entscheidend sind dabei Eigenschaften seiner Bau- und Funktionsweise. Es steht ihm begrenzter Speicherplatz zur Verfügung, der eine nur temporäre Nutzung des Materials (anschließendes Löschen der Aufnahme) oder – zum Zwecke der weiteren Verfügbarkeit – eine dem Speichermedium externe Ablage (z.B. Übertragung auf eine HardDisc) verlangt. Digitale Systeme sind komplett abhängig davon.
Es lässt sich sagen, dass der Logik des Phonographen das Archivieren anliegt. Ich muss also bemüht sein, für folgende Aufnahmen immerfort Platz zu schaffen. Dieser Logik folgt ein lediglich temporärer Bezug vom geschriebenen Klang zum Phonographen, und sie hat zugleich Archive oder Sammlungen zur Folge.
Die Masse meiner Aufzeichnungen nahm schnell größere Ausmaße an, sodass eine durchdachte Archivierung Not tat, wenn mich nicht alles Material irgendwann keinen Ansatzpunkt mehr finden lassen, mich verschlucken sollte. Im Grunde hatte ich mit meiner Sammlung eine Situation geschaffen, die der, der ich sie entnommen hatte, sehr ähnlich war. Das wild gehortete Material verlor mit dem Ablegen wieder einen großen Teil des Charakters der willkürlichen aufgezwungenen Topographie, fiel zurück zu einer unabhängigen und losen Ansammlung akustischer Ereignisse.
Willkürliche Homologisierung und die Sortierung der Klänge beendete diesen Zustand. Der nun verglichene, bestimmte und damit benennbar gewordene Inhalt nahm Platz über dem Ereignis: dem Vagen, Unbenennbaren, Offenen, Intuitiven, Losen - dem Rauschen.
Schnirpsen, Klicken, Klacken, Knacken, Rumpeln, Schleifen, Knallen, Scheppern, Dröhnen, Brummen, u.a. ersetzten den Zufall, der bis dahin beim Griff in die Tonträgersammlung alles bestimmt hatte.
Das so entstandene Wertesystem veränderte meine Herangehensweise, die Haltung als Phonographist, die sich, noch besser als in der Bedienung des Gerätes, im Hören zeigte und somit als der eigentliche Verlust herauszustellen ist. Das Werte-system, auch als Folge der Notwendigkeit des Externen, erzeugte die Gerichtetheit auf einzelne benennbare Formen, auf eine Auswahl. Die Anpassung des Aufnahme-prozesses an diese Logik erscheint dabei nur noch folgerichtig. Eine spezifische Vorsätzlichkeit im Aufnahmeprozess und – auch im musikalischen Wortsinne – der instrumentenhaft gewordene Umgang mit Klängen und Geräuschen ersetzte das Unvoreingenommene.
(…)
Wie die Ausgabe im Präsentationsraum über ihre Verhältnisse spricht, so verfügt die Aufnahme über deutliche Spuren ihrer Entstehungsweise. Das können Aussagen über die Art und Position des Mikrofons sein, oder über die Sorgfalt der Aufnahme. Es ist auch möglich, einer Aufnahme die Motivation anzuhören, ihre Richtung, das Hinlenken auf bestimmte Anteile des Spektrums eines akustischen Ereignisses. Eine Phonographie enthält ein großes Maß an Informationen über sich selbst, die benutzten Medien und deren Produzenten/In.
Ein/e FührerIn eines Hörspaziergangs kann ebenfalls als Einwirkung eines Mediums verstanden werden. Durch dieses Medium wird das hörbare Areal selektiert, es weist damit seine/ihre Spuren auf. Aber gehört wird hier letzten Endes autark. Das Filter, durch das wir dabei hören, dürfte im Gegensatz zu dem der Phonographie als verschwindend gering eingestuft werden. Es gilt zwischen der Formung von Klangmaterial und dem Leiten durch einen Hörraum deutlich zu unterscheiden.
(…)
Das Ereignis hat keine Gegenwart in mir, so wie ein luzides Erleben sich zwar im tatsächlichen Ablauf intensiv anfühlt, aber keinerlei Nachhall aufweist. Anscheinend liegt der Fall bei einer akustischen Aufnahme, bei der die Aufmerksamkeit entgegen dem reinen Erleben ausgerichtet ist, sehr ähnlich. Die Verminderung eigener Geräuscherzeugung zwingt eine/n Phonographisten/In geradezu in eine Art Versenkung. Gleichzeitig benötigt die Aufnahme für ihr Gelingen alle Aufmerksamkeit. Das eigentliche Ereignis korreliert mit dem Ereignis des Aufzeichnens und erzeugt – wie die mediale Präsentation – Unschärfen, die ziellos verleiten.
So versperrt das mediatisierte Hören, dem Gelingen der Aufnahme geschuldet, den natürlichen Zugang zum eigentlichen Ereignis.
[1] Franke, Patrick. Das natürliche und das mediatisierte Hören. Diplomarbeit HGB Leipzig 2008, siehe: http://www.patrick-franke.info/theorie-11.phtml
Literatur
Krause, Bernie. Into a Wild Sanctuary, Berkeley 1998
Watson, Chris. Outside the circle of fire (CD), 1998
Von Uexküll, Jakob Johann. Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen: ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Berlin 1934