Das exzentrische Subjekt und die Maschine: Felix Kubin

Maximilian Haas (Berlin)

 

 

 

 

 

 

I. Anamnese

Wie der begnadete Autor und Musiker Nick Currie aka Momus treffend feststellte, ist Felix Kubin in das zeitliche Außerhalb seines ästhetischen Bezugsrahmens hineingeboren worden. Zu jung, um an der Neuen Deutschen Welle teilzunehmen, identifizierte er sich doch mit der Bewegung und ihren Inspirationsquellen, die weiter noch in der Zeit zurückreichen: bis Punk, was die Attitude betrifft, bis Kraftwerk, was den Sound angeht, bis zum Surrealismus, was die Texte und bis zum Dadaismus, was die Performance anbelangt. Diese Ahnengalerie lässt bereits wichtige Züge von Kubins künstlerischer Persona erkennen, die eine ex-zentrische Position des Subjekts zu sich selbst und seinem Schaffen betreffen. Da ist zunächst der Glaube an Transgression und Exzess als ästhetisch produktive Zustände, die Unterwerfung gegenüber dem schöpferischen Genie musikalischer Maschinen, das Vertrauen auf das poetische Potential der idiosynkratischen Verknüpfung von Zeichen im Unbewussten und die Lust am exaltierten Auftritt, die jegliche Beziehung der performten Erscheinungsform zu der Person des Performers negiert (zumal die des Ausdrucks). Die verschiedenen Bereiche von Kubins künstlerischem Schaffen, seine Kompositionen zwischen Pop und Neue Musik, seine Radioarbeiten, seine Live-Performances und nicht zuletzt sein Kleidungs- und Tanzstil verbinden sich zu einem Gesamtkunstwerk der Dezentrierung und Hysterisierung. Dabei platziert sich Kubin exzentrisch gegenüber der Position des selbst-bewussten und -transparenten, intentional und zielorientiert gestaltenden Künstlers. Seine handwerkliche Versiertheit in Komposition und Inszenierung ist dafür eine notwendige Bedingung und steht zum entworfenen Selbstbild in einem paradoxen Entsprechungsverhältnis.

Zwei nachdrücklich wiederkehrende Momente in Felix Kubins Schaffen sind Geister (lebende Tote, Wiedergänger) auf der einen und Maschinen (zumal alte Klangerzeuger) auf der anderen Seite – also ahumane Handlungsinstanzen, die aus vergangenen Zeiten grüßen. Wo Nick Currie mit Blick auf den Künstler zusammenfasst: „Felix Kubin has made up for lost time.“ (Currie 2010: 28), könnte man aus Perspektive seines künstlerischen wie technischen Materials auch von einer unheimlichen Heimsuchung aus der Vergangenheit sprechen. In seinem Hörspiel Paralektronoia (WDR 2004), das der Künstler verschiedentlich zu Lecture-Performances umgearbeitet hat, bilden sich die oben angesprochenen Momente des künstlerischen Systems Felix Kubin exemplarisch ab. Es kann also als eine Poetik seines künstlerischen Schaffens verstanden werden.

Eine jüngere Arbeit des Künstlers, die Konzert-Performance Testest (Berghain, Deutschlandradio Berlin 2011), bewegt sich im selben thematischen Bezugsrahmen, zeigt aber ein anderes Verhältnis von Mensch und Maschine, eine andere Ästhetik des Zusammenwirkens des Künstlers mit seinen technischen Instrumenten. Zwar ist das Subjekt hier nicht minder außer sich, es taumelt aber dabei nicht mehr auf der Grenze seiner Selbsterhaltung – es hat sich vielmehr bereits aufgegeben. Die Performance zeigt das Verhältnis Mensch-Maschine nicht als Krise, sondern als harmonischen Zustand gegenseitiger Beherrschung im Medium einer geteilten technizistischen Vernunft.

 

 

II. Hysterie

Die Hysterie ist ein psychologisches Krankheitsbild, das als Denkfigur tief in den außermedizinischen Alltag hineingewirkt hat. Ab den 1950er Jahren wurde der Begriff zugunsten differenzierterer Termini, wie dissoziative Störung, Konversionsstörung, Somatisierungsstörung oder psychoreaktives Syndrom aus dem Vokabular von Psychologie und Psychoanalyse gestrichen – zumal er eine etymologische Verwandtschaft mit dem weiblichen Geschlecht (qua hystera – altgr. Gebärmutter) aufwies und ihm eine negative Wertung pauschal anhaftete. Dadurch wurde das Konzept gewissermaßen frei für eine breitere Anwendung, die nicht pathologisch gemeint sein muss. Gleichwohl aber begleiten das Wort weiterhin Konnotationen von Anomalie, Ekstase (im altgr. Wortsinn ein Außersichsein), körperlicher Revolte gegen die Vernunft usw. Auf vielen Ebenen verbindet sich der (post-)pathologische Begriff mit Felix Kubins künstlerischer Arbeit und Persona (was auf das Gleiche herauskommt).

Die kurze Karriere der Hysterie als psychologischer Krankheit beginnt im späten 19. Jahrhundert. 1888 stellte der Leipziger Neurologe Paul Julius Möbius in seinem einflussreichen Aufsatz Ueber den Begriff der Hysterie fest: „Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Veränderungen des Körpers, welche durch Vorstellungen verursacht sind.“ (Möbius 1888: 66) Sigmund Freud und Josef Breuer fügten der Definition in ihren revolutionären Studien über Hysterie von 1895 eine zeitliche Dimension hinzu, indem sie die angesprochenen Vorstellungen, die gänzlich ohne das Zutun organischer Ursachen somatische Symptome hervorzurufen vermögen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberwirken sahen: „[D]er Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen“ (Freud/Breuer 1990: 10), heißt es dort – an Heimsuchungen von Bildern aus der Vergangenheit also, die vom Kranken Besitz ergreifen.

Zunächst als rein weibliches Phänomen konzipiert, traf die Diagnose Hysterie ab Anfang des 20. Jahrhunderts auch männliche Patienten, bevor sich das Konzept in verschiedene Krankheitsbilder auflöste. Von den – im Wesentlichen männlichen – Medizinern des 19. Jahrhunderts wurde die Hysterikerin als monströse Kind-Frau geschildert, als „labil, oberflächlich sexualisiert, exhibitionistisch, mit einer Neigung zu dramatischer Körpersprache und großen Gesten“ (Smith-Rosenberg 1981: 293). Dabei wurde sie als eine ich- und positionslose, unberechenbare Figur wahrgenommen, die nicht einmal die grundlegendsten Regeln des gesellschaftlichen Umgangs zu befolgen imstande war: „In ihrer Fähigkeit zur Ekstase und zur totalen Hinwendung an ihre Umgebung gab die Hysterikerin den Mittelpunkt der eigenen Existenz auf. So brachte das äußere Erscheinungsbild der Hysterie diese schließlich in Verruf, einer primitiven soziokulturellen Organisationsform zu entsprechen.“ (Schaps 1982: 64) Die Hysterikerin brach dabei mit dem weiblichen Rollenmuster der Zeit, „indem sie krankheitshalber weder mütterlichen noch hausfraulichen Pflichten nachkam.“ (Weickmann 1997: 14) So war die Krankheit seit jeher von der emanzipativen Möglichkeit zu ungestrafter (wohl aber mit oft drakonischen Mitteln ‚therapierter’) Delinquenz und Subversion sozialer Rollenbilder sowie der Befreiung von den damit einhergehenden Verpflichtungen verbunden.

Die Ausbildung der hysterischen Symptome ist dabei aber nicht als monologischer Ausdruck der Krankheit seitens der Patientin zu begreifen, sondern entwickelte sich im Dialog mit dem behandelnden Arzt. Wie Georges Didi-Hubermann an Jean-Martin Charcots berühmten Fotografien hysterischer Anfälle bei Patientinnen der Pariser Salpetrière zeigen konnte, handelte es sich bei der Darstellung der hysterischen Symptome um ein Schauspiel, das des Zuschauers bedurfte: „Was die Hysterischen [...] mit Ihrem Körper zur Schau gestellt haben, entspringt einem außerordentlichen Einverständnis der Mediziner mit den Patienten.“ (Didi-Huberman 1997: 8) Die Bilder zeigen Frauen in mechanisch überspannten Positionen, mit theatralisch aufgerissenen Augen und mit derart widersprüchlichem Ausdruck, als seien sie von einer fremden Macht besessen.

Das männliche Krankheitsbild der Hysterie entwickelte sich in den Vorwehen des 1. Weltkriegs und bezog sich auf direkt gesellschaftlich deviantes Verhalten – in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz und vor allem beim Militärdienst. Das körperliche Versagen des Mannes im Angesicht seiner Aufgaben (zumal im Schützengraben) „wurde von den Ärzten sofort als Politikum eingeordnet und als ‚Drückebergerei’, ‚Schmarotzertum’ und Staatsfeindschaft in Verruf gebracht.“ (Weickmann 1997: 12) Sah man die weibliche Form der Hysterie als privates Phänomen kranker Frauenkörper, so behandelte man die männliche Form als öffentliches Problem der Erkrankung des Volkskörpers. Beide Spielarten aber boten eine „Symbolisierung des [im Kontext ihres Auftretens] Verdrängten und Unterdrückten“ dar, und damit ein Aufbegehren, das als produktive Funktion der Krankheit gesehen werden kann. (Habermas 1994: 176)

Von der dissoziativen Fixierung auf Bilder der Vergangenheit über die Ästhetik der Körpersprache und die Affirmation von Exzess, die im Dialog mit dem Publikum und seiner Erwartung ausagiert wird, bis hin zum soziologischen Verhältnis von Normalität und Subversion, ist in Kubins Schaffen ein deutliches Echo der Hysterie-Geschichte zu vernehmen. Im Unterschied aber zu der Krankheit, die ein passives Subjekt befällt (eine verbreitete Auffassung, die ohnehin zweifelhaft ist), werden die hysterischen Symptome bei Kubin kontrolliert herbeigeführt, instrumentalisiert. Er verwandelt das Erbe der Hysterie in ein Werkzeug der Hysterisierung, das er zunächst auf sich selbst anwendet, schließlich aber auch auf nicht-menschliche Instanzen wie Maschinen, wie noch zu sehen sein wird. Das paradoxe Verhältnis von Kontrolle und Überschreitung, das in der Instrumentalisierung hysterischer Symptome liegt, wird zur grundlegenden Spannung des performativen Spiels, das Kubin lustvoll in verschiedenen Medien entwickelt.

 

 

III. Paralektronoia (Identifikation)

Felix Kubins Radio-Hörspiel Paralektronoia beginnt mit einer kurzen Erzählung, die sich als autobiografischer Prolog zu verstehen gibt und bereits klar macht, um wen sich das Hörspiel dreht und wer da (zumindest fiktiv) spricht – Felix Kubin. Dieser erzählt, wie sich mit dem Einbruch der Vernunft in die Welt des noch kleinen Kindes, das er einmal war, die Geister zurückzogen, die den Jungen zuvor nachts in der Dunkelheit des Kinderzimmers aufsuchten; und wie dieser traurige Verlust ausgeglichen wurde, als der nun jugendliche Felix seinen ersten Synthesizer geschenkt bekam. Mit einem Mal bricht ein furioses Synthesizer-Stakkato über das Hörspiel herein, das als hysterisch beschrieben werden kann. Der elektronische Klangerzeuger wird hier als ein Medium im Sinne des 19. Jahrhunderts präsentiert: als eine Instanz, die Kontakt zu Geistern vermittelt. Der Prolog entwirft so eine biografische Urszene für das ominöse Verhältnis, das bereits der Untertitel des Hörspiels ankündigt: Über Geister und Elektrizität.

Was nun folgt, ist eine merkwürdige Mischform aus Hörspiel und Feature, die Schnipsel von Interviews, die mit einschlägigen Künstlern und Wissenschaftlern geführt wurden, mit musikalischen Kompositionen und Zitaten sowie einer Erzählung, die zwischen autobiografischem Bericht und SciFi-Abenteuer changiert, zu einer psychedelischen Reise durchs Material des Künstlers und ins Ich des Protagonisten verbindet, die beide den selben Namen tragen: Felix Kubin.

 

Auszug aus Paralektronoia (Material aus der Live-Version)

 

Das Ganze beginnt – wie viele gute Geschichten, nicht zuletzt bei Kafka – mit einer Anomalie: Der Erzähler bemerkt in seinem rechten Ohr ein Geräusch, das da nicht hingehört, aber keine Anstalten macht, zu verschwinden. Tief beunruhigt wendet er sich an das so genannte Paralektronische Institut (Abteilung: Erforschung und Behandlung elektroakustischer Grenzfälle), wo er in mehreren Etappen verschiedene Diagnose-Verfahren durchläuft, bei denen er unter anderen dem schwedischen Klangkünstler Carl Michael von Hausswolff und dem deutschen Medienwissenschaftler Stefan Andriopoulos begegnet, die über geisterhafte Phänomene und technische Medien berichten, angetrieben vom (zumal historisch) nicht ganz abwegigen Verdacht, dass sich in der Elektrizität körperlose Stimmen aus der Vergangenheit artikulieren. Immer tiefer arbeitet sich der Erzähler so in das merkwürdige Forschungsinstitut vor, bis er schließlich auf die amerikanische Klangkunst-Koryphäe Alvin Lucier trifft, den Direktor des Instituts. Es stellt sich heraus: Das Geräusch in seinem Ohr war nichts anderes als das klangliche Resultat von Luciers legendärer Klanginstallation I am sitting in a room im Endstadium. Das Setting der Installation ist einfach: In einem gewöhnlichen Raum befindet sich ein Lautsprecher und ein Mikrophon. Der Lautsprecher gibt ein Klangsignal wieder, das vom Mikrofon aufgenommen und zeitverzögert wieder durch den Lautsprecher eingespielt wird, und immer so weiter und so fort... Dabei wird die ursprüngliche Aufnahme – die Stimme des Künstlers im Raum, die sagt: „I am sitting in a room, different from the one you are in know [...]“ – von den Umgebungsgeräuschen zunehmend überlagert, so dass sich der für das Sprachverstehen notwendige Signal-Rausch-Abstand mehr und mehr verringert und sich die Nachricht im Gemurmel das Raums verliert. Denkt man diese Feedbackschleife zu Ende und verlängert sie aus dem Entstehungsjahr des Werks – 1969 – bis heute, so bleibt nichts von dieser körperlosen Stimme aus der Vergangenheit als das merkwürdige Geräusch im Ohr des Protagonisten. Auch die geisterhaften Stimmen in den Maschinen also unterliegen den Gesetzen der Physik und altern – mit zum Teil entstellender Wirkung.

Zum Ende des Hörspiels zeigt sich, dass dieser Klang aber keinesfalls zufällig in Kubins Ohr gelandet ist, sondern eigens zu dem Zweck dahingepflanzt wurde, dass er das Institut aufsuche und den Gang durch die Abteilungen mache, wobei er – wie nun deutlich wird – seinen Körper verlor und zu einem rein stimmlichen Phänomen wurde, zu einer geisterhaften Erscheinung, bestehend aus nichts anderem als Radiowellen. Doch damit nicht genug: Der Hörer – über das einstündige Hörspiel mit der körperlosen Stimme, mit der Figur Felix Kubin bestens identifiziert – ist nun selbst an der Reihe, seinen Körper zu verlassen und qua Klangtechnik ephemer zu werden. Die perfide Pointe des Hörspiels besteht darin, dass es den Hörer von Beginn an zum Leihkörper für den Erzähler macht. Die Stimme, die aus der Intimität der ersten Person singular das Geschehen schildert, ist immer mittig im Hörfeld positioniert. Zudem wurde das Gros der Geräusche, die die räumlichen Situationen der akustischen Szenen konstituieren, mit einem Kunstkopfmikrofon aufgenommen, sodass – hört man das Stück auf einem Kopfhörer (was sich daher dringend empfiehlt) – der akustische Raum um das hörende Subjekt plastisch erscheint. Klangtechnisch betrachtet und gefühlt befindet sich also im Zentrum des Stücks der Hörer, die Erzählerstimme ganz nah bei sich – so nah, dass sie sich als innere Stimme vernehmen lässt. Auf der Ebene der Erzählung und der Komposition sowie auf der Ebene der konkreten Hörsituation lässt sich das Stück also als eine Technik der Hysterisierung verstehen. Die Figur, die aufgrund einer Heimsuchung durch Klangbilder aus der Vergangenheit pathologische körperliche Symptome ausbildet und beim Heilungsversuch aus sich herausfährt, besetzt (wiederum als Klangbild) den Körper des Rezipienten und übernimmt dabei das Regiment im hörenden Subjekt. Über etwaige körperliche Anomalien bei Hörern sind dem Autor keine repräsentativen Daten zugänglich.

 

Auszug aus Paralektronoia (Ende des Radiohörspiels)

 

 

 

IV. Testest (Konfrontation)

Die Konzertperformance Testest von Felix Kubin und Veronika Zott bearbeitet ein ähnliches Themenfeld wie das Hörspiel Paralektronoia, wählt aber einen gegensätzlichen Zugang. Aus Anlass des Art’s Birthday 2011 am 17. Januar im Berghain in Berlin aufgeführt, wurde das Stück von Deutschlandradio Berlin produziert und als Hörfassung dort auch live gesendet. Wieder sind wir im Radio, wieder spielen elektronische Klangerzeuger die Hauptrolle – die menschlichen Akteure sind diesen untergeordnet –, wieder grüßt die Vergangenheit in Form utopischer Zukunftsbilder, wie man sie heute höchstens noch erinnert. Sie zeigen die harmonische Verschränkung von Mensch und Maschine im Geiste einer technischen Rationalität als ästhetische (Zusammen-) Lebensform – ein Bild aus einer Zeit, bevor man die Mensch-Maschine-Relation als Krieg in einem dystopischen Weltuntergangsszenario darzustellen begann. Wo im Hörspiel die Geister aus der Maschine in den Menschen fahren, präsentiert die Konzertperformance die Konfrontation der menschlichen Körper mit den Körpern der Maschinen in einem Bühnensetting, das an Aufgeräumtheit, Aseptik und vermeintlicher Objektivität einem wissenschaftlichen Labor in nichts nachsteht. Wo das Hörspiel die Innenwelten von Mensch und Maschine auslotet, vermisst die Performance ihre phänomenale Erscheinung und den empirischen Raum ihrer Interaktion.

 

Felix Kubin, Veronika Zott: Testest (Kurzdokumentation)

 

Der Komponist Kubin und die Choreografin Zott sind in Overalls gekleidet, die aus der Zeit zu stammen scheinen, als man sich auf die Zukunft noch gefreut hat. Sie erinnern an die Raumanzüge früher ScienceFiction-Serien oder die Schutzkleidung von Arbeitern in Atomkraftwerken, wie man sie aus fortschrittsgläubigen Darstellungen der 1950er und 1960er Jahren kennt und die modisch kommunizieren, dass Atomkraft eine vernünftige und saubere Sache ist. Die vorherrschende Farbe ist Weiß, hellgrauer Besatz betont die Vertikale des Oberkörpers und die Knie als wichtige Gelenke der integralen Mechanik des menschlichen Körpers. Der Schnitt des Anzugs orientiert sich streng an der Silhouette seines Trägers bzw. seiner Trägerin, ohne aber den Bewegungsspielraum einzuschränken. Kurz: Die Overalls sind ökonomisch und funktional konzipiert.

Die Bühne steht in der Mitte des großen Raums im Berliner Berghain und erlaubt so, das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Auf der quadratischen Grundfläche sind die Klangerzeuger verteilt: Mikrofone, ein Plattenspieler, Trommeln, ein Synthesizer, Laptop, Loopmaschine, usw. stehen meist einzeln so weit auseinander, dass ihre Bedienung die ständige Bewegung der Performer im Raum erzwingt, und so nah beieinander, dass diese nie hastig oder ausladend wird. Zwischen den Bühnenelementen ist genügend Raum, um einfache Bewegungsmuster auszuführen, zu wenig aber, um tänzerische Bewegungen und Interaktionen durch den Raum zuzulassen, wie man sie auf einer herkömmlichen Theaterbühne aufführen könnte – jeder Schritt, Gang, jede Geste bleibt räumlich auf die umgebenden Maschinen bezogen.

Die Performance präsentiert ein Mensch-Maschine-Verhältnis, das nicht von der unheimlichen Bedrängung des Menschen durch den Geist (in) der Maschine erzählt, sondern von der kalten Harmonie der gegenseitigen Beherrschung von Mensch und Maschine im geteilten Geist einer technizistischen Vernunft. Nicht zufällig erinnert das Bewegungsmaterial an die Experimente russischer Konstruktivisten mit der Biomechanik des Tänzerkörpers – es folgt systematisch den Möglichkeiten der menschlichen Gliederpuppe, geometrische Figuren zu beschreiben. Dabei sind die Bewegungen verschiedentlich mit der Geometrie der Klangerzeuger und ihrer Klänge verschränkt. Mal greift die Choreografie das langsam aufsteigende Glissando eines Tons als Bewegung der Arme von unten nach oben auf, mal meint man die Drehbewegung des Fingers am Knopf des Synthesizers oder die der Schallplatte im gestischen Vokabular der Performer wiederzuerkennen. Die Bewegungen, die die Maschine aufführt bzw. dem Menschen in der Bedienung abnötigt, werden hier als künstlerisches Material erkannt und in Choreografie übersetzt, wobei technische Parameter wie Geschwindigkeit, Größe etc. im Übersetzungsprozess teils modifiziert oder moduliert werden. Die Körper setzen sich so in Analogie zu den Maschinen, deren implizites Bewegungsmaterial dabei aus der Latenz tritt. Hinzu kommt die Geometrie der Klänge selbst: Was wir neben verstreuten Sprachsamples vor allem hören, sind Sinustöne und Rauschen – Klänge also, die sich durch eine mathematische Einfachheit auszeichnen, die etwa eine so geometrisch-reduzierte Form darstellen wie Kurve oder Welle. Besonders deutlich tritt das hervor, wo ein Sprachsample die Höhe des Tons und also die Länge seiner Welle ansagt. Man visualisiert dabei den Klang als graphische Struktur, als bewegtes Bild auf dem Display eines Oszillographen. Auch mit dieser formalen Dimension des elektronischen Klangs scheinen die Performerkörper sich in der Choreografie zu synchronisieren.

Das Klangmaterial, von dem die Performance ausgeht, ist allerdings nicht schlicht abstrakt. Es hat – wie die Performance überhaupt – ein Thema: Testsignale. Damit werden all die klanglichen Phänomene bezeichnet, die die Aufmerksamkeit des Hörers auf den technischen Apparat zu ihrer Hervorbringung lenken: vom „Test, Test, One, Two“ und dem Anspielen der Instrumente bei Soundchecks, über monotone Testtöne in der Fernsehsendepause bis hin zu Radiosendungen, die die korrekte Aufstellung der heimischen Stereoanlage anleiten und erproben. Testsignale sind selbstreflexiv – sie sprechen ihre medientechnischen Bedingungen an. Nehmen Kubin und Zott diese Klänge zum Ausgangsmaterial ihrer musikalischen und choreografischen Komposition, so befreien sie sie aus ihrem „Gefängnis der Funktionalität“ (dradio.de 2011), rahmen sie in einem künstlerischen Werk und machen sie so einer ästhetischen Wahrnehmung zugänglich.

Bei der Abseitigkeit des Klangmaterials und den historischen Zitaten in Musik, Choreografie und visueller Ästhetik, die eine Zeit ansprechen, die ein wenig komplexes Verständnis der Mensch-Maschine-Relation unterhielt, könnte man meinen, die Konzertperformance Testest sei komisch. Dies ist aber nicht der Fall. Zwar distanziert sich die Arbeit von ihrem Material, nie aber wird die Distanz ironisch. Mit großem Ernst und geradezu maschineller Selbstzurücknahme führen Kubin und Zott ihre Scores aus. Im Unterschied zu früheren Arbeiten von Felix Kubin gestaltet sich das Zusammentreffen von Mensch und Maschine, Künstlersubjekt und technischem Objekt nicht als hysterischer Akt der Inbesitznahme oder des Besessen-Seins, sondern als Zusammenarbeit nach Maßgabe eines gemeinsamen Gesetzes.

 

 

V. Diagnose

Im Jahr 2002 erscheint das Album The Tetchy Teenage Tapes of Felix Kubin 1981-1985. Die Musik verkörpert bereits die wesentlichen Merkmale der musikalischen Ästhetik von Felix Kubin – es finden sich überspannt-monotone Electrobeats, die überhastet nach vorne preschen, anarchistische Synthesizer-Solos, die sich auch mit dem aggressiven Free Jazz eines Peter Brötzmann gut vertragen würden, jede Menge klanglichen Nonsens, der eine vernünftige Rolle im musikalischen Arrangement nicht einnehmen möchte, sowie Stakkato-Melodien und redundant hämmernde Rhythmen, die sich zu mechanisch-überreizter Tanzmusik verdichten –, soll aber, schon allein dem Titel nach zu schließen, von einem Zwölfjährigen im Kinderzimmer aufgenommen worden sein, um dann erst zwei Dekaden später als kurioses Frühwerk veröffentlicht zu werden.

 

Fernsehpropheten (The Tetchy Teenage Tapes of Felix Kubin 1981-1985, Track 10)

 

 

 

Entweder man hat es hier mit einem brillant inszenierten Fake zu tun, mit einer mythologischen Ursprungserzählung, oder mit einem Beleg für Kubins Genie, das in seiner Präpubertät bereits über alle stilistischen Mittel seiner späteren Musik-Ästhetik verfügte.

Kubins musikalische Erweckung fällt demgemäß in eine Nicht-Zeit: biografisch gesehen in eine mythische Unzeit, die erst in der (Nach-)Erzählung zum tragen kommt, oder mit Blick auf die Musikkultur der neunziger Jahre als schlicht unzeitgemäß, betrachtet man Kubins nachträgliche Adaption der NDW-Ästhetik. Es scheint generell das Jüngstvergangene, das seiner Person und Situation je Verschiedene zu sein, das Kubin zur Identifikation und künstlerischen Verkörperung – und dabei zur Wiederbelebung – reizt. Dieses Vorgehen ist mit Travestie besser beschrieben als mit Parodie, obwohl die Darstellung dabei oft auch als verspottende Nachahmung betrachtet werden kann, die den Heiligen vom Sockel holt – aber nicht in allen Details so gesehen werden muss. Travestie und Hysterie weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf; fast scheint es, als seien sie Spiegelfiguren, die erste auf der Oberfläche, die zweite in den Tiefen des Subjekts – mit der Einschränkung aber, dass bei der Travestie ein intentionales Vorgehen des Subjekts angenommen wird. Insofern wäre ihr Zwilling vielmehr in der Hysterisierung als in der Hysterie zu vermuten.

Mit Anfang Zwanzig gründete Kubin die Gruppe Liedertafel Margot Honecker. Die nach der Ehefrau des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR benannte Gruppe belebte die ostdeutsche sozialistische Folkloremusik in dadaistischer Verzerrung wieder. Nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus in Osteuropa erfuhr die verschmähte Kultur so eine maskenhafte Neubelebung durch westlich sozialisierte Künstler, die das fremde Bild dabei derart glaubhaft verkörperten, dass sich ein kleiner verwunderter Medienhype um das Projekt bildete.

Auch Kubins Arbeiten in Formaten, die klassischerweise der bürgerlichen Hochkultur zugerechnet werden, scheinen im Modus der Travestie entwickelt worden zu sein: Bei aller Ernsthaftigkeit im Umgang mit Form und Material, scheint doch oftmals in den Projekten eine Differenz auf, die zumindest als Möglichkeit aufruft, dass die jeweilige künstlerische Aufgabe im Modus der Uneigentlichkeit erledigt wurde und der Künstler bei prinzipieller Ablehnung des hochkulturellen Betriebs den Beweis führen wollte, dass mit den Mitteln von Pop und Dilettantismus die interessantere Kunst entsteht. Dies gilt für Kubins Hörstücke, die sich mal als Zwitter von dramatischem Hörspiel und Feature präsentieren (wie bei Paralektronoia) und dabei dokumentarisches Material derart in eine fiktionale Geschichte einbetten, dass dessen faktischer Wahrheitsgehalt dubios wird und ein Fake-Verdacht noch das nebensächlichste Element befällt; und gilt ebenso für Kubins Ausflüge in die Neue Musik und in die Performancekunst, wo zumal seine Lecture-Performances (bereits in sich, der Name zeigt das an, ein Bastard-Format) in ihrem Doppelcharakter von Pop-Konzert und wissenschaftlichem Vortrag seiner Travestie-Methode entsprechen.

Was einerseits der Dilettantismus zu leisten im Stande ist, als eine Methode, den seriösen Formaten in Wissenschaft und Kunst die Autorität auszutreiben, das vermag andererseits die Hysterie – nicht als pathologische Zustandsbeschreibung, sondern als bewusstes Mittel: als Hysterisierung. Angefangen bei den pathologischen Ursachen, den Vorstellungen aus der Vergangenheit, den „Reminiszenzen“, wie Freud/Breuer formulieren, über die körperlichen Symptome und Verhaltensmuster, die sich im Dialog mit dem Zuschauer oder Zuhörer, für und durch ihn herausbilden, bis hin zu den soziopolitischen Konsequenzen – der Symbolisierung des Verdrängten und der Subversion verbindlicher Handlungsmuster in der jeweiligen kulturellen Situation – kann man Kubins künstlerische Arbeit und Persona in diesem Sinn verstehen: Sie schlägt unvermittelt und unerklärt von einem Extrem ins andere um und wird nie ganz kongruent mit sich selbst.

Kubins jüngere Arbeiten aber werfen ein anderes Licht auf den Zusammenhang – neben der Performance Testest wäre hier auch die performative Installation Echohaus (Sophiensaele Berlin, Maerzmusik 2010) zu nennen. Zwar bewegen diese sich weiterhin in der Kubinschen Ästhetik – die bekannten Klänge, Bilder, Gesten aus der Vergangenheit machen weiter das Material aus –, doch hat die künstlerische Auseinandersetzung damit ihr krisenhaftes Moment verloren. Weiterhin steht die Autorität des Künstlers über sein Material und seine Maschinen im Zweifel (eine Haltung, die gleichwohl mittels größter Souveränität im Umgang mit Material und Maschinen artikuliert wird), nun aber scheinen sich das Subjekt und seine Geister an einem dritten Ort zu begegnen, an dem sie sich gegenseitig beherrschen.

 

 

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Literatur

Currie, Nick (aka Momus). The Spinner. In: Wire, #320. Juni 2010 (S. 28-35)
Dradio.de. Ankündigungstext Art’s Birthday 2011 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/artsbirthday/1352078/ [Stand: 18.01.2012]
Didi-Huberman, Georges. Erfindung der Hysterie. München 1992.
Freud, Sigmund / Breuer, Josef. Studien über Hysterie. Frankfurt/Main 1990.
Habermas, Tilmann. Zur Geschichte der Magersucht. Frankfurt/Main 1994.
Möbius, Paul Julius. Ueber den Begriff der Hysterie. In: Zentralblatt für Nervenheilkunde, 11. Jg. 1888.
Schaps, Regina. Hysterie und Weiblichkeit. Frankfurt/Main 1982.
Smith-Rosenberg, Caroll. Weibliche Hysterie. In: Listen der Ohnmacht. Claudia Honegger, Bettina Heintz (Hg.). Frankfurt/Main, 1981. (S. 276-297)
Weickmann, Dorion. Rebellion der Sinne. Frankfurt/Main, New York 1997.