Bewegungsbasierte Klangerzeugung: Marcel Ducout und die „danse sonore“

Franz Anton Cramer (Berlin/Paris)

 

 

 

 

 

 

Das Verhältnis von Musik zu Bewegung als spezifisches Merkmal von Tanz ist ein gängiger Topos sowohl in der Tanzgeschichtsschreibung wie auch in der tanzwissenschaftlichen Analyse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Sachs 1933). Und auch in der künstlerischen Praxisanalyse ist die Verknüpfung von Bewegung und Musik zu einer choreographischen Komposition nach wie vor zentrales Thema (Betzwieser [Hg.] 2009; Malkiewicz / Rothkamm [Hgg.] 2007).

Doch sind Art und Ausmaß dieser Verknüpfung immer wieder Gegenstand radikaler Befragungen gewesen. Sie reagieren vor allem auf neue Medien und mediale Techniken, insbesondere synthetische Tonerzeugung, elektroakustische Musik und Aufzeichnungstechniken. Doch herrscht zugleich in diesem Verhältnis lange Zeit das Primat der Musik: Tanz folgt der musikalischen Komposition. Der künstlerische Einklang kann nur dadurch erfolgen, daß Tanz sich bemüht, ›im Takt zu bleiben‹. Eine solche Beherrschung des Tanzes durch die Musik wird mit der Moderne in Zweifel gezogen.

Mary Wigman arbeitete früh mit freien Rhythmen, die in Anpassung an ihr Tanzen realisiert wurden. Dorothee Günther entwickelte gemeinsam mit Carl Orff eine Perkussionsmusik, die in den choreographischen Arbeiten Günthers teils durch die Tänzerinnen selbst realisiert wurde und daher nicht in einem reinen Beherrschungsverhältnis stand. Eine berühmte Aufnahme von Gret Palucca aus den 1920er Jahren beweist, daß sie ihre dynamischen Sprungfolgen selbst mit Lautmalerei und gesprochenen Rhythmen begleitete. Und auch Rudolf von Laban reklamierte die Unabhängigkeit der Bewegung von der Musik, ohne freilich ganz auf sie verzichten zu wollen oder zu können. Seine Haltung zum hierarchischen Verhältnis von Musik und Bewegung und wie man es lösen könne, bleibt weniger deutlich.

Oskar Schlemmer hatte im Rahmen seiner Bühnenrecherchen am Dessauer Bauhaus auch die Klangerzeugung durch den sich bewegenden Menschen untersucht; im Vergleich zu seinen visuellen Experimenten wie etwa dem „Stäbetanz“ oder dem „Triadischen Ballett“ nimmt sich aber sein „Schellentanz“ (1927) geradezu possierlich aus: Er beschränkte sich darauf, die Tänzerin mit Klangkörpern an den Gliedmaßen auszustatten – insbesondere an beiden Handgelenken, am Knöchel, am Oberschenkel sowie am Torso – und dadurch rhythmische Entsprechungen zur Bewegung zu produzieren (vgl. „Oskar Schlemmer und Tanz“, choreographisches Projekt von Gerhard Bohner, Berlin 1977; Aufzeichnung durch Tanzfilminstitut Bremen 1980; Berlin, Archiv der Akademie der Künste, Nachlaß Gerhard Bohner, Signatur AV 33.1746).

Mit der Entstehung von Musikinstrumenten, die sich der Elektrizität bedienen und zudem Techniken der drahtlosen Übertragung und der Radiowellen einsetzen, wird es in den 1930er Jahren möglich, das Verhältnis von Klang und Bewegung neu zu denken.

 

 

Eine Enzyklopädie der Moderne

In dem ehrgeizigen Projekt einer neuen, der Moderne gewidmeten Encyclopédie, die in Frankreich begonnen wurde und deren erster Band 1935 erschien, sind diesen neuen Instrumenten und musikalischen Praktiken mehrere Einträge gewidmet. Dabei werden zwei große Gruppen identifiziert: elektromechanische Instrumente, deren mechanisch hervorgerufene Schwingungen in elektrische übertragen werden, die dann nach Lautstärke und Klangfarbe modifiziert werden können. Die zweite Gruppe sind „ausschließlich elektrisch funktionierende Instrumente“ (les instruments exclusivement électriques), deren Klang durch Oszillatoren (circuits oscillants) hervorgebracht wird (vgl. Encyclopédie, 16.38-1).

Besonders erwähnenswert, und für die folgenden Entwicklungen auch modellhaft, ist das Thereminvox, 1924 von dem sowjetischen Forscher Leo Teremin entwickelt. Hierbei ließ sich die Tonhöhe wie auch die Tonintensität durch Bewegung beeinflussen. Ein Metallstab, den man dem Schaltkreis nähert oder von ihm entfernt, hat direkte Auswirkung auf den erzeugten Klang; Qualitäten wie Vibrato können hergestellt werden, oder auch Ähnlichkeiten zu herkömmlichen Instrumenten.

Auf der internationalen Ausstellung „Musik im Leben der Völker“ (Frankfurt am Main, 11. Juni bis 28. August 1927) ist ein Raum dem Sphärophon gewidmet. Im Katalog heißt es dazu: „In diesem Raum führt Jörg Mager zum ersten Male einer größeren Öffentlichkeit seine radioelektrischen Tonerzeugungsinstrumente vor und zwar ein Melodie-Sphärophon ohne, und eine Musiksphärophon mit Tastatur. Ein ›Kaleidophon‹ zeigt einen Reichtum an Möglichkeiten im Sinne eines mehrstimmigen ›Omnitoniums‹.“ (Meyer 1927: 319)

Allerdings sind solche Entwicklungen vornehmlich auf die Instrumentalpraxis gerichtet. Der Flugzeugingenieur und Dichter Marcel Ducout führt in den 1930er Jahren dagegen seine Experimente zu einer „danse sonore“ durch, einem akustisch grundierten Tanz, bei dem die Tänzerin selbst mittels ihrer Bewegung das Klangmaterial erzeugt, das ihren Tanz dann gleichsam hörbar macht – und nicht, wie sonst üblich, die Musik „vertanzt“.

 

 

Bewegung als Klang

Ducouts Untersuchungen gehen von der These aus, daß die vollkommene Einheit von Tanz und Musik, wie sie dem künstlerischen Tanz weithin als Vision eingeschrieben ist, gar nicht denkbar sei. Und dies nicht aufgrund physischer oder intellektueller Unvollkommenheiten, sondern aufgrund der fundamentalen Geschiedenheit beider Elemente. Die Trennung zwischen tänzerischer Bewegung und musikalischer Grundlage wäre erst dann aufgehoben, „wenn die Bewegungen der Tänzerin selbst und nicht die des Pianisten die Musik hervorbrächten“, schreibt Ducout in seiner Publikation „La danse sonore“ (Ducout 1940: 2)

Um den ästhetizistischen, durch Aufführungspraxis, Publikumserwartungen, Tradition und klassizistisches Beharrungsvermögen verunreinigten und konzeptionell unbrauchbar gewordenen Zusammenhängen von musikalischer und tänzerischer Bewegung bzw. von Bewegungs- und Klangerzeugung eine neue Grundlage zu geben, rekurriert Ducout daher auf die neuen Medien der Musik. In seinen Experimenten geht es darum, daß eine Tänzerin auf der Bühne auf noch näher darzulegende Weise eine radio-elektrische Apparatur in Gang setzen soll, vermittels derer dann die Bewegung zu Klang wird. Dabei ist wichtig, daß es um die Bewegung des gesamten Körpers geht, nicht nur um die spezifischen, mechanisch und sensoriell begründeten Gesten und Bewegungen des Instrumentalisten.

Es bedürfe daher, so Ducout, einer Form, welche die Nachteile des getrennten Agierens beider Sphären einschließlich ihrer je unterschiedlichen Darbietungs- und Produktionsformen ausgleicht. Diese Homogenisierung des sowohl nach Wesen wie auch nach herkömmlicher Aufführungs- und Theoriepraxis Geschiedenen soll die „danse sonore“ leisten, der „akustische Tanz“, denn er muß sich keinerlei fremder Zufügungen mehr bedienen:

„Der akustische Tanz erlaubt es, [...] sich nicht mehr auf Motive und Modulationen zu stützen, die von äußerlichen Faktoren angeregt werden. [...] Die hier vorgeschlagene Verbindung entnimmt alle ihre Elemente ausschließlich den beiden Bereichen, aus denen sie sich zusammensetzt. Die äußeren Bestandteile, welche die Musik sonst braucht [gemeint sind gestische Handlung des Instrumentalisten, Tonhöhe und Instrumentalkunde, Anm. d. Verfassers], entstammen unmittelbar dem Tanz, und was der Tanz benötigt, entsteht aus der Musik. Diese Verknüpfung wird ausschließlich von eigenen, inneren Regeln gelenkt und stellt damit [...] eine reine Kunst dar.“ (Ducout 1940: 75)

 

Gerade aus der Verbindung zweier Formen, die sonst aufeinander angewiesen waren (oder jedenfalls in dem Ruf standen, nur abhängig voneinander zu existieren), kann eine neue, eigentliche und eben „reine“ Form entstehen. Dem zugrunde gelegt werden immer wieder physiologische Befunde und experimentelle Ergebnisse, um eine Art naturwissenschaftlicher Begründung des künstlerischen Vorgangs zu liefern. Die Musik sei nunmehr wahrhaft „tanzbar“, denn „sie ist das Produkt des Tanzes. Sie steht mit den vitalen Rhythmen in Einklang. Ihre Plastizität wird sichtbar. Ihre Melodie ist nicht mehr länger bloß beliebige Abfolge von Noten. [...] Sie wird zur Modulation eines Tones.“ (Ducout 1940: 76) Aus einer solchen somatisch dargebrachten Musik ergebe sich dann zwangsläufig auch ein rezeptiver Gewinn: Der Zuschauer wird leichter „erfaßt“ und berührt. „Sie verstärkt [...] ihre Wirkungsmöglichkeiten [...] denn der Klang liegt nahe am Schrei und erschüttert mit seinen Resonanzen den Organismus mehr als die bloße Gebärde.“ (Ducout 1940: 77) Diese Engführung beider Ebenen macht die konzeptionelle wie auch die anwendungsorientierte Stärke der bewegungsbasierten Klangerzeugung aus: „Der akustische Tanz [...] läßt sich [...] im einfachsten Fall durch einen Punkt darstellen, der einen Ton aussendet, welcher je nach seiner Lage variabel ist. [...] So gleichen sich die Bühnentänzerin und die ›unsichtbare Tänzerin‹ der Musik einander an.“ (Ducout 1940: 36)

 

 

Bewegung und Notation

Ducouts Neufassung des Verhältnisses von Bewegung und Klang geht von drei Arten der Bewegung aus, die insbesondere auch im Tanz Gültigkeit haben: Bewegung des Schwerpunktes; relative Bewegung der Teile des Körpers in bezug auf den Schwerpunkt; absolute Bewegung einzelner Partien des Körpers mit Bezug auf ein äußeres Koordinatensystem.

Im ersten Fall handelt es sich um Fortbewegung sowie ein Auf und Ab des gesamten Körpers. Im zweiten Fall werden die Bewegungen der Körperpartien untereinander betrachtet. Im dritten Fall geht es um die Ganzheitlichkeit und die Zweckgerichtetheit einer Bewegung, etwa dem Greifen nach einem Gegenstand oder dem Anlehnen an eine Wand.

In diesem Zusammenhang kommt Ducout noch einmal auf das Verhältnis von Rhythmus und Bewegung, aber auch von musikalischer und tänzerischer Gebärde zurück: „Der Rhythmus des Klangs entsteht aus dem Rhythmus der Bewegung. Im Spiel eines Instruments werden alle Merkmale der Geste augenfällig, die erforderlich sind, um den Ton und seine Qualitäten zu erzeugen.“ (Ducout 1940: 115) Das heißt also, es ergäbe sich eine Art natürlicher, jedenfalls aber sinnfälliger Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Bewegungsarten und ‑rhythmen, welche sowohl zur Klang‑ wie auch zur Tanzerzeugung notwendig sind. Damit ist aber auch impliziert, daß es ebenso wie im Musikalischen im Choreographischen eine Art Trennung zwischen den Grundformen (den Urformen) und deren Materialisierungen, den eigentlichen künstlerischen Gestalthervorbringungen gäbe. Tanz würde so eben nicht mehr nur reine Entäußerungspraxis, sondern vielmehr Ergebnis einer komplexen Struktur der Erzeugung von Formen bzw. rhythmischen Relationen.

Bezogen auf Paul Souriaus Abhandlung Esthétique du mouvement (1886) lassen sich musikalische Geschehnisse kinetisch beschreiben; sie werden als eine Art auditive Bewegungsfolge gefaßt, welche das klangliche Ereignis zugleich zu einem Bewegungsereignis werden läßt. (Ducout 1940: 115 f.) Es gelten im musikalischen Notieren demnach offenbar ähnliche räumliche Wahrnehmungsmuster und Darstellungsparameter wie im Tanz, das heißt es wird die Musik in ihrer Bewegtheit und ihrer räumlichen Abstraktion gedacht. „Wenn es sich im Materiellen so verhält, dann weil eine unausgesetzt und gleichbleibend wirksame Kraft es verlangt: die Schwerkraft. Wir können uns also vorstellen, [...] daß das akustisch Bewegliche im musikalischen Raum eine melodische Strecke zurücklegt und dabei ebenfalls von einer unausgesetzt wirksamen Kraft gelenkt wird“, schreibt der Musikwissenschaftler Georges Urbain (Urbain 1926: 201)

 

 

Anordnungen

Konkret stellt Ducout mehrere Möglichkeiten vor (vgl. Ducout 1940: 159 ff.):

1. Anbringen von sensorischen Flächen auf dem Fußboden, die durch Berührung mit dem Fuß ausgelöst werden. Dabei wird noch nicht die Intensität des Klangs bestimmt. Ducout spricht von einer Art „melodischem Steptanz“ (Ducout 1940: 159), doch werden die einförmigen Töne zu unterschiedlichen Tonhöhen transformiert.

2. Das zweite Verfahren versucht, den gesamten Körper ins Spiel zu bringen. Die Tänzerin liegt ausgestreckt am Boden, es entsteht keinerlei Laut. Erst wenn sie sich erhebt und in die aufrechte Position begibt, erklingt ein Ton mit wachsender Intensität. Dabei ist das Verhältnis räumlich determiniert: Je weiter sich die Tänzerin von der Bühnenmitte entfernt, desto schwächer der Ton. Diese Vorrichtung verwendet zwei Antennen, welche die horizontale und vertikale Position an eine Radio-Vorrichtung übertragen. Aufgrund der technischen und klanglichen Schwierigkeit war dieses Verfahren für choreographische Realisationen wenig geeignet, fungierte aber als sehr geeignetes Trainingsinstrument zur Kontrolle der Bewegungen und zur Feintarierung der Muskeln.

Beim 3. Verfahren wurde der auslösende Moment nicht mehr auf die Körpermasse bzw. den Schwerpunkt des Körpers gelegt, sondern auf eine Hand der Tänzerin. Die gestischen Valeurs der Hand mit ihrer Begabung zu subtiler Feinmotorik steuern nun also die Klangerzeugung im sensorischen Bereich der Antenne. Dabei erfolgte die Übertragung auch mit einem Kabel, das die Tänzerin in der Hand führt. Hierdurch habe sich eine sehr präzise und nuancierte musikalische Darstellung realisieren lassen.

 

Im weiteren Verlauf seiner Experimente verwendete Ducout Lichtbrücken, welche die Tänzerinnen bei ihren Fortbewegungen im Raum durchbrachen, um dadurch Töne zu produzieren. Auch kleine Lichtpunkte (Glühbirnen) am Finger der Mitwirkenden wurden von Objektiven eingefangen und in Tonsignale umgesetzt und verstärkt. In der Verbindung mehrerer dieser Anordnungen waren melodische und rhythmische Variationen und Gleichzeitigkeiten möglich.[1]

„Der akustische Tanz ergibt sich nicht aus einer bloßen Kurzschließung von choreographischer und musikalischer Technik. [...] vielmehr entsteht eine neue, eigenständige Technik. Nicht das neuartige Instrument ist von Interesse, sondern die fruchtbaren Anwendungsmöglichkeiten eines neuen Ausdrucksmittels.“ (Ducout 1940: 158) Von dieser Einschätzung ausgehend ist Ducouts Argumentation aufgebaut: Es muß und soll eine innige, eine inhärente Verbindung zwischen beiden Elementen entstehen, die ihm im Tanz als ohnehin, aber eben unvollkommen, verbunden erscheinen: Bewegung und Musik. Dabei ist die Bewegung, der Aspekt des Entstehens im Moment, im Augenblick (also letztlich das Performative) der Punkt, an dem beide sich fruchtbar begegnen können. Die sinnliche Wahrnehmung erfolgt in beiden Fällen über eine rhythmische Artikuliertheit, im Visuellen wie im Auditiven. Musik und Tanz basieren auf rhythmischen Strukturen, und diese zur Einheit zu bringen ist sein Ziel.

 

 

Ursprünge

Diesen Überlegungen geht, gerade in Frankreich, eine lebhafte kunst- und vor allem auch musikwissenschaftliche Debatte, voraus.

So hatte André Schaeffner 1936 in seinem Schlüsselwerk Origine des instruments de musique (Ursprung der Musikinstrumente) erneut das Postulat aufgestellt, Musik sei aus dem Körper heraus entstanden, ebenso wie der Tanz. Beide Praktiken gehörten in einem archaischen Stadium zusammen. Und auch im westlichen Kulturraum bestünden nach wie vor enge Verbindungen, obgleich die Musik sich vom körperlichen Geschehen, von der leiblichen Gestaltung abgelöst habe und einer „Autonomie“ zustrebe. So dominiere zunehmend das Instrumentale das Vokale, das Konzertante das Opernhafte etc. Die Moderne favorisiere zunehmend Musik ohne Inhalt, eine ornamentale Musik. Die Immaterialisierung der Kunst aber, ihr Bestreben, sie vom körperlichen Geschehen abzulösen, stellt eine konzeptionelle Herausforderung dar.

Der Musikwissenschaftler Victor de Laprade hatte bereits 1881 (Laprade 1881) festgestellt, in der Musik verbänden sich auf paradoxe Weise zwei gegensätzliche Ebenen: „Sie vereint in sich zwei völlig unterschiedliche Sphären [...] die sich nur in einem einzigen Punkt ähneln: ihrer geringen Freiheit. Einerseits grenzt die Musik an die Mathematik, an alles, was auf der Welt ganz und gar immateriell ist [...]; andererseits stürzt sie sich in einen Bereich voller Veränderung und Individualität: in die Phänomene der organischen Empfindung.“ (zit. nach Ducout 1940: 11 f.)

Dieser eigentümliche Widerspruch zwischen der numerisch-kompositorischen Durchdringungstiefe und der Gestaltung von Tönen einerseits, der komplexen, dem Arithmetischen widerstrebenden Wahrnehmungsdichte und -varianz der tatsächlich vernommenen Klänge andererseits müßte eigentlich auch einen Wandel der musikalischen Analyse und des Verständnisses bewirken. „So daß man behaupten könnte [...], die Musik ist von allen Künsten nicht die intellektuellste, sondern im Gegenteil diejenige, welche ›am meisten mit der äußeren Welt verbunden ist, diejenige, die größten Raum den Elementen gibt, welche nicht dem Seelischen angehören, und zwar weil die reine Intelligenz, der Verstand, das moralische Empfinden nicht in der Lage sind, die Musik zu würdigen‹.“ (zit. nach Ducout 1940: 13) Die signifikatorischen Zuschreibungen, die Wirkungsdimensionen und die imitatorischen Valeurs bestimmter musikalischer Formen und Ausprägungen, von Tonarten über Tonhöhen und Modulationen, sind eben nicht statisch, sondern je und je dem Zeitgeschmack, der gesellschaftlichen Disposition und anderen Variablen unterworfen. Demnach wären weder Musik noch Tanz eine universelle Sprache oder ein allgemeingültiges System.

 

 

Schluss

Ducouts Arbeiten brachen mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges ab. Audiovisuelle Dokumente seiner Experimente sind nicht überliefert. Gleichwohl ist die intellektuelle Leistung verblüffend. Denn Ducout stellt alle gängigen Automatismen in Frage, nach denen Musik als Ursprungsort künstlerischer Entäußerung gelten sollte. Gleichzeitig postulierte er die Verbindung von elektroakustischen Vorrichtungen und Verräumlichung im Tanz als eine neue Aufführungsform, gleichsam ein physio-somatisches Hybrid. Aktuelle technische Entwicklungen haben diese Engführung realisiert (vgl. den Beitrag von Andi Otto in dieser Ausgabe). Konzeptionell übertroffen haben sie sie nicht.

 

 

Abb. 1: Bild Seite 153
Graphische Darstellung der Bewegungslinie der Hand in einer Bewegungsfolge, nach Lautintensität und räumlicher Entwicklung

 

 

Abb 2: Bild Seite 157
Graphische Darstellung der Bewegungslinie einer Hand und Rückwirkung auf die Entwicklung des Tons

 

 

 

 

 

Abb. 3: Bild Seite 165
Eines der von Ducout verwendeten Geräte zur Übertragung von Bewegungsimpulsen in elektrische Impulse (hier: Leuchteffekte)

 

 

 

Abb. 4: Bild Seite 178
Graph und Notation der Bewegungen eine Boxers, übersetzt in Tonhöhen

 

 

Alle Abbildungen in: Ducout 1940.

Alle Zitate aus dem Französischen wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt.

 

 

Marcel-Stanislas Ducout (auch Stani Ducout, Stani-Ducout; seine Lebensdaten konnten bislang nicht ermittelt werden) war Luftfahrtingenieur und leidenschaftlicher Pilot. 1940 promovierte er an der Sorbonne mit einer Arbeit über La danse sonore. In den dreißiger Jahren befaßte er sich eingehend mit den technischen Vorbereitungen seiner Konzeption eines akustischen Tanzes, den er zu zahlreichen Gelegenheiten vorführte, so auch 1937, im Jahr der Weltausstellung von Paris. Im gleichen Jahr war er eingeladen, beim Internationalen Kongreß für Ästhetik und Kunstwissenschaft vorzutragen. Ebenfalls 1937 veröffentlichte er (unter dem Namen Marcel Stani Ducout) einen längeren Aufsatz zum selben Thema in der Revue musicale. Er publizierte zudem literarische Texte (etwa 1937 Le raid de la vie sowie La danseuse, le pilote et le poète. Paris: Vivien 1955), ferner eine Gedichtsammlung (D’Annabelle à Jadwiga. 50 filles. Paris: Vivien 1958).

 

 

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[1] Zwar gibt es keinen Hinweis darauf, daß Ducout Kenntnis von den elektrotechnischen, bewegungsanalytischen und bildgebenden Experimenten des sowjetischen Zentralinstituts für Arbeit und seines photokinematographischen Labors hatte (vgl. Misler 2005), doch sind die technischen Parallelen in der Verwendung neuer Technologien verblüffend.

 

Literatur:

Betzwieser Thomas (Hg.): Tanz im Musiktheater – Tanz als Musiktheater: Bericht eines Internationalen Symposions über Beziehungen von Tanz und Musik im Theater. Würzburg : Königshausen & Neumann 2009
Cramer, Franz Anton (2008): In aller Freiheit. Tanzkultur in Frankreich zwischen 1930 und 1950. Berlin: Parodos. (Insbesondere Kapitel xy)
Ducout, Marcel Stanislas (1940): La Danse Sonore. Synthèse de la danse et de la musique. Paris: Presses Universitaires de France.
Encyclopédie française (1935 – 1966). Begründet von Anatole de Monzie. Mitarbeit Lucien Febvre und Gaston Berger. Paris: Éditions Larousse. 21 Bände.
Laprade, Victor de (1881): Contre la musique. Paris: Didier.
Malkiewicz, Michael, Jörg Rothkamm (Hgg.): Die Beziehung von Musik und Choreographie im Ballett. Berlin: Vorwerk 8 Verlag 2007.
Meyer, Kathi (1927): Katalog der internationalen Ausstellung Musik im Leben der Völker. Frankfurt am Main: Hauspresse Werner und Winter.
Misler, Nicoletta (2005): „Biomechanik, Taylorismus, Jazz. Moskau um 1925“ In: Inge Baxmann, Franz Anton Cramer (Hgg.), Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne. München: Kieser, S. 95 – 115.
Sachs, Curt (1933): Eine Weltgeschichte des Tanzes. Berlin: Reimer.
Schaeffner, André (1936): Origine des instruments de musique. Introduction ethnologique à l'histoire de la musique instrumentale. Paris: Payot.
Souriau, Paul (1886): Esthétique du mouvement. Paris: Alcan
Urbain, G[eorges]. (1926): „La mélodie“. In: Journal de Psychologie normale et pathologique 1926, 198-210.