IN TRANSIT, EIN AKTIVER RAUM

Zur Idee der Festival-Ausgaben 2008 und 2009 von IN TRANSIT

Silke Bake (Berlin)

 

 

 

 

 

Die Arkaden in der Altstadt von Bologna „schirmen gegen Regen und zu große Sonneneinstrahlung ab, vermeiden Unterbrechungen beim Gehen und wenn die Gehenden zugleich reden, die Unterbrechung des Redens. So ermöglichen sie ‚ein buchstäbliches ununterbrochenes, in alle Richtungen ausstreunendes Gespräch.’ Kurz, sie sind ein Bild für den Begriff ‚Diskurs’.“ (1)

 

 

Ort, Öffentlichkeit

Die Produktionsleiterin verlässt ihr Büro, der Redakteur den Konferenzraum, der Videokünstler und die Technikerin das Auditorium und sofort stehen sie alle im öffentlichem Raum. Sie begegnen sich und „ihrem“ Publikum bei jedem Gang zum Händewaschen, bei jedem Mittagessen im Restaurant und auf dem Weg zum nächsten Termin in irgendeinem Sitzungsraum des Hauses: Ob sie wollen oder nicht, im Haus der Kulturen der Welt können sich Gäste, Künstler und Angestellte nicht aus dem Weg gehen. Man betritt das Haus und befindet sich in einem offenen Foyer, dessen verschiedene Ebenen ineinander übergehen und in jeden Zipfel des Hauses lenken, an Büro- und Präsentationsräumen vorbeiführen. Diese Architektur hält alle in Bewegung.

 

Wer in dieses etwas abseits am Rande des Tiergartens gelegene Gebäude kommt, hat bereits etwas Zeit aufbringen müssen, um zu der in den 1950er Jahren errichteten und eigentlich der demokratischen Erziehung gewidmeten Kongresshalle zu gelangen. Man betritt eine Architektur, die nicht für die Produktion oder Präsentation von Kunst entworfen wurde, schon gar nicht der darstellenden.

Mag die Idee eines Kongresses, die Organisation von Kommunikation in den 1950er Jahren noch ein wenig anders verstanden worden sein – das monströse Auditorium für 1000 Besucher lässt darauf schließen –, so begünstigt der Torso des Gebäudes, das einsehbare und sich auffächernde Foyer, auch heute noch viele Arten von "Zusammenkünften" (congressus), Begegnungen und Unterhaltungen, und damit auch eine der Grundideen von IN TRANSIT der Jahre 2008 und 2009.

 

Wir haben uns entschieden, die Veranstaltungen der Festival-Ausgaben 2008 und 2009 ausschließlich an diesem einen Ort, gewissermaßen unter einem Dach, stattfinden zu lassen. Ein Ort, der jedes Mal neu für die Kunst erschlossen werden muss: Nahezu keine Produktion ist ohne weiteres technisch realisierbar, jede künstlerische Arbeit muss an ihn adaptiert, passend gemacht werden. Entsprechend muss sich jeder eingeladene Künstler in irgendeiner Weise mit diesem Ort auseinandersetzen, wie auch jeder Besucher dazu aufgefordert ist, sich erst einmal mit den Räumlichkeiten zu beschäftigen, um sich zu orientieren. Das heißt: Jeder an diesem Festival Beteiligte muss sich den Ort aneignen, aktiv werden, um seinen Platz darin zu finden.

 

 

Programm, Kuratierung, Formate

Das Festival befasst sich mit einem Thema, das die Vielzahl performativer und diskursiver Formate miteinander in Bezug setzt.

Während Singularities, so die Überschrift der Ausgabe in 2008, die Einzigartigkeit eines bestimmten Moments und damit die Radikalität jeder einzelnen künstlerischen Arbeit und ihres individuellen Zugangs hervorhebt, betont Resistance of the Object in der darauf folgenden Ausgabe 2009 spezifische inhaltliche resp. politische Aspekte bei der Auswahl der Arbeiten.

Singularities ist als Thema in der Vermittlung widerständig. Die Resonanzen, die dieser Titel auslöst, sind vielfältig. Fast erscheint es als Manifest für die Kunst, das deren Eigenständigkeit, die eines jeden Kunstwerks betont und gegen jede Subsumierung und Labelisierung, gegen jede Gleichmacherei und Mode vorgeht. Die einzelnen Produktionen, Lectures etc. fordern gerade in ihrer ‚Einzigartigkeit’ hinsichtlich ihres Umgangs mit den Lebenswirklichkeiten in den globalisierten Gesellschaften die Wahrnehmung heraus und regen Diskussionen an. Die Festivalbeiträge zeichnen sich daher durch die sensible und wache Betrachtung der politischen Verhältnisse in der Welt aus, den reflektierten Umgang mit der eigenen Herkunft und den Bedingungen von künstlerischer Produktion.

 

Aus einem Buch des afroamerikanischen Performance-Theoretikers Fred Moten (2) stammt wiederum der Titel der zweiten Festivalausgabe Resistance of the Object. Der Titel greift konkrete Entwicklungen in den Performing Arts auf, die sowohl heute als auch historisch eine Rolle spiel(t)en: der Umgang mit Objekten auf der Bühne, wie auch die Beschäftigung mit Menschen, welchen die Gesellschaft ihren Subjektstatus abspricht.

Fred Moten ist wie viele andere Theoretiker und Künstler während des gesamten Festivals 2009 zu Gast, in verschiedenen Situationen präsent und aktiv beteiligt: sein Vortrag eröffnet die Lecture-Reihe, er moderiert den Beitrag der Künstlerin Adrian Piper, mit deren Werk er sich in seiner eigenen Arbeit ausführlich auseinandergesetzt hat und nimmt an einem LONG DAY LAB teil.

 

Laboratorien sind neben Theater-, Tanz-, Performanceproduktionen, Installationen, Lectures, Videoarbeiten, Künstlergesprächen, einer interaktiven Bibliothek und einigen Festen gleichwertiger Bestandteil des Programms. Unterschiedliche Versionen von Laboratorien begleiten die Festivalausgaben: solche, bei denen zu einem bestimmten Thema verschiedene Künstler oder Theoretiker geladen sind; solche, die Bestandteil eines künstlerischen Projektes sind; ein Raum, der für selbstorganisierte Seminare und die Begegnung von Studenten und Künstlern zur Verfügung steht. (3)

Das LONG DAY LAB, das an einem der Schließtage des Festivals stattfindet, lädt unter dem Thema Art and Politics alle Künstler und Studenten der assoziierten Ausbildungen zur Debatte ein. Drei KünstlerInnen, Maria José Arjona, Tania Bruguera und Hooman Sharifi, stellen hierzu ihre Arbeiten vor. Die künstlerische Praxis der drei KünstlerInnen ist geprägt durch die Sozialisation und die politischen Systeme der Länder, in denen sie aufgewachsen sind: Kolumbien, Kuba, Iran/Norwegen.

Die in Miami lebende Kolumbianerin Maria José Arjona berichtet von ihrer Arbeit, der Gewalt und der politischen Repression in Kolumbien und setzt diese zu ihrer Kunst in Beziehung. Sie ist ausgebildete Tänzerin und Photographin, ihre Arbeit verortet sie im Bereich der Bildenden Kunst und Performance. IN TRANSIT hat sie 2009 eingeladen, eine dreiteilige Performance-Installation zu zeigen, die sich über den kompletten Zeitraum des Festivals erstreckt. Im großen Eingangsfoyer hat man für sie einen an zwei Seiten offenen, leicht erhöhten Raum, eine Art breiter Korridor gebaut. Hier schaut man ihr zu, wie sie über Stunden mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen durchsichtige Seifenblasen entstehen lässt, die an den weißen Wänden rundum blutrot zerplatzen. Nach drei Tagen sind die Wände mit einer breiten, scheinbar rot tropfenden Bordüre versehen. Auch Arjonas weißes Kostüm ist rot verschmiert. In den Tagen danach trägt sie langsam einen kleinen Kreide-Hügel ab, indem sie mit Kreide sukzessive den roten Kranz mit „remember to remember“ überschreibt. Am Abend des letzten Tages steht Maria José vor der einen verbliebenen überschriebenen Wand, ihrer Bühne, und singt „Je ne regrette rien“ von Edith Piaf. Der Text liegt im Raum aus, drei Mikrofone stehen auf der Bühne. Über fast drei Stunden werden viele Zuschauer mit ihr dort stehen und dieses Lied singen. Immer und immer wieder.

Über die zehn Tage des Festivals hinweg hat sich der Raum durch Maria Joses ununterbrochene Aktion vollständig verändert: das gewaltige Blutrot wird in weißer Kreidefarbe übermalt und erinnert doch daran. Eine unmögliche Auslöschung. Viele Besucher kommen an mehreren Tagen und zwischen den Vorstellungen wieder, um der Künstlerin bei der Arbeit zuzuschauen, um ihr Wandeln, ihr Verwandeln, ihre Verwandlung zu sehen. Manche Besucher trauen sich, zaghaft ihren künstlerischen Raum, den Korridor, zu durchqueren, sehr viele singen mit ihr „Ich bedaure nichts“, bis zu drei Stunden lang. Unentschieden zwischen Teilnahme hinsichtlich ihrer „verbluteten“, verletzlich wirkenden Gestalt und ihrem über Stunden ruhig und distanziert bleibenden, in sich verschlossenen Ausdruck, nimmt man das unausgesprochene Angebot des gemeinsamen Singens gern an. Bewegt man sich dagegen weg, hört man überall im Gebäude die sich wiederholenden Zeilen.

 

Der Choreograf Hooman Sharifi wiederum verfolgt verschiedene, mannigfaltige Wege in den beiden Festivalausgaben: Im ersten Jahr nimmt er mit seiner Compagnie an einem Künstlerlaboratorium teil, zu dem verschiedene Theoretiker und Künstler eingeladen sind, über die Dauer des Festivals miteinander zu arbeiten. Die beiden Theoretiker Brian Massumi und Erin Manning führen im ersten Abschnitt ihr Konzept des radical empirism ein. Alle anderen Beteiligten am Lab entwickeln in der Folge gemeinsam (teilweise öffentliche) Versuchsanordnungen und begleiten einander diskursiv durch das Festival. Sie alle sind im Festival mit Performances, Workshops, Vorträgen, Gesprächen oder Installationen vertreten und nehmen als Künstler damit auch eine fürs Publikum weitere Funktion ein. Im Jahr darauf entwickelt Sharifis Impure Comany eine dreiteilige Choreografie an verschiedenen Positionen in und um das Haus herum: Once upon a time country. Es ist eine Arbeit, die um die Imagination eines Landes kreist, in dem Tiere und Menschen gleiche Rechte haben. An verschiedenen Tagen probt die Gruppe öffentlich und stellt zum Teil Labor-Situationen her, an denen Zuschauer sich beteiligen, Fragen stellen können. Die Zuschauer sind eingeladen, sich mit der Gruppe, ihrer Arbeit und dem Thema zu beschäftigen und ihr während der Vorstellung durchs Haus zu folgen.

 

 

Konsumtion, Kommunikation, Beziehungen und Zusammenhänge

An den Beispielen der Arbeit und des Mitwirkens von Fred Moten, Maria José Arjona und Hooman Sharifi lassen sich Struktur und Idee der beiden Festivalausgaben ableiten. Zentral für die Programmation und Gestaltung steht das Nachdenken über das Format „Festival“ und die Bewältigung des Raumes, in dem es stattfinden soll. Wie lassen sich die Kunstformen der Performing Arts so organisieren, dass sie ein Miteinander von Kunst, Künstlern und Publikum ermöglichen?

Über die Akkumulation von Aufführungen hinaus versucht IN TRANSIT daher einen Raum für Austausch und Dialog zu schaffen. Der Zuschauer soll in die Lage versetzt werden, die gegebene Eigenständigkeit der Kunstwerke aufeinander beziehen zu können und seine Gedanken und ästhetischen Wahrnehmungen gewissermaßen in einer unterbrechungslosen Bewegung durch den Kunstraum auszudehnen.

Man könnte entsprechend den Begriff der Ausstellung als Blaupause für das Festival heranziehen: die genannten Elemente werden im Haus über die räumliche Bezugnahme auch in ein inhaltliches Verhältnis gesetzt und damit für Zuschauer, Studenten, Künstler als miteinander korrespondierend erfahrbar gemacht. Die Architektur des Hauses unterstreicht unser Anliegen, die Elemente und Faktoren des Festivals horizontal zu betrachten. Ebenen gehen ineinander über und verbinden so die Arbeiten und im doppelten Sinne ihre Zugänge; es gibt keine hierarchische Handhabung der Genres, Formate und einzelnen künstlerischen Arbeiten. Produktionen, die bereits seit zehn Jahren gespielt werden oder vielleicht nach einigen Jahren wieder aufgenommen werden, sind programmatisch gleichbedeutend mit Uraufführungen oder Deutschlandpremieren. Wir machen in der Präsentation und Darstellung keinen Unterschied zwischen den Avantgardisten der 1970er Jahre und den jungen „Shooting Stars“; ob ein Stück drei Stunden dauert oder zwanzig Minuten, ist dabei vom kuratorischen Standpunkt nicht wichtig. Entsprechend sind auch die Lectures fester und gleichberechtigter Teil des künstlerischen Programms.

 

Auf Augenhöhe soll auch die Einbindung junger KünstlerInnen und NachwuchsforscherInnen in den Festivalbetrieb passieren: Hierarchielos werden Momente von Bildung an die künstlerische Produktion angedockt, funktioniert die Kommunikation mit Studenten, Künstlern und Theoretikern. Zwei Postgraduierten-Studiengänge aus Antwerpen und Amsterdam kommen für die Dauer des Festivals nach Berlin, um den so genannten LAB-Raum für Diskussionen zu nutzen und an verschiedenen Projekten zu arbeiten. Mit Unterstützung des Festivals initiieren sie künstlerische Aktionen und organisieren verschiedene Begegnungen mit Künstlern des Festivals. Das Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin ist mit einem Seminar vertreten, welches das Festival begleitet; regelmäßige Besuche eines Forschungskollegs der Freien Universität und von Studenten des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz sprechen für den lebendigen Austausch, welchen das Festival gesucht und angeregt hat.

 

Im Nachdenken über Laboratorien als Werkzeuge der künstlerischen Praxis und Forschung, den Lectures, den Artist Talks als Formaten des Nachdenkens und der Wissensvermittlung verwandelt sich die Kongresshalle von einer ehedem eher repräsentativ ausgerichteten Stätte (einer spricht und tausend hören zu) in eine diskursive, prozessuale. Aktivierung und Einbeziehung aller Beteiligter, zu denen ausdrücklich auch die Besucher, das Publikum, die Öffentlichkeit gezählt werden, macht Bewegung und Austausch möglich. Die einzelnen Elemente und Formate, die verschiedenen Beteiligten und Gäste halten sich gegenseitig in Bewegung und im Gespräch: Arkadien in den Performativen Künsten.

 

 

Silke Bake (Berlin)
Dramaturgin, Kuratorin. Studierte Theaterwissenschaft und Philosophie. Arbeitet mit verschiedenen ChoreografInnen und RegisseurInnen zusammen. Entwickelt Programme an/mit verschiedenen Theatern und Kunstzentren wie beispielweise Akademie der Künste Berlin, Hebbel-Theater Berlin, Haus der Kulturen der Welt Berlin, Kanuti Gildi Saal Tallinn, Tanzquartier Wien, Theaterformen Braunschweig/Hannover, Impulstanz Wien.
2008 + 2009 war sie gemeinsam mit André Lepecki (Kurator) verantwortlich für das Performing-Arts-Festival IN TRANSIT am Haus der Kulturen der Welt in Berlin; 2010 arbeitete sie u.a. mit der Choreografin Milli Bitterli in Wien, kuratierte sie Die Gegenwart des Anderswo im Jetzt, ein Themenwochenende mit Lectures, Performances, Videos und installativen Arbeiten zum Thema Postkolonialismus und Theater beim Festival Theaterformen in Braunschweig. Gemeinsam mit Peter Stamer veranstaltete sie die Talkshownacht from dusk till dawn and further beim Impulstanz Festival in Wien.

 

 

(1) In einem Artikel zum frühen Tod von Cornelia Vismann gibt Lothar Müller in der SZ diese Anmerkungen zu den Arkaden in Bologna wieder: Lothar Müller, „Unter den Arkaden. Zum Tod der Medientheoretikerin und Juristin Cornelia Vismann“, in: Süddeutsche Zeitung, 1. September 2010. Der Originaltext ist zu finden in Markus Krajewski, Cornelia Vismann: „Kommentar, Kode und Kodifikation“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3/1 (2009).

(2) Fred Moten: In The Break: the aesthetics of the black radical tradition, University of Minnesota Press 2003

(3) 2008: Brian Massumi und Erin Manning mit Lilibeth Cuenca, Hooman Sharifi und Impure Company, Eleonora Fabião, Thomas Lehmen, Nora Heilmann, Ismael Fayed, Tania Bruguera, Shawn Greenlee. 2009: LONG DAY LAB. 2009: Once upon a time country von / mit Hooman Sharifi & Impure Company; das Cross Currents – Sharp Sharp Laboratory von Sello Pesa, Carlos Pez und Tänzer-Choreografen aus Berlin und Johannesburg in Kooperation mit der Tanzfabrik Berlin.

2008 + 2009: Assoziierte Ausbildungs- / Forschungsinstitute: Master in Choreography / Amsterdam School for the Arts, Amsterdam; Advanced Performance Training / Postgraduate School for Performing Arts / Antwerpen; Interweaving Performance Culture-Institute und Institut für Theaterwissenschaft / Freie Universität Berlin.

(4) Maria José Arjona: Untitled (2008), Remember to Remember (2008), Karaoke (2008)