Zwischen Trinklied und Echoraum

Reflexionen zum Sound des chorischen Theaters

Wolf-Dieter Ernst (Universität Bayreuth)

 

 

 

 

 

 

I

Die Mensa einer Universität gilt gemeinhin als akustisch schwieriger Raum. Es gibt kaum eine Mensa, in der man über längere Zeit einen Dialog mit einem Partner führen kann, ohne durch das Hintergrundrauschen gestört zu werden. Allmählich geschieht dies. Man glaubt sich in einer Konversation begriffen, muss aber konstant ein wenig lauter sprechen als gewöhnlich. Offensichtlich sind diese Räume primär zu dem Zweck errichtet worden, um viele Hungrige mit Nahrung zu versorgen. Es sind funktionale Räume, darauf ausgelegt, möglichst schnell wieder verlassen zu werden.

Es ist nicht abwegig, im Transitraum das Modell einer Mensa zu erblicken. In Transiträumen halten sich Menschen nur temporär auf. Die Bahnhofshalle ist einer der ersten Transiträume der Moderne, Abflughallen oder Tankstellen sind ihre jeweiligen Ausformulierungen in anderen Verkehrssystemen. Man ist und isst hier nur, um die Zeit zu überbrücken, bis man weiter transportiert wird. Diesem Modell der Bahnhofshalle eifern einige Architekten von Universitätsmensen wohl nach, wenn sie diese Räume grundsätzlich mit derart hohen Decken versehen, dass sich darunter der Dampf einiger Lokomotiven verteilen könnte ohne die wartenden Passagiere unten zu behindern. Für die Akustik einer Mensa hat diese Anleihe an die Bahnhofshalle natürlich fatale Folgen. Es rumort und hallt, als würden dort nicht Schnitzel geschnitten, sondern die Stahlplatten der Titanic vernietet.

Ein ganz besonderes akustisches Phänomen entfaltet sich nun, wenn man in einer Mensa Bier ausschenkt. Dies war neulich an der Universität Bayreuth der Fall, als man den Studierenden im Rahmen der „Bayerischen Woche“ Brezeln, Bratwürste und Gläser mit zünftigem Weißbier kredenzte. Willfährig nahmen die überwiegend männlichen Studierenden dieses Angebot an und es dauerte folglich nicht lange, bis sich in etwa folgende Szene entfaltete: Gruppen von etwa ein Dutzend Studenten stehen um einen Tisch, das gefüllte Glas vor der stolzen Brust und singen lauthals ein Prosit auf die Gemütlichkeit, die sich ihrer bemächtigt hat.

Der kleine Auftritt in der Mensa in Zeiten der bayerischen Wochen weckt zahlreiche Fragen nach der Anwendbarkeit eines Theater- und Performancebegriffs, der in den letzten Dekaden in seiner Reichweite erweitert wurde und ausdrücklich neben der Aufführung im künstlerischen Rahmen auch Sportfeste, Rituale, Events oder Festivals umfasst. Ich möchte die Frage danach, ob und in welcher Weise man hier von einem performativen Ereignis sprechen kann, zugleich zuspitzen auf die Frage nach der akustischen Qualität dieser Aufführung. Ein zentraler Aspekt scheint ja in der Tat, dass vor allem der Gesang eine Atmosphäre herstellt, der man sich ergeben muss, will man nicht den Raum verlassen. Diese ‚Performance’, wollen wir sie so nennen, zwingt also den Zuschauer zur Handlung. Man kann entweder mittrinken und mitsingen, dann ist man Teil der akustischen Atmosphäre. Oder man kann gehen. Dann hat man seine Ruhe, wird aber nicht satt. Eine Position dazwischen ist schwer durchzuhalten. Die Studierenden müssen die Wirkung dieser Atmosphäre erahnt haben. Dafür steht das Grinsen und Kichern als jene mimischen und akustischen Regungen, die in besondere Weise anzeigen, dass hier offensichtlich die Grenzen des schamhaften Verhaltens, die für die öffentliche Nahrungsaufnahme und den funktionalen Gebrauch einer Mensa gelten, verschoben wurden.

 

II

Die Szene in der Mensa weist alle Charakteristika auf, die von Erika Fischer-Lichte zur Bestimmung der Ästhetik des Performativen vorgeschlagen werden (Fischer-Lichte 2004). Sie findet in leiblicher Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern statt. Sie wird in besonderer Weise als gegenwärtig erlebt. Sie bringt ihre eigenen Zeichen selbst hervor und letztlich handelt es sich um eine Schwellenerfahrung. Ich werde diese vier Punkte näher beleuchten, um von da aus der spezifisch akustischen Erfahrung dieser Szene nachzugehen.

Die leibliche Ko-Präsenz erkennt man daran, dass die Teilnehmer der Tischrunde erst einen gewissen Widerstand überwinden müssen, um sich von der übrigen Gästen der Mensa abzuheben; wörtlich: heraus zu heben, zu ex-ponieren. Durch diesen Akt des Exponierens werden die Gäste automatisch zu Zuschauern. Die Aufführung thematisiert dabei in besonderer Weise das leibliche Beisammensein, welches in dem sozialen Raum, den eine Mensa darstellt, immer schon gegeben ist. Verfolgt man nämlich die Blicke, mit denen die übrigen Gäste die Darsteller beobachten, und umgekehrt die Blickwechsel und das verschämte Lachen der Darsteller innerhalb des Kreises, so wird sogleich deutlich, dass den Akteuren ihr leibliches Spüren, die Blicke, die auf ihnen lasten, sehr bewusst sind. Umgekehrt geben die Zuschauer deutlich ihre leibliche Affizierung durch den Gesang zu erkennen. Sie wenden sich ab oder kommentieren gestisch, was ihnen geboten wird. Wäre die Runde der trinkenden Studenten allein mit sich in der Mensa, so würde ein essentielles Element fehlen, um von einer Aufführung sprechen zu können. Die Botschaft ‚Ein Prosit der Gemütlichkeit’, die von den Darstellern ausgeht, hängt also in hohem Maße von der leiblichen Ko-Präsenz ab. Denn diese Botschaft wird nicht nur deklamiert, sie wird vielmehr vor anderen, vor Zuschauern als Zeugen, beschworen.

Dieser Akt der Beschwörung gelingt freilich nur, wenn die Aufführung als ein Geschehen im ‚Hier und Jetzt’ wahrgenommen wird. In der Tat bricht die Aufführung die übliche Routine, die den täglichen Besuch einer Mensa prägt. Allen Beteiligten und Zuschauern ist klar, dass ein Ereignis stattfindet und dieses Ereignis wird als besonders gegenwärtig wahrgenommen. Es ist dabei entscheidend für den Ereignischarakter, dass das Singen und Aufstehen nur bedingt auf eine Inszenierung zurückgeführt werden kann. Denn insofern Trinkrunden in Mensen nicht üblich sind, übersteigt dieses Ereignis den üblichen Rahmen und begründet die Gegenwärtigkeit: Ausnahmsweise darf in der bayerischen Woche Bier getrunken werden und es darf in einem gewissen Rahmen auch gesungen werden.

Schaut man sich die Zeichen der Aufführung an, so lässt sich festhalten, dass innerhalb dieser Runde ‚Gemütlichkeit’ als Zeichen gesetzt wird. Sie wird dabei – so will es das Trinklied – in doppelter Weise gesetzt. Gemütlichkeit bildet den linguistischen Kern des kurzen Lieds.[1] Eigentlich kann man sich nur unter dem Begriff ‚Gemütlichkeit’ etwas vorstellen. Das ‚Prosit’, welches Studenten im 18. Jahrhundert wohl vom lateinischen prodesse (= nützen, zuträglich sein) abgeleitet haben, gleicht heute mehr einer Formel, besonders wenn als Abkürzung ‚Prost’ oder das Englische ‚Toast’ verwandt wird. Das Wort ‚Gemütlichkeit’ hingegen macht Sinn und bildet in der zweiten Wiederholung zugleich den musikalischen Höhepunkt des Liedes: ‚Gemütlichkeit’ markiert den oberen Tonumfang der jeweiligen Dominante und stellt damit gleichsam den höchsten Notenwert dar, den der Sänger erreichen muss, bevor er harmonisch der Auflösung in der Tonika zustrebt. Ob das Zeichen für Gemütlichkeit also tatsächlich glaubwürdig und lesbar produziert wird, hängt in hohem Maße davon ab, in welcher Weise es mit solchen Zeichen kombiniert wird, die Gemütlichkeit nicht repräsentieren, sondern performativ herstellen. Dies sind vor allem die paralinguistischen Zeichen, d.h. die Prosodie von Gemütlichkeit, der chorische Gesang und die ausgelassenen Männerstimmen. Man stelle sich vor, die Männer hielten ein Glas Cola vor ihrer Brust, stünden lässig da mit einer Hand in der Hosentasche und würden das Trinklied nur tonlos vor sich hin singen. Die Atmosphäre der Gemütlichkeit würde in diesem Fall zitiert und ironisiert, sie würde sich aber als Atmosphäre nicht dadurch einstellen, dass die Handlungen Singen, Trinken und Stehen die Gemütlichkeit gerade dadurch bedeuten, indem sie ausgeführt werden.

Damit wäre der letzte Punkt, die Schwellenerfahrung, angesprochen. Mit Schwellenerfahrung ist eine Erfahrung gemeint, die man innerhalb einer bestimmten Situation machen kann, die durch besondere Markierungen von alltäglichen Situationen unterschieden wird. Als Markierungen können zeitliche oder räumliche Grenzen, Requisiten oder Figuren, bestimmte Skripte oder Handlungen fungieren. In diesem Falle ist die Situation in besonderem Maße durch den temporären Ausschank von Fassbier und den Verkauf von Nahrungsmittel unter der zeitlichen Maßgabe „Bayerische Woche“ gekennzeichnet. Für eine Woche, so muss der Besucher folgern, nähert sich der Besuch einer Mensa der exzeptionellen Situation an, die man mit einem Bierzelt assoziiert. Entsprechend kleiden sich nicht wenige Studierende im Trachten-Look. Man erscheint also, um zu feiern und sich in größtmögliche Distanz zu alltäglichen Tafelrunden zu setzen. Die Schwellenerfahrung ist an der Rötung und dem verlegenen Lächeln, welches die Gesichter der Darsteller zeichnet, ebenso zu erkennen, wie in der Tatsache begründet, dass einige Gäste sich ostentativ abwenden oder ihren Kopf schütteln. Die Schamlosigkeit, die den Kern der Schwellenerfahrung ausmacht, ist also nicht allein darin zu sehen, sich mittags zwischen zwei Lehrveranstaltungen mit Bier zu versorgen (das in Flaschen abgefüllt das ganze Jahr über zu bekommen ist), sondern auch darin, dass sich die Akteure wohl über den Affront im Klaren sind, mit ihrem Trinklied und ihrem Bierzelthabitus eine Grenze der Scham zu verschieben. Denn indem sie stehen und akustisch die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregen, drängen sie ihnen ihr Verhaltensmuster auf, so dass diese gezwungen sind, ihre Verhaltensregeln und Wahrnehmungskonventionen in Frage zu stellen. Soll man intervenieren, mitsingen, hinausgehen? Galt nicht immer die Regel: In Mensen oder Bahnhofshallen, also mithin an ‚öffentlichen’ Orten mit hohem Besucheraufkommen, soll bitte nicht gesungen, getanzt oder getrunken werden? Diese Fragen stellen sich einem Betrachter der Szene, je länger und häufiger die Gesangseinlagen ertönen. Die Schamgrenzen regeln also die soziale Situation Mensa in hohem Maße. Ihre Einhaltung, die mit Verweis auf eine Hausordnung sichergestellt wird, ist unabdingbar, wenn es bei der massenhaften Speisung nicht zu Chaos, Orgien und Ausschweifungen kommen soll. Jede performative Intervention innerhalb dieses Rahmens hat das Potential, diese Ordnung in Frage zu stellen und eine Krise im Mensabetrieb in Gang zu setzen, die für die Beteiligten auf beiden Seiten der ‚Bühne’ eine Schwellenerfahrung sein kann.

Ich möchte nun genauer auf die akustische Qualität dieser Szene zu sprechen kommen, also das gemeinsame Singen, bzw. das gemeinsame Singen, stimuliert durch Alkohol. Damit sei nicht behauptet, dass die Studierenden sturzbesoffen wären und nicht in der Lage seien, das Studium fortzusetzen. Wohl aber ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass der temporäre Ausschank von Alkohol bereits eine erste Inszenierung eines ‚Drogenkults’ darstellt, der in engem kausalem Zusammenhang damit steht, gemeinsam bestimmte Trinklieder anzustimmen. Wie gesagt: Hier tut es ein Glas Cola nicht.

 

III

Welche Rolle spielt das chorische Singen in der Mensa? Ich möchte dieser Frage in Hinblick auf das so genannte ‚chorische Theater’ nachgehen, genauer in Hinblick auf die künstlerische Position, die der Regisseur Einar Schleef bezieht, um seine Form von Musikalität und Bewegung des Chors im Sprechtheater zu begründen. Neben Schleef gehen von Robert Wilson und Christoph Marthaler wichtige Anregungen zur Musikalisierung der Aufführung aus, die inzwischen von zahlreichen Regisseuren und Theatermusikern angenommen wurden.[2] Schleef machte in den 1980er Jahren – ganz gegen den Trend des Regietheaters seiner Zeit – mit teilweise quälend langen, chorisch gesprochenen Partien in seinen Inszenierungen von sich reden.[3] In seinem Essay Droge Faust Parsifal (Schleef 1998) reflektiert und verdichtet er seine theaterästhetische Position zu einer Poetologie. Sein Ansatzpunkt ist die Krise einer Vorstellung von Theater und Drama, welches durch den Protagonisten getragen wird. Diese Krise verortet er in der Dramenproduktion des Naturalismus, vor allem bei Gerhart Hauptmann. Seitdem das Drama in die ‚offene Form’ (Klotz) überführt wurde, bringt es keine Helden oder Charaktere mehr hervor, die in ihrer Kohärenz in der Lage wären, eine Handlung voran zu treiben. Schleef hält sich jedoch weniger mit der Geschichte des Zerfalls und der inneren Spaltung des Individuums auf. Stattdessen geht er davon aus, dass das Protagonistentheater immer in Relation zum Chor stand und steht. Nicht von ungefähr beschäftigt sich Schleef mit dem antiken Theater. In der attischen Tragödie ist der Zusammenhang von Chor und Protagonist noch evident, denn erst allmählich treten die Protagonisten, der zweite durch Aischylos und der dritte durch Sophokles, aus der Formation der zwölf bis fünfzehn Choreuten hervor.[4] Sie nehmen innerhalb dieses Theaterkonzepts, welches noch ganz vom gemeinsamen Tanz- und Versammlungsplatz, der Agora geprägt ist, eine Position zwischen der Polis, den Zuschauern und dem aus Polis-Mitgliedern gebildeten Chor ein. Die Protagonisten exponieren sich also, sind gleichsam ungeschützt und müssen in ihrer Rede – auch akustisch – gegen einen Chor bestehen, der in Liedern und Rezitativen, Dialogpartien und Bewegungschören sehr wirksam die Szene ‚vor dem Palast’ bestimmt.

Ganz im Gegenteil zu dieser Vormachtstellung des Chores im antiken Theater steht der Chor im bürgerlichen Theater. Schleef macht darauf aufmerksam, dass im bürgerlichen Theater der Chor in den Hintergrund gedrängt wurde. In den Dramen Gerhart Hauptmanns etwa werde der Chor selbst zur ausgestoßenen Figur.

Von besonderem Interesse ist für Schleef die Frage, was den Chor zusammenhält. Der antike Chor nämlich sei keineswegs als eine harmonische Gruppe zu verstehen. „Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz beieinander, obwohl sie einander energisch ablehnen […]“ (Schleef 1998: 13). Es ist der Ausschluss, das Opfer des Einzelnen, welches den Chor als Gruppe bestätige. Schleef denkt diese Opferung als szenische Konfiguration, in welcher ein ‚Chor-Körper’ dem Einzelnen Schutz bietet um den Preis, einen anderen Körper von sich auszuschließen und vor sich zu exponieren.

Im Fall der Performance in der Mensa etwa würde jegliche Intervention eines nüchternen Zuschauers, der vor dem angetrunkenen Chor-Körper operiert, genau jene ungleiche Konfiguration zweier Körper evozieren und es fehlt auch wenig, sich in dieser Szene das ausgeschlossene und verlachte Opfer vorzustellen. Die Qualität und Energie der Menge an sich bewirkt in dieser Konstellation bereits den Ausschluss, weshalb jegliche De-Eskalation auf die Trennung der Menge, den Ausschluss des ‚Chorführer’ setzt, nicht aber an den Chor an sich appelliert. Ein Chor kann per definitionem nicht mit rationaler Stimme sprechen, er ist immer vielstimmig.

Zur szenisch-körperlichen Konstellation, die den Ausschluss des Einzelnen markiert, tritt ein zweites Moment, welches den Chor nach Schleef begründet: die Droge. Schleef versteht darunter eine Metapher und eine Substanz gleichermaßen. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Arten des Drogenkonsums, die entsprechend auch zwei Arten des Chor-Körpers hervor bringen: einen gemeinsamen und willentlichen Konsum der Droge und einen vereinzelten Drogenkonsum mit entsprechendem Suchthintergrund. Der gemeinsame Drogenkonsum ist typisch für kultische und rituelle Rahmungen. Er geschieht auf Zeit und begründet eine Gemeinschaft auf Zeit. Das kann über die tatsächliche Einnahme von Drogen geschehen, die ganz verschiedene Körper in einen als gemeinsam markierten Rauschzustand versetzen. Man sollte dabei allerdings die Erfahrung von Rausch unbedingt als kollektiv verstehen, d.h. es ist mehr die Annahme und gegenseitige Bezeugung, dass jeder ‚unter Drogeneinfluss’ steht, welche eine bestimmte Atmosphäre des Kultischen oder gar Rauschhaften begründet, denn die tatsächliche individuelle Disposition oder Gestimmtheit. Darüber wird noch zu sprechen sein. In metaphorischer Übertragung können aber auch Musik, Singen, Tanz oder Rhythmus als ‚Drogen’ aufgefasst werden, die von einer Gemeinschaft geteilt werden und diese begründen. Schleef nutzt als Beispiel nicht ohne Grund die Fan-Gemeinde der Popgruppe Take That, die sich laut skandierend vor einem Berliner Hotel versammelt und – besondere Pointe – die drohende Auflösung der Band verhindern will. Die Fangemeinde wird hier also über den Sound der Band begründet, dem sie sich zugehörig fühlen und deren Affektpotential sie unter sich ‚teilen’, etwa in Form gemeinsam erlebter und gefeierter live Auftritte oder eben in Form von Fankundgebungen. Bricht die Band auseinander, versiegt der Nachschub der Droge ‚Sound’ und die Fangemeinde befindet sich auf Entzug.

Von der gemeinsamen Drogeneinnahme unterscheidet Schleef die Form der individuellen und heimlichen Drogeneinnahme, den gesellschaftlich geächteten und krankhaften Drogenkonsum, für oder gegen den sich der Süchtige nicht mehr willentlich entscheiden kann. Auch die individuellen Drogenkonsumenten bilde eine Gemeinschaft, jedoch gäbe es von dieser Gemeinschaft kein Bild (????), findet sie nicht zu einem Chor zusammen. Der Ort dieser Gemeinschaft sei vielmehr der private, unbeobachtete Raum, die eigenen vier Wände.

Entsprechend könne man an dieser Gemeinschaft nicht aufzeigen, was sie zusammenhält oder welche Kräfte diesem Zusammenhalt entgegen streben. Die Krankheit der Sucht mit ihren psychischen oder somatischen Ausprägungen werde vielmehr verheimlicht und als Befall der individuellen Seele oder des individuellen Körpers angesehen. Der Chor hingegen könne die immer auch destruktive, giftige Wirkung der Droge ausagieren und sinnlich erfahrbar machen.

„Der Chor besitzt diese Fähigkeit noch, die die Einzelfigur längst verloren hat. Nur der Chor ist wahr, so Kafka, das Individuum lügt. Denn das Individuum steht nicht zu seiner Krankheit. Es versucht diese zu verdrängen, zu vergessen, laboriert heimlich an ihr, kämpft gegen sie, doch die Krankheit fordert ihr Tribut, zerstört die Figur von innen.“ (Schleef 1998: 277)

Schleef unterscheidet also die kollektive und willentliche Drogeneinnahme von einem verdeckten und abhängigen Drogenkonsum. Sie unterscheiden sich fundamental, da nur die kollektive Form zelebriert wird und temporär einen Chor-Körper hervorbringt. In diesem Lichte besehen, gewinnt der Auftritt der singenden Studierenden in der Mensa eine neue Bedeutung. Das provokante Potential des gemeinsam gesungenen Trinkliedes ist auch darin zu sehen, dass hiermit eine Form kollektiver Drogeneinnahme zelebriert wird, die andernorts und zu anderer Gelegenheit heimlich stattfindet. Der Chor-Körper erinnert die nüchtern Speisenden daran, dass diese Nüchternheit auch immer eine Fassade darstellt, hinter der sich möglicherweise ein ungeregelter und unwillentlicher Drogenkonsum von selbstzerstörerischer Dimension verbirgt. Die Disposition zu individueller Entgrenzung und zu Kontrollverlust im Alkoholrausch scheint jedenfalls dann gegeben, wenn sich – wie im vergangenen Jahr – einige hart gesottene Studierende nach Schließung der Mensa weiterhin derart betranken, dass sich die Hochschulleitung genötigt sah, einen ultimativen Appell auf Mäßigung und Einhaltung der Regeln zu formulieren. Das Problem von Gemeinschaft und Drogengebrauch wäre mit dem Verbot gemeinsamen Singens und Trinkens in der Mensa freilich nur räumlich verlagert aber nicht gelöst.

Überführen wir nun metaphorisch das Konzept des Schleefschen Chor-Körpers auf die akustische Ebene und sehen wir das gemeinsame Singen und Schunkeln als einen Vorgang an, gemeinsam eine Droge unter sich zu teilen! Es steht außer Zweifel, dass man der Musik, dem Trinklied, hier eine Gemeinschaft stiftende Funktion zuschreiben kann. Was aber geschieht innerhalb des Chor-Körpers, wenn gemeinsam gesungen wird? Wie affiziert dieser sich bildende Chor-Körper wiederum die Zuhörer und Zuschauer? Aus der Perspektive der neuen Phänomenologie hat sich Hermann Schmitz mit der besonderen leiblichen Erfahrung auseinandergesetzt, die durch akustische Phänomene bewirkt werden. Dabei geht er von einer Analogie von Schall und spürbarem Leib aus: beide seien in ihrer Dimension unscharf abgrenzbar. Der Leib ebenso wie der Schall breitet sich amorph aus, im Gegensatz etwa zu physikalischen Bestimmungen von Körper oder Schallwellen, die immer substanziell begrenzt, beobachtbar und messbar sind. Die amorphe Ausdehnung des Leibes oder des Schalls fasst Schmitz mit dem Begriff Halbding, unter denen er etwa Schmerz, Wind, Stimmen oder einen elektrischen Schlag versteht. Halbdinge haben nach Schmitz die Eigenschaft, dass sie scheinbar unmittelbarer wirken als kausal begründete Dinge. Wird jemand mit einem Gegenstand geschlagen, so unterscheiden wir ohne Mühe den Täter, von seiner Handlung und dessen Wirkung, weil wir diesen Vorgang kausal deuten können. Der Wind hingegen widerfahre den Menschen als unmittelbar einwirkende Kraft, ohne dass man in der Lage sei, dafür eine Ursache, wie etwa einen Druckunterschied in der Atmosphäre, anzugeben. Ebenso verhalte es sich mit der Einwirkung von Klängen und Geräuschen.

Eine Folge sei nun, dass ein Halbding eine „Bewegungssuggestion“ etwa in Form einer Gebärde oder eines gemeinsamen Rhythmus bewirke. Schmitz spricht vom Effekt der „solidarischen Einleibung“[5]. Der Effekt dieser Einleibung wird von Schmitz in drastischer Weise beschrieben und verdeutlicht, in welcher Weise man durchaus von einem Zwang sprechen kann, den die Performance in der Mensa oder die Chorpartien bei Schleef auf den Zuhörer ausüben können.

„Die Einleibung verläuft im Kanal des vitalen Antriebes, als ein auch über den einzelnen Leib hinweg ausgedehnter Dialog von Engung und Weitung wie beim Blickwechsel oder beim spontan geschickten Ausweichen; die Dialogpartner sind im Antrieb unmittelbar verschränkt, und eine Gestalt dieser Verschränkung ist die unmittelbare, zwei gliedrige Kausalität des akustischen Halbdings. Diese Unmittelbarkeit des Einwirkens verleiht den akustischen Halbdingen eine drastische, manchmal schwer erträgliche Zudringlichkeit […]. Der monotone Rhythmus, der als integrierende Gestaltqualität eine Folge unauffälliger Geräusche zum Halbding aufrüstet, verleiht dem harmlosen Tropfen des Wasserhahns eine zudringliche Leibverbundenheit, die den Hörenden hartnäckig am Einschlafen hindert.“ (Schmitz 2008: 81f)

Auch wenn Schmitz phänomenologischer Ansatz nicht unumstritten ist[6], so zeigt sein Hinweis auf die Unmittelbarkeit akustischer Wahrnehmung, dass die Kategorien des Zuschauens und Handelns, mit denen Aufführungsgeschehen vorrangig erfasst werden, um eine Kategorie des Hörens erweitert werden muss. Das Ohr aber kann sich nicht abschließen gegen seine Umwelt und das Ohr kennt nicht in gleicher Weise eine Richtung wie das Auge. Die Begrifflichkeit, mit der Theater als akustische Erfahrung bestimmt werden könnte, wäre freilich noch zu entwickeln, denn Sound[7] und Droge – dies sind keine theaterwissenschaftlichen Begriffe mit Trennschärfe.

 

IV

Schleef und Schmitz weisen je spezifisch darauf hin, dass das gemeinsame Hören und das Gefühl der Gemeinschaft aneinander geknüpft sind. Man sollte dabei Schleefs Hinweis nicht übersehen, dass die Mitglieder der Gemeinschaft sich nicht unbedingt in dieser Gemeinschaft wohl fühlen müssen. Diese Risse im Gemeinschaftsgefüge können in besonderen Momenten hervortreten, etwa in jenem Moment der unschlüssigen Stille, wenn das Trinklied verklungen ist und die Gläser abgesetzt sind.

Deutlicher und signifikanter jedoch treten sie dann hervor, wenn cultural performances auf einer Theaterbühne aufgeführt und damit in eine Kunstform transformiert werden. Eine derartige Übertragung ist mit einem Wechsel des Rahmens der Aufführung verbunden. Würde das Trinklied auf der Bühne gesungen, so stellte sich unweigerlich die Fragen nach dem Grad der Inszenierung. Die Beschwörung der Gemütlichkeit würde eher als Zitat oder als Repräsentation von Bierzeltatmosphäre wahrgenommen, also als etwas, was auf einen Ort außerhalb des Theaters verweist. Eine Bühne ist keine Mensa. Entsprechend kann eine Bühne auch nicht die vergleichbare Dringlichkeit der akustischen Atmosphäre vermitteln, wie dies in der Mensa der Fall ist – zumindest dann, wenn wir es mit einer Bühnenarchitektur zu tun haben, welche den Spielort deutlich vom Raum des Publikums abtrennt.

Wenn dieser Vergleich von Bühne und Mensa Bestand hat – Ausnahmen in der ortsspezifischen Kunst und der Performance Art einmal ausgenommen –, so fragt sich, in welcher Form man dann von der Unmittelbarkeit des Hörens im Theater sprechen kann. Beschreibt die Metapher der Droge die akustische Erfahrung, die ein Zuhörer im Theater machen kann? Oder bezieht sie sich nur auf die Erfahrungen, die innerhalb des Chor-Körper möglich sind? Kann man in Hinsicht auf Theater tatsächlich von Unmittelbarkeit und Einverleibung im Sinne Schmitz sprechen? Die Antwort muss lauten Ja und Nein.

 

Das Ohr in seiner Weltoffenheit ist gewiss empfangendes Organ für die Halbdinge, die uns in Form akustischer und rhythmischer Gestalten erreichen. Die Rahmung und Reflektion meiner Hörerposition die zugleich eine Zuschauerposition ist, wirken der Einverleibung jedoch entgegen. Was in dieser Differenz von inszenierten Sehen und Hören entsteht, ist ein Echoraum, der mich im Hören auf die Ursache und die Einwirkung von Stimmen, Klängen und Tönen verweist. Im Theater, wie im Echo, sind akustische Phänomene – sieht man von Signaltönen ab – fast ausnahmslos vergangene, zitierte, repräsentierte Phänomene.

Man kann sich die akustische Differenz, die im Seh- und Hörraum Theater produziert werden kann, an einem der zahlreichen Chorprojekte vergegenwärtigen, die momentan auf den Bühnen der Theater zu sehen sind. Zur Spielzeit Eröffnung hatte am Staatstheater Stuttgart die Produktion 30. September Premiere. Ich möchte zunächst kurz den Rahmen dieser Aufführung skizzieren, weil er in besonderer Weise schon ein Zitat eines Chor-Körpers darstellt, der sich ähnlich wie die Trinkrunde in der Mensa kontingent gebildet hat.[8]

Der Titel dieser von Ulrich Rasche und Jörg Bochow konzipierten Arbeit verweist auf die Ausschreitungen im Stuttgarter Schlosspark am 30. September 2010 im Zuge der Proteste gegen den Bau eines Tiefbahnhofes. Monatelang beherrscht der Konflikt um Stuttgart 21, wie das Akronym für dieses Städtebauprojekt lautet, die Nachrichten. Diverse Interessengruppen machten für oder gegen den Bau mobil und bildeten die für Demonstrationen typischen Chor-Körper. Im Kern geht es diesem Chor um die Spielregeln parlamentarischer Demokratie, die in der Planungsphase von Stuttgart 21 ein aufs andere Mal verletzt wurden. Am 30. September 2010 eskaliert die Lage, als anlässlich einer Baumfällung im Schlosspark emotionalisierte Bürger und die Teilnehmer einer angemeldeten Schüler-Demonstration einem massiven Polizeiaufgebot gegenüberstehen. Den Aussagen vor einem eigens eingesetzten Untersuchungsausschuss des Landtages Baden-Württemberg ist zu entnehmen, dass der Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern zu verhindern gewesen wäre, wenn die Regeln der Deeskalation befolgt worden wären. Die Frage, ob es eine politische Einflussnahme auf die Polizei gab, bleibt unbeantwortet im Raum stehen. Ein halbes Jahr nach dem so genannten ‚schwarzen Donnerstag’ wird die konservative Landesregierung abgewählt.

Ulrich Rasche, der für die Regie von 30. September verantwortlich zeichnet, inszeniert zum Jahrestag einen Echoraum. Das Konzept des akustischen Gedenkens profitiert in doppelter Weise von der räumlichen und zeitlichen Nähe zum Geschehen am 30. September 2010. Die Spielstätte liegt oberhalb des Stuttgarter Bahnhofs, wo das Theater die leer stehenden Hallen eines Autohauses als Ausweichquartier bezogen hat. Der zeitliche Bezug ist über den Titel der Arbeit gegeben, der das Erinnerungsritual des Jahrestages aufruft. Entscheidend aber ist, dass der Regisseur gerade nicht darauf bedacht ist, den Gewaltsausbruch mit Bühnenmitteln nachzuahmen. Es wäre in der Tat leicht möglich, die Zuhörer und Darsteller zu einer temporären Gemeinschaft zu verbinden. Das örtliche Publikum ist ja immer noch politisiert und emotionalisiert auf Grund dieser Ereignisse. Es waren schließlich Schüler, die lautstark skandierten „Wir sind friedlich, was seid ihr“ und die daraufhin in die Schusslinie einer komplexen politischen Auseinandersetzung gerieten. O-Ton Material der protestierenden Schülergruppen, Stimmen von Betroffenen, Schreie und Klagen wären in der Tat in den Archiven medialer Berichterstattung leicht verfügbar, um als Signale der Solidarität zu fungieren. Die Inszenierung verweigert sich diesem direkten Zugriff auf akustische Dokumente.

Diese Arbeit wählt einen ganz anderen Ansatz. Sie basiert auf einer Kompilation sehr heterogener Texte von Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist, die sämtlich die Frage nach dem gerechten Umgang mit einem staatlichen Gewaltmonopol stellen. Diesen Texten sind zwei aktuelle Stimmen der Konfliktparteien gegenübergestellt: ein kurzes Statement von Rüdiger Grube, dem Vorsitzenden der Deutschen Bahn-AG, sowie eine längere Interview-Passage von Dietrich Wagner, einem der betroffenen Demonstranten, der in diesem Text jenen Moment erinnert, da er von einem Wasserwerferstrahl derart frontal erfasst wurde, dass dies seine dauerhafte Erblindung bewirkte.

Der Regisseur Rasche überführt diese Textvorlage in eine Sprechpartitur, die von ausgebildeten Sängern und einigen Schauspielern aus(f)geführt wird. Dabei werden einzelne Halbsätze wiederholt, es wird im Kanon gesprochen, der Text wird auf verschiedene Stimmlagen verteilt. Es entsteht eine eindrucksvolle akustische Dichte. Man muss sich den Sinn der Texte gleichsam gegen die Stimmen, gegen die Musikalität der Inszenierung zusammensetzen. Umgekehrt ermöglicht es diese Komposition, die Aufmerksamkeit auf die akustische Qualität der Stimmen und der Sprache zu richten. Mit Hilfe dieser doppelten Übersetzung – vom Geschehen auf die Ebene des Kommentars, vom textlich verfassten Kommentar hin zum stimmlich musikalischen Phänomen – wird der Abstand zum eigentlichen Ereignis 30. September sinnlich erfahrbar.

Dieser Abstand ist zwischen Komposition und Aufführung, zwischen Text und Stimm-Körper angeordnet. So wird auf der einen Seite deutlich, dass der Echoraum komponiert ist und von fingierten Sing- und Sprechstimmen gefüllt wird. Er repräsentiert weder den Sound der Demonstration noch den Diskurs um Stuttgart 21 mit seinen zahlreichen Äußerungen. Zugleich ist zu spüren, dass die Performance vor allem durch den Chor-Körper getragen wird. Die Werkstatthalle mit den nackten Betonwänden und der flachen Decke ist kein wohlwollender Raum in akustischer Hinsicht, aber der Chor füllt ihn. Das liegt unter anderem daran, dass das rhythmische Sprechen dadurch unterstützt wird, dass einige Darsteller ihren Text auf einem Laufband, welches in den Boden eingelassen ist, in physischer Anspannung produzieren müssen. Überhaupt wird der Text in langen Gängen vom Bühnenhintergrund bis an die Rampe gleichsam produziert wie am Fließband. Sprechen ist hier körperlich sichtbar gemacht. Man ist also auch im Anblick der Sprecher, nicht nur beim Anhören leiblich affiziert. Die Kanonstruktur und das konstante Wiederholungsprinzip leisten ihr übriges, um die Sprechpartien gleichsam ins Ohr zu hämmern. Ginge es nicht um die Erinnerung an ein dramatisches Ereignis, und um noch immer aufgewühlte Emotionen, von denen man die Aufführung gar nicht trennen kann, so könnte man die akustische Ebene der Aufführung als sehr ästhetisches Sprechkonzert genießen. Jedoch weckt der Abend wenig Zweifel daran, dass er dem tatsächlich Geschehenen gewidmet ist.

Wir haben es mit einer Verkehrung der Ebenen zu tun, die gerade die Solidarität und den inneren Zusammenhang der Demonstrierenden im Schlosspark infrage stellt. Denn der Chor-Körper im Schlosspark ist temporär, kontingent und wird als Gemeinschaft erlebt, die durch das gemeinsame Skandieren demonstriert wird. Das Akustische, der Sound des Protests, stellt zugleich den Inhalt (Protest) und die Form dieser Gemeinschaft dar. Der Chorkörper auf der Bühne hingegen ist gerade nicht Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls, welches kontingent entsteht. An fünf Abenden wird gespielt und die Premiere war am 23. September, also nicht einmal am Jahrestag. Es wird gegeneinander, polyphon gesprochen und gesungen. Vor allem aber fehlt der äußere Gegner, der die eigenen Reihen umso fester zusammenschweißt und dem man den Inhalt entgegen rufen könnte, für den die Gemeinschaft einsteht. Das große Wir-Gefühl, die Illusion von Gemeinschaft, die jeden Protest trägt, bleibt hier aus. Es ist also kein Echoraum von jener Qualität, die einen in Erinnerungen schwelgen lässt. Der Abend setzt mit musikalischen Mitteln vielmehr ein Fragezeichen an den Prozess der Chorbildung. Indem er die Komposition und die textliche Grundlage einsehbar macht, welche den Chor-Körper strukturiert, breitet er gleichsam die Blaupause aus, nach der sich eine Einverleibung im Chorkörper inszenieren und bewirken lässt. Die Inszenierung und Konstruktion einer Aufführung aber vertragen sich nicht mit dem Konzept der unmittelbaren Einverleibung und der Drogenaufnahme.

 

 

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[1] Die Herkunft des Trinkliedes ist unklar. Die Chemnitzer Morgenpost reklamiert das Lied für den sächsischen Komponisten Bernhard Dietrich (1840-1902) und erwähnt, dass es erst 1912 zum Repertoire des Münchner Oktoberfest gehörte – von wo aus es sich weltweit verbreitete. „Chemnitzer lehrte die Bayern das Saufen.“ Chemnitzer Morgenpost online http://www.sz-online.de/Nachrichten/Chemnitz/Chemnitzer_lehrte_die_Bayern_das_Saufen/articleid-2564274 (letzter Zugriff, 21.11.2011). Die Chronik „Wie das Bier auf die Wiesn kam“ im Tagesspiegel vom 19.9.2010 datiert die Erstaufführung des Liedes auf 1898. http://www.tagesspiegel.de/zeitung/wie-das-bier-auf-die-wiesn-kam-/1936046.html (letzter Zugriff, 21.11.2011)
Im Kapitel III „Von Bierbuden zu Bierburgen“ der Wiesn-Chronik wird die Einführung des Liedes als PR-Maßnahme geschildert: „Der wohl erste Selbstdarsteller der Wiesn, ‚Krokodilwirt’ Lang aus Nürnberg, errichtete 1898 auf dem Oktoberfest die ‚1 Bayerische Riesenhalle’ für 6.000 Personen. Lang übrigens steckt hinter dem ‚Ein Prosit der Gemütlichkeit. 1-2-3- g'suffa’. Dieser Trinkspruch findet sich erstmals bei ihm in einem Liedheft, von dem er zur Wiesn 1898 gleich 50.000 Exemplare verteilen ließ.“ http://www.ganz-muenchen.de/oktoberfest/geschichte/bierbuden_und_burgen_3.html (letzter Zugriff, 21.11.2011).
[2] Beispielsweise in den Inszenierungen von Nicolas Stemann (Die Räuber 2009), René Pollesch (Mädchen in Uniform 2010), Karin Beier (Das Werk/Im Bus/Ein Sturz 2010), Volker Lösch (Homers Ilias / Achill in Afghanistan ).
[3] Zum Konzept des Chor-Theaters und zu Schleef im Speziellen liegen inzwischen zahlreiche Publikationen vor: Haß 1999; Dreysse 2000; Kurzenberger 2009, Schmidt 2010.
[4] Ich beziehe mich im Folgenden auf: Brauneck 1993 sowie Lehmann 1991.
[5] Siehe: Schmitz 2008: 81. Unter „zweigliedriger Kausalität“ versteht Schmitz, dass man Halbdingen nur Ursache und Effekt zuschreibt. Man sagt etwa, der Wind (Ursache) kühlt (Effekt). Eine dreigliedrige Kausalität der Dinge würde hingegen Ursache, Effekt und Einwirkung unterscheiden. Dieses Denken ist physikalisch. Beispielsweise könnte man Luft wärmen (Ursache Heizung), diese Luft in einem Raum frei setzen (Wärme-Effekt) und würde seinen Körper und seine Umgebung damit wärmen (Einwirkung).
[6] Vgl. Mertens 2004: 333; Wolf-Dieter Ernst: Rezension zu Petra Maria Meyer (Hg.): Acoustic Turn. München: Wilhelm Fink 2008, http://www.iaslonline.de
[7] Dem Thema Sound und Performance ist der 11. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (4.-7.10.2012) gewidmet, der von der Fachgruppe MusikTheater ausgerichtet wird und der sich der theaterwissenschaftlichen Bestandaufnahme und Diskussion von Soundphänomenen und Ansätzen der Sound Studies widmet.
[8] Die Hintergründe der Inszenierung sind recht gut dokumentiert in: Gunter Haug, Uli Sckerl 2011; Lösch, Stocker, Leidig, Wolf 2011. Ich danke Jörg Bochow zudem für die freundliche Überlassung der Textfassung und der Aufzeichnung von 30. September.

 

 

Literatur

Brauneck, Manfred. Die Welt als Bühne. Stuttgart, Weimar 1993.
Dreysse, Miriam. Szene vor dem Palast. Frankfurt a.M. 2000.
Fischer-Lichte, Erika. Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff. In: Dies., Clemens Risi, Jens Roselt (Hg.). Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst. Berlin 2004, S. 11-26.
Haß, Ulrike. ’Sinn egal. Körper zwecklos’. Anmerkungen zur Figur des Chores bei Elfriede Jelinek anlässlich Einar Schleefs Inszenierung von ‚Ein Sportstück’. In: Heinz Ludwig Arnold. Elfriede Jelinek. München 1999, S. 51-62.
Haug, Gunter; Uli Sckerl (Hg.). Mit Kanonen auf Spatzen. Karlsruhe 2011.
Kurzenberger, Hajo. Der kollektive Prozess des Theaters. Bielefeld 2009.
Lehmann, Hans-Thies. Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991.
Lösch, Volker; Gangolf Stocker; Sabine Leidig; Winfried Wolf, (Hg.): Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt. Köln 2011.
Mertens, Karl. Die Leiblichkeit des Handelns. In: Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.). Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart, Weimar 2004. Bd. 2. S. 327-340.
Schleef, Einar. Droge Faust Parsifal. Frankfurt a.M. 1998.
Schmidt, Christina. Tragödie als Bühnenform. Bielefeld 2010.
Schmitz, Hermann. Leibliche Kommunikation im Medium des Schalls. In: Petra Maria Meyer (Hg.): Acoustic Turn. München 2008, S. 75-88.