Ereignis und Evidenz

Zur Geschichtsschreibung der Performancekunst

Heike Roms (Aberystwyth)

 

 

 

 

Seit mehr als vier Jahren habe ich mich ganz und gar dem Archiv verschrieben. Nicht nur verbringe ich die meiste Zeit damit, in Archiven nach Spuren vergangener Performances zu forschen – eine mir immer noch unvertraute Tätigkeit, da ich mich zuvor fast ausschließlich mit zeitgenössischem Theater und Performance befasst und selten über eine Arbeit geschrieben habe, bei der ich nicht selber als Zuschauerin anwesend war. Ich versuche darüberhinaus nun selbst, eine Art Archiv aufzubauen (auch wenn ‚richtige’ Archivare hinterfragen mögen, ob das, was ich zur Zeit erarbeite, wirklich als solches angesehen werden kann). Unter dem Titel What’s Welsh for Performance? Beth yw ‚performance’ yn Gymraeg? beabsichtige ich, die bislang weitgehend verborgene Geschichte der Performance Art  in Wales ‚aufzudecken’ und sie für zukünftige Interpretationen durch wissenschaftliche und künstlerische Arbeiten zugänglich zu machen.

 

Die Entwicklung der Kunstpraktiken, die wir heute als ,Performance Art’ bezeichnen, geht in Wales auf die Mitte der sechziger Jahre zurück, als sich dort ansässige Künstler der internationalen Bewegung anschlossen, die die Herstellung von Kunstobjekten durch Präsentation von Ereignissen ersetzte.

1965 veranstalteten Dozenten an der Sommerschule in Barry in der Nähe von Wales’ Hauptstadt Cardiff eine Reihe von Happenings als neue Form des Lernens und Lehrens von Kunst. Eines der ersten Fluxus-Festivals in Großbritannien fand 1968 in der kleinen walisischen Universitätsstadt Aberystwyth statt, sechs Monate nachdem die prominenteste Fluxus-Künstlerin, Yoko Ono, eine Performance in Cardiff zeigte. Im selben Jahr brachte der walisische Maler Ivor Davies ‚destruction in art’ nach Wales, indem er auf die Brutalität der Epoche mit einer Serie von Explosionen reagierte. In den frühen siebziger Jahren erkundeten die Bildhauerin Shirley Cameron und der Theatermacher Roland Miller, von Swansea in Südwales ausgehend, das Feld zwischen Bildender Kunst und experimentellem Theater. Das alljährliche walisische Kulturfestival National Eisteddfod zeigte 1977 in Wrexham ein umstrittenes Performanceprogramm, an dem führende europäische Künstler wie Joseph Beuys und Mario Merz beteiligt waren. Ihre Beiträge wurden allerdings von den inoffiziellen Interventionen des lokalen Künstlers Paul Davies überschattet, mit denen er gegen die Unterdrückung der walisischen Sprache protestierte. Eine lange Tradition politischen Radikalismus verbunden mit der Existenz einer kleinen, multidisziplinären Kunstszene und dem Fehlen von Kunstinstitutionen sowie einem wachsenden Aktivismus rund um Fragen der Sprache und Identität bildete den Kontext, in dem sich eine Kunstform entwickeln konnte, die ephemer und interdisziplinär war und ihr Publikum direkt adressierte.

 

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Ivor Davies Adam on St Agnes Eve Swansea Abertawe 1968 (Foto: Stephen Hibbs)


Um sich dieser Geschichte anzunähern verbindet What’s Welsh for Performance? eine Reihe unterschiedlicher Ansätze:

  1. extensive Archivforschung, um Umfang und Vielfalt von Performances, die seit 1965 in Wales gezeigt worden sind (sowohl von Künstlern aus Wales wie von Künstlern, die anderswo beheimatet sind und in Wales Arbeiten vorstellten), sichtbar zu machen;
  2. Erstellung einer online Datenbank (www.performance-wales.org) von Performances, die Informationen über Künstler, Titel, Daten und Schauplätze zusammenfasst und ein Verzeichnis des verfügbaren Dokumentationsmaterials enthält (z.B. von audio-visuellen Dokumentationen, Texten, Ankündigungen bis hin zu Anekdoten und Augenzeugenberichten);
  3. kuratorische Interventionen, vor allem in der Form öffentlich geführter‚ von ‚Oral History’ inspirierter Interviews mit Künstlern, die die Divergenz zwischen archivierter Dokumentation und persönlicher Erinnerung erkunden;
  4. historische Analyse, die versucht, mithilfe unterschiedlicher Quellen aus Archiven und von persönlichen Zeugnissen, bestimmte Entwicklungen in der Performancekunst zu identifizieren und sie auf den jeweiligen Kontext zu beziehen; und
  5. eine Auseinandersetzung mit theoretischen Problemen, die mit der Konstruktion eines Performancearchivs und dem Schreiben von Performancegeschichte einhergehen.

 

Eines dieser Probleme, auf das ich mich hier konzentrieren möchte, ist das der ‚Evidenz’ und ihrer Implikationen für die Historiographie der Performancekunst. Zunächst möchte ich darlegen, was mein eigenes Projekt versucht, evident zu machen. ‚Performance Art in Wales’ heißt nicht, dass es eine klar abzugrenzende Form ,walisischer Performancekunst’ zu identifizieren gibt. Stattdessen hoffe ich durch den Fokus dieser Fallstudie zu erkunden, auf welche Weise Performancekunst als internationale Kunstbewegung in einem spezifisch lokalen Kontext realisiert wurde, wo sie Entwicklungen andernorts sowohl spiegelte wie brach. Nicht nur die Geschichte der Performancekunst in Wales hat lange nicht die notwendige wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden - Roselee Goldberg’s klassische Studie, Performance: Live Art 1909 to the Present (1979 zum ersten Mal veröffentlicht) war lange Zeit der einzige umfassende geschichtliche Überblick zum Thema. Das lässt sich auf Vorbehalte einer etablierten Kunstgeschichte gegenüber avantgardistischen Kunstpraktiken zurückführen, die sich von bestimmten traditionellen kunstgeschichtlichen Annahmen - allen voran von der Idee des Kunstwerks als autonomes, zeitloses Objekt – lossagten. Diese Situation hat sich seither gewandelt verändert. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sind eine Reihe wichtiger Studien zur Performancekunst erschienen [z.B. Jones 1998, O’Dell 1998, Schimmel 1998], die zeigen, dass die Kunstform sich heute steigender kritischer Aufmerksamkeit erfreut. Aber jede geschichtliche Darstellung der Performancekunst läuft Gefahr, zur Kanonisierung von (oft eben den gut dokumentierten) Arbeiten beizutragen und implizit einer kunsthistorischen Privilegierung ‚bedeutender’ Werke zuzuarbeiten. Sie übersieht dann leicht Arbeiten oder Szenen, die außerhalb der etablierten Zentren entstanden sind. Indem ich mich auf die Geschichte der Performancekunst in Wales konzentriere, hoffe ich zeigen zu können, wie selbst die Geschichtsschreibung einer so innovativen und nicht-institutionellen Kunstform eine begrenzte Genealogie und einen Kanon hervorbringen konnte.

 

Ein solches Projekt muss sich der Frage nach ‚Evidenz’ auf mehreren Ebenen stellen. Im Sinne einer kritischen und politischen Agenda sollten unterschiedliche Zugänge geschaffen werden, zu dem, was stattgefunden hat, oder, besser vielleicht, zu dem was wir uns vorstellen, was stattgefunden haben könnte, wann immer Künstler in Wales Performances kreierten.

Der wissenschaftliche Anspruch verlangt, sich mit der Frage danach auseinanderzusetzen, wie wir solche Zugänge nicht nur ausweisen sondern mit unserer Arbeit auch produzieren - eine Frage, die sich jeder historischen Forschung stellt. In den Performance Studies allerdings hat der Begriff der ‚Evidenz’ bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Dies hat sicher damit zu tun, dass sie sich seit langem einer Ontologie der Präsenz verpflichtet haben und gegenüber kritischen Konzepten, die aus den theoretischen, methodischen und praktischen Implikationen von Geschichtsschreibung entstanden sind, eine tiefe Skepsis entwickelten. Dieser Skeptizismus ist zweifellos auch eine Reaktion darauf, dass in den traditionellen Wissenschaften ephemere Praktiken nicht als Gegenstand akzeptiert wurden, da es ihnen wegen ihrer Flüchtigkeit angeblich an Beweiskraft mangle [Muñoz 1996]. Trotzdem ist die Frage der ‚Evidenz’ in einer Reihe von Debatten, die für die Performance Studies eine zentrale Rolle spielen, implizit berührt, wie zum Beispiel in der Diskussion um das Verhältnis von Performance und Dokumentation [siehe z. B. Phelan 1993, Auslander 2006] oder in der jüngsten Debatte zum Thema Performance und Archiv [siehe z.B. Schneider 2001, Roms und Gough 2002, Taylor 2003].

 

Die Diskussion über Dokumentation hat sich vor allem auf die Frage der ontologischen Dimension von Evidenz konzentriert. Die Frage, ob (und wie) ein Dokument einen ‚Beweis’ für die Realität eines Ereignisses liefert, zieht die Frage nach sich, was diese Realität ausmacht oder, kurz gesagt, worin die Ontologie der Performance besteht. Wenn traditionelle Kunstgeschichte die Performancekunst als Gegenstandsbereich negiert und dies oftmals mit der ‚Unzuverlässigkeit’ deren dokumentarischer Zeugnisse begründet, so muss man sagen, dass die Performance-Theorie zu dieser Annahme beigetragen hat, insofern sie Dokumentationen nicht nur als unangemessen, sondern sogar als inkompatibel mit dieser Ontologie beschrieben hat. Peggy Phelans prägnante Formulierung in Unmarked hat lange den Performance Studies als Grundsatz gedient:

Performance's life is only in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so it becomes something other than performance. [Phelan 1993: 146]

Phelan’s Argument, dass „[p]erformance’s being […] becomes itself through disappearance“ (ibid.), hat erheblichen Anteil daran, dass Performance im letzten Jahrzehnt den Performance Studies zur paradigmatischen Kunstform wurde, die Widerstand gegen eine Kultur der Reproduzierbarkeit und Kommerzialisierung leistet. Doch läuft eine solche Ontologie des Verschwindens Gefahr, dem Verschwinden der Performance aus den Geschichtsbüchern zuzuarbeiten.

 

Feministische Historikerinnen der Performancekunst wie Kathy O’Dell (1998) und Amelia Jones (1998) waren die ersten, die sich differenziert mit der Rolle von Dokumentationen beschäftigten. Sie trugen damit auch der Tatsache Rechnung, dass Performance Künstler selbst von Beginn an unterschiedliche Formen des Dokumentierens praktizierten. Photographie als die Form der Dokumentation, die in enger Beziehung zu Konzepten der Evidenz steht, hat dabei die größte Aufmerksamkeit genossen. Jones hat die verbreitete Annahme, dass der Live Performance ontologische Priorität vor dem Dokument zukommt, hinterfragt. Sie hat darauf hingewiesen, dass im Fall der Body Art erst das photographische Dokument zusammen mit dem Ereignis der Performance Evidenz herstellt – in den Worten von Jones, „[t]he body art event needs the photograph to confirm it having happened; the photograph needs the body art event as an ontological ,anchor’ of its indexicality.“ [Jones 1998: 37]. Und, wie Philip Auslander [2006: 2] in Bezugnahme auf Jones anmerkt, die Historikerin braucht (und wünscht sich), dass die Photographie uns einen Zugang zur Realität einer vergangenen Performance ermöglicht. Als jemand, der nicht im Kontext von Geschichtsschreibung argumentiert, erklärt Auslander es hingegen für irrelevant, ob ein Performance-Photo ein Ereignis darstellt, dass tatsächlich in der Vergangenheit so stattgefunden hat. Stattdessen erklärt er die Dokumentation von Performance selbst zu einem Ereignis, das den Betrachter in der Gegenwart involviert. Die Autorität des Dokuments, so Auslander, ist daher phänomenologisch, nicht ontologisch begründet [Auslander 2006: 9].

Während Auslander die Beziehung zwischen Ereignis und Evidenz dekonstruiert, indem er Dokumentation selbst als Ereignis und weniger als Zeugnis beschreibt, haben andere Theoretikerinnen - wie Diana Taylor (2003) and Rebecca Schneider (2001) - diese Beziehung aus dem umgekehrten Blickwinkel betrachtet, indem sie darauf aufmerksam machen, in welcher Weise das Ereignis der Performance selbst als eine Art Zeugnis angesehen werden kann. Motivation hierfür ist ein neues Interesse an der Frage, wie sich Geschichte(n) (vor allem marginalisierte) in einem kontinuierlichen Wiederauftauchen von Performance konstituiert bzw. konstituieren. Performance – so Schneider - verschwinde nicht (wie von Phelan behauptet), sondern „[p]erformance remains – but remains differently ([…] history is not lost through body-to-body transmission).” [2001: 105] Schneider und Taylor kontrastieren diese Form der verkörperten, performativen historischen Übermittlung (,i.e. spoken language, dance, sports, ritual’ [Taylor 2003: 19]) – Taylor nennt sie ‚Repertoire’ – mit dem ‚Archiv’ als dem Reich dessen, was wir gewöhnlich als historische Zeugnisse ansehen (,i.e. texts, documents, buildings, bones) [Taylor 2003: 19]. Die Verschiebung in der Diskussion von ‚Dokumentation’ zu ‚Archiv’ als zentralem kritischem Terminus zeugt von einer Verlagerung des Interesses: von der Frage, was als Zeugnis für das Ereignis der Performance dienen kann, zur Frage danach, wie Performance selbst Zeugnis gelebter Erfahrungen ist. In einem frühen Essay - einem der wenigen im Bereich der Performance Studies, der explizit die Frage nach Evidenz stellt - verweist José Muñoz (1996) darauf, dass die Beschreibung von ephemeren als evidenten Phänomenen traditionelle wissenschaftliche Methoden und deren Ideologie von Beweiskraft in Frage stellt. Auch Schneider und Taylor sehen in der Anerkennung der Performance als Evidenz eine epistemologische Herausforderung an das, was Taylor als die „preponderance of writing in Western epistemologies” [2003: 16] identifiziert, und was Schneider die „patrilineal, West-identified […] logic of the Archive" [2001: 100] nennt.

Die Debatte über Performance-Dokumentation mit ihren ontologischen Implikationen (und damit für das Verständnis dessen, was Performance ausmacht) und die Debatte über Performance als Evidenz mit ihren epistemologischen Implikationen (und damit für das Verständnis davon, wie wir Wissen von und durch Performance generieren) haben offensichtlich weit reichende Implikationen für ein wissenschaftliches Projekt, das sich der Historiographie von Performance widmet. Mich interessiert in diesem Zusammenhang zum einen die Frage, in welcher Art und Weise Dokumentationen ein konstitutives Element von Performancekunst sind und wie sie zu verzeichnen und zu archivieren sind. Und zum anderen bin ich daran interessiert, ‚Repertoire’-orientierte Praktiken wie Oral History-Interviews und Reenactments als gleichwertige Methoden der Performance-Historiographie zu entwickeln. Mir geht es dabei letztlich allerdings auch darum, die Unterscheidung zwischen ‚Archive’ und ‚Repertoire’ in Frage zu stellen – in gleichem Masse, wie die performative Aneignung von Performance-Geschichte durch Oral History auf die Artefakte des Archivs angewiesen ist und im Gegenzug wiederum Artefakte fürs Archiv produziert (z.B. Aufzeichnungen und Transkripte), so ist das Archiv nicht nur Ort einer passiven Sammlung, sondern auch Ergebnis von Tätigkeiten und Verfahrensweisen (der Auswahl, Klassifizierung und Aufbewahrung), die als Performances gelesen werden können.

Ich möchte diesen Debatten noch einen weiteren Aspekt hinzufügen, der sich aus einem solchen performativen Verständnis des Archivs ergibt: nämlich die Aufmerksamkeit für die Performance der Evidenz– oder, in anderen Worten, wie Evidenz in meinen Forschungen selbst dargestellt und hergestellt wird. Ich möchte mich hier kurz auf die jüngste Debatte in einem Feld beziehen, auf dem man vielleicht am wenigsten solch eine Wendung zum Performativen vermutet – der Archivwissenschaft selbst. Theoretikern des Archivs wie Terry Cook [2000; siehe auch: Meehan 2006 & 2008; F.X. Blouin Jr. / W. G. Rosenberg 2006] zufolge sind Dokumente nicht an sich Zeugnis oder Beweis, sondern diesen Charakter erhalten sie durch Handlungen, die sie als solche identifizieren und konstruieren – Prozesse also, in denen und durch die das Dokument ausgewählt, klassifiziert und aufbewahrt wird. Das eben sind Tätigkeiten des Archivars. Cook formuliert auch die impliziten Auswirkungen dessen auf unser Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit: Anzuerkennen, dass Archivare nicht allein Dokumente verwalten, sondern sie als Zeugnis erst konstruieren, habe Folgen für unser Urteil über die Arbeit von Historikern, die auf die Arbeit der Archivare zurückgreift. Die jeweils höchst spezialisierten Tätigkeiten von Archivaren und Historikern nähern sich damit im Prozess der Herstellung von Evidenz an.

Solche Tätigkeiten stellen Evidenz allerdings nicht nur her, sondern sie stellen sie auch dar und repräsentieren sie als solche. Diese Dimension ist der Idee der ‚Evidenz’ bereits eingeschrieben. Aktuelle philosophische und kulturwissenschaftliche Debatten betonen, dass der Begriff ‚Evidenz’ sowohl die Vorstellung des Beweisens wie die seiner (Re-)Präsentation umfasst [Lévy & Pernot 1997; Peters & Schäfer 2006]. Diese terminologische Ambiguität ist das Ergebnis seiner zweifachen Wurzeln in Philosophie und klassischer Rhetorik: während in der Philosophie ‚evidentia’ Beweishaftigkeit bezeichnet, bezeichnet der Begriff in der Rhetorik eine Form affektiver Präsentation. Dies ist die performative Dimension der ‚Evidenz’ [Peters & Schäfer 2006]: um als Beweis zu überzeugen, muss etwas erst als solcher dargestellt werden. In eben dieser Figuration zeigt sich ihre Konstruiertheit.

 

An einem Beispiel aus meinem Forschungsprojekt möchte ich erläutern, wie ich mir eine solche performative Figuration von Evidenz vorstelle.

2008 beendete ich eine zweijährige Serie von Oral History Interviews. Unter dem Titel, An Oral History of Performance Art in Wales , führte ich diese Interviews mit einer Reihe von Künstlern, die die Geschichte der Performancekunst in Wales seit Ende der 1960er Jahre maßgeblich beeinflusst haben – eine Generation, die allmählich verschwindet. Oral History hat sich in den letzten Jahren als eine der bevorzugten Formen etabliert, mit denen die Forschung versucht, sich der Geschichte der Performancekunst und des experimentellen Theaters der letzten vierzig Jahre zu nähern. Die Methode des Interviews wird selbst als performativ und damit als Modus des ‚Repertoires’ angesehen und scheint daher der Performance-Geschichtsschreibung angemessen [Finnegan 1992, Pollock 2005]. Was meine Herangehensweise von anderen, ähnlichen Projekten unterscheidet, ist, dass die Gespräche alle öffentlich und live vor Zuschauern stattfanden, und dass sie Augenzeugen der vorgestellten Arbeiten einbezogen. Ich versuche damit auch, Aufmerksamkeit auf die besondere Weise zu richten, in der die Oral History geschichtliche Zeugnisse produziert und in der das Interview schließlich als eine Szene der Bezeugung figuriert.

 

Das erste Gespräch in der Serie fand mit dem walisischen Maler Ivor Davies statt, dessen Adam on St Agnes’ Eve 1968 in Swansea eines der frühen Beispiele für Happenings in Wales darstellt. Das Gespräch führte ein Vorgehen ein, das ich über die Serie hinweg weiterentwickelte: dokumentarisches Material, das ich in Archiven fand, wurde als eine Art Auslöser für die Erinnerung des Künstlers eingesetzt. Im Folgenden spricht Ivor Davies über seine Adam on St Agnes’ Eve Performance von 1968, indem er sich vor allem auf zwei Dokumente der Arbeit bezieht – auf den ‚score’ und einen fünf Minuten langen, 8mm Stummfilm in Schwarzweiß:

 

Ivor Davies. The performance was called Adam on St Agnes Eve because it was done on Sunday 21st January 1968 and prepared during the winter of 1967. I generally used to prepare performances quite carefully. I’ve kept all sorts of things from that event, even the tickets, an obsessive sort of collection of things. Here is a score which lists the sound, the cues, the explosions and the timing of the explosions, the lighting, the projections, the performers, the actions and props, other objects that were used, and then times it exactly. 7.30 it began and 8.05 it was supposed to finish. What I tried to do was to remove myself from the performance physically. I wonder if it would work if I said what was happening in the film while we are watching it, oh yes … This is the beginning. 7.30. Recording of birdsong, which I’d taken from the Ornithological Society, and red and green spotlights on the floor, which give this feeling of a forest. [In response to a performer appearing on screen] I really don’t remember inviting him ...
HR. Who was he, do you know?
ID. I don’t know who he was.
HR. But is he in it? I mean, he’s naked and painted.
ID. Well he’s in it, yes, but I didn’t ask him to do it. That kept happening – when you tried to organise something very precisely, things like that happen…

[reprinted in an edited version in: Roms 2008]

 

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Ivor Davies talks to Heike Roms (Cardiff 12 October 2006. © Phil Babot)

quicktime video (mov) 5:09


Der Künstler bezieht sich auf den materiellen Reichtum seines Archivs – was er hier als ‘obsessive collection of things’ bezeichnet – um Zugänge zu seiner vergangenen Performance zu eröffnen. Er bringt die beiden Dokumente – Film und ‚score’ – in Dialog miteinander. Er behauptet und hinterfragt zugleich ihr Potential, als Zeugnis zu fungieren. Wie Davies andeutet, ist der wichtige Aspekt des ‚scores’ nicht, dass er vorgibt, was passieren wird, sondern dass sich zwischen dem score und seiner performativen Umsetzung eine Lücke auftut, die unvorhersehbare Dinge ermöglicht. Aber das öffnet auch eine ‚Evidenzlücke’, da es die Möglichkeit einschränkt, den score als Zeugnis für das zu nehmen, was in seiner Umsetzung stattgefunden hat. Allerdings ist auch ein Film - wie die Performance Studies seit langem feststellen - nur eine eingeschränkte Aussage über das aufgezeichnete Ereignis. Davies bestätigt dies hier, in dem er auf die Disparität zwischen den stummen, schwarz-weißen Filmaufnahmen und den Farben und Klängen der Performance aufmerksam macht. Gewöhnlich erwartet man, dass die Erinnerung des Künstlers solche Lücken schließt. In der Gegenüberstellung von ‚Augenzeugen’ und ,Archiv’ setzen wir oft mehr Vertrauen in die Beweiskraft persönlicher Zeugenschaft. Doch, obwohl Davies es hier offensichtlich nicht ganz ernst meint mit dem Vergessen, so finden sich in allen Gesprächen solche Momente, in denen Künstler bestimmte Aspekte ihrer vergangenen Arbeit, die die Dokumentation zeigt, nicht erinnern oder anders erinnern als sie die Dokumentation zeigt.

 

Mit diesen Oral History Gesprächen versuche ich dergestalt in der Wechselwirkung von ‚Archiv’ und ‚Repertoire’ Zeugnisse vergangener Performance-Events zu etablieren. Aber als Szenen der Bezeugung verweisen sie zugleich auf die Möglichkeit und die Unmöglichkeit einer solchen Konstruktion. Lücken öffnen sich zwischen verschiedenen Dokumenten oder zwischen materiellem Dokument und verbalisierter, verkörperter Erinnerung. In Anerkennung der Bedeutung solcher Evidenzlücken für die Konstruktion von Geschichte schlägt Kathy O’Dell vor, dass „the history of performance art is one that flickers, one that causes the historian to shuttle back and forth between that which is seen and that which is imagined […].” [O’Dell 1998: 73–4] … und - so möchte ich hinzufügen - das, was erinnert wird. Ich habe versucht, dieses ‚Flackern’ als eine geteilte Anstrengung von Historiker, Künstler und Zuhörern zu inszenieren, auf dass sie gemeinsam die Geschichte der Performance in Wales zu schreiben beginnen.

 

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Film still, Ivor Davies Adam on St Agnes’ Eve, Swansea 21 January 1968. © Ivor Davies.

 

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Score (extract), Ivor Davies Adam on St Agnes’ Eve, Swansea 21 January 1968. © Ivor Davies.

 

 

 

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Englisch verfasst.


Heike Roms (Aberystwyth)
Lecturer in Performance Studies an der Universität von Aberystwyth (Wales).
Leiterin des Forschungsprojekts: ‘What’s Welsh for Performance? Archiving the History of Performance Art in Wales’.
www.performance-wales.org



Ich ziehe den Begriff ,performance art’ dem Begriff ,live art’ vor, da er im Kontext von Wales der geläufigere ist. Die Wurzeln des Begriffs ,performance art’ sind umstritten. Was sicher ist, ist das der Begriff seit spätestens den frühen siebzigern Jahren in weiten Umlauf ist. Für eine kurze Geschichte des Begriffs, siehe [Goldberg 2000].

Derzeit widmet sich das Projekt under dem Title It was forty years ago today: Locating the early history of performance art in Wales 1965-1979” im Besonderen der Performancekunst in Wales zwischen der Mitte der sechziger bis zum Ende der siebziger Jahre. Diese Phase des Projektes wird vom britischen Arts and Humanities Research Council (AHRC) mit einem ,Large Research Grant’ gefördert.

Für Details über andere ,performative archiving’ Events, die als Teil diese Projektes staffgefunden haben, siehe http://www.performance-wales.org/english/events/index.htm. Diese beinhalten unter anderem ein ‘reenactment’ eines Fluxus Festivals, das 1968 im kleinen walisischen Universitätsort Aberystwyth stattgefunden hat.

Gefördert vom Arts Council of Wales/ National Lottery und unterstützt von SHIFTwork, Cardiff School of Art and Design. Gesprächspartner waren unter anderem: Ivor Davies; Shirley Cameron und Roland Miller; John Chris Jones, Timothy Emlyn Jones und Andrew Knight; Anthony Howell; Janek Alexander, Geoff Moore und Mike Pearson.

Siehe, zum Beispel, das britische Oral History Projekt, Sounding Performance –Towards an Oral History of Performance and Live Art in the British Isle, initiiert von Central St. Martins und der British Library; Unfinished Histories, eine Oral History feministischen Theaters der 70er Jahre; und Performance Saga, ein Video Interview Project mit Amerikanischen and Europäischen Wegbereiterinnen der Performancekunst.

Ein Videoausschnitt des Interviews ist auf folgender Webseite einzusehen:

http://www.performance-wales.org/english/oralhistory/phase1/davies_event.htm



Bibliographie

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