Constant changes, silent witnesses

Über Bewegung als Beobachtung und Kontemplation am Beispiel von Istanbul

Jasmin İhraç (Berlin)

 

 

 

„Ich kannte Istanbul bereits und doch zog mich die Stadt mit Beginn meines Aufenthaltes aufs Neue in ihren Bann. Die Schnelligkeit, der Rhythmus, die Unvorhersehbarkeit: Unmöglich schien es mir auf der Straße so zu laufen wie ich es in Berlin gewohnt war. Ständig musste ich aufpassen, dass der Gehweg nicht plötzlich vor mir abbricht, ich über ein Loch stolpere, das sich auf einmal vor mir auftut – oder ich es nicht rechtzeitig schaffe anderen Passant_innen auszuweichen. Überhaupt wurde das Ausweichen während des Gehens zu einer meiner Hauptbeschäftigungen. So war jeder Spaziergang ermüdender als er vielleicht hätte sein müssen. Ich war ständig damit beschäftigt, nicht mit jemandem zusammenzustoßen – mir schien als sei ich die Einzige. Riskierte ich es doch einmal, erwartete ich aus Gewohnheit eine gegenseitige Entschuldigung, zumindest ein kurzes Lächeln oder Kopfnicken. Doch nichts davon: als sei nichts geschehen setzte jede_r den eigenen Weg fort. Ich begann, andere Wege zu gehen und nach alternativen Fortbewegungsmöglichkeiten zu suchen.“
(Jasmin İhraç, Jahrbuch der Kulturakademie Tarabya [İhraç 2020])

 

Constant changes, silent witnesses ist der Titel des Films, den ich 2018/19 in Istanbul gedreht habe und in dem ich mich mit den schnellen und stetigen Veränderungsprozessen der Stadt auseinandersetze. Der Film verweist auf mehrere thematische Diskurse: Er behandelt die andauernden Gentrifizierungsprozesse, denen Istanbul in besonderer Schnelligkeit unterworfen zu sein scheint. Gleichzeitig verweist er auf die Idee der Kontinuität, symbolisiert durch die alten Bäume der Stadt, die wie Zeugen der Geschehnisse wirken. Eine dritte Diskurslinie zeichnen die Wege der Protagonistin – von mir selbst –, die unterschiedliche Orte und Gegebenheiten durch „tänzerische Streifzüge“ in der Stadt erkundet und über das Medium Tanz im Film zu vermitteln sucht. Die Prozesse vor Ort transportieren sich über die tänzerische Bewegung durch die Stadt.

Diese drei Ebenen werden im Film auf verschiedene Weisen verknüpft. Ihnen liegen jeweils unterschiedliche Mapping-Prozesse zugrunde, die spezifische Erzählungen bzw. Perspektiven auf die Stadt erzeugen. Im Folgenden werden zunächst Aspekte zum Verständnis von Karten und Beispiele künstlerischer Mapping-Prozesse beschrieben. Im Anschluss werden dann die dem Film unterliegenden Diskurse zu Bewegung, Gentrifizierung und Widerstand sowie zum Mapping der Bäume erläutert. Ziel ist es, zu zeigen, wie sich diese Diskurse in der Erzählung des Films verquicken und damit gleichzeitig die Vielschichtigkeit dieses spezifischen Mapping-Prozesses auszuloten.

Inspiriert von der Praxis des Parkour, bei der im öffentlichen Raum selbst gesuchte Hindernisse auf effiziente Weise überwunden werden sollen, geht es im Film um das Ausweichen vor, Springen über und Überwinden von dem, was der Stadtraum zu begrenzen scheint. Im Parkour verändert sich der Blick auf die Stadt: sogar schon gekannte Orte erscheinen anders, betrachtet man sie als potentielle Hindernisse und zieht man ihre strategische Überwindung in Betracht.

Auch in der Psychogeographie des Situationismus erschloss sich der Stadtraum durch das sogenannte Umherschweifen („dérive“). Auf Basis dieser Praxis entstanden Karten, die die jeweiligen Emotionen der Umherschweifenden an bestimmten Orten festhielten und in Beziehung zu den architektonischen und geographischen Gegebenheiten setzten, womit diese Wege auch für andere zugänglich und rückverfolgbar wurden. So entstand ein anderer Blick auf die Stadt und eine neue Form des Dokuments, die von der reinen Kartographie abwich und Ideen von Trennung zwischen Zentrum vs. Peripherie hinter sich ließ.[1] Die Situationist_innen unterscheiden diese Praxis von einfachen Spaziergängen. Vielmehr sollte durch das Umherschweifen auf die „im Allgemeinen bekannten Bewegungs- und Handlungsmotive, Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen verzichtet werden, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen zu überlassen.“ [Debord 1995: 35]. Damit ging nicht zuletzt eine Kritik an der kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise und der strikten Trennung von Arbeit und Freizeit einher.[2] Die Karten der Situationist_innen dokumentieren eine besondere Form der Bewegung durch den (städtischen) Raum. Inwiefern würde ein filmisches Dokument zum Äquivalent einer psychogeografischen Karte werden können? Auf welche Weisen lassen sich Karten lesen und verstehen?

 

Mapping-Strategien

Laut Peter Spillmann verfügen Karten über eine semiotische, textliche Struktur und die visuell gestalterische Qualität von Bildern:

„Aufgrund ihrer ambivalenten Natur in Erscheinung und Praxis, zwischen Information und Gebrauch, eignen sich Karten also ganz besonders als künstlerische Strategie zur Repräsentation komplexer gesellschaftlicher Räume […] Während die von KünstlerInnen geschaffenen Karten der 1960er- und 1970er-Jahre dazu dienten, die auf dem Plan der Zeit rational und übersichtlich erscheinende Realität durch individuelle Eintragungen und Überschreibungen zu verwischen, steht bei Mapping-Strategien, wie sie in den letzten Jahren in künstlerischen und aktivistischen Projekten häufig eingesetzt werden, der Prozess einer kollektiven Organisation und strategischen Darstellung von Informationen im Zentrum. Beide Ansätze basieren auf einem kritisch reflektierten Verhältnis gegenüber der Kartografie und ihren Techniken der Darstellung.“ [Spillmann 2011, o. P.]

In neueren Ansätzen zum künstlerischen Mapping werden also auch solche Praktiken zitiert, in denen rein kartographische Prozesse eine geringere Rolle spielen. Verwiesen sei auf solche Praxen, die Karten in einem interaktiven Sinne verstehen wie etwa das performative Mapping von Naomi Bueno de Mesquita, die in der künstlerischen Fallstudie Mapping Invisibility die täglichen Wege und Praktiken von illegalisierten Migrant_innen in Amsterdam über ein Mapping-Interface nachzeichnet.

In diesem Prozess entstehen Karten, die über ein rein kartographisches, repräsentatives Verständnis hinausgehen; damit wiederum ergibt sich ein veränderter Blick auf die Stadt. Bueno de Mesquita versteht performatives Mapping als Schnittstelle zwischen dem Physischen und Virtuellen, dem Bekannten und dem noch zu Entdeckenden und zwischen verschiedenen Sichtweisen.[3] Sie untersucht die Frage, auf welche Weisen performatives Mapping die Partizipation unterschiedlicher Akteure und Akteurinnen fördern und Diskussionsprozesse um Inklusion und Exklusion anstoßen kann:

“Not only are maps understood as a product of co-creative relationships between maps and users, they are also considered to have agency. Maps can ‘do’ things and produce certain effects. According to James Corner, mapping produces a particular understanding and experience of the world that is being mapped. […] Its agency lies in neither reconstruction nor imposition but rather in uncovering realities previously unseen or unimagined, even across seemingly exhausted grounds. Thus mapping unfolds potential.” [Merx 2017, o. P.]

Ein Mapping-Projekt, auf das ich in diesem Kontext verweisen möchte, ist das zwischen 2004 und 2006 entwickelte Projekt MigMap – Governing Migration, das aus einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Soziolog_innen, Politolog_innen Politikwissenschaftler_innen und dem Labor k3000 hervorging. Genutzt wurde hier Mapping als Methode und mit dem Ziel, die Migrationspolitiken seit 1989 zu beschreiben und Gegendiskurse zum gängigen Verständnis zu ermöglichen. Auch hier geht es um den Aspekt von Agency. Im Rahmen von MigMap entstanden vier thematische Karten, darunter eine, die verschiedene Diskurse um Migration darstellt, eine weitere, die verschiedene Akteur_innen zeigt, eine dritte zu Orten und Praktiken der Migration sowie eine vierte, die Prozesse der Europäisierung beschreibt. [4]

 

Constant changes, silent witnesses: Tanz, Parkour, Spaziergang – Bewegung als Methode

Geht man davon aus, dass künstlerisches Mapping sich nicht auf den Umgang mit Karten beschränkt bzw. versteht man jene selbst in einem weiteren, vor allem performativen Sinne, so kann auch ein Film als ein Beispiel für künstlerisches Mapping gelesen werden. Wie zitiert, sieht Bueno de Mesquita Mapping gerade als einen Prozess, bei dem ein neuer Blick auf die Stadt entsteht – im oben genannten Fall zum einen der Blick von Personen mit legalen, zum anderen der Blick von Personen ohne legale Papiere.

Im Film Constant changes, silent witnesses wird dieser Blick vor allem durch das Gehen, Bewegen und Tanzen durch die Stadt generiert, wodurch sich verschiedene Orte miteinander verknüpfen. Die Wege der Protagonistin lassen die Stadt als ein Netz aus verschiedenen Ereignissen, Orten und Perspektiven erscheinen. Dabei handelt es nicht um reine Spaziergänge, sondern um eine spezifische Art der Fortbewegung: in einer Mischung aus Tanz, Parkour und Spaziergang wird Istanbul entdeckt und beschrieben.

Dies eröffnet andere Zugänge und Möglichkeiten der Erfahrung. Als Zuschauer_in begreift man über Bewegung das Gesehene anders als durch Sprache: ein Verstehen findet über den Körper statt, was wiederum andere Aussagenfelder generiert. Gleichzeitig liefert eine Geschichte, die sich über Tanz erzählt, mehr Offenheit für Interpretation. Der Film kombiniert ortsspezifische Aufnahmen mit Bewegungsbildern. Auf diese Weise entsteht ein veränderter Blick auf die Stadt. Tanz als erzählerisches Mittel eröffnet den Zuschauenden einen besonderen Einblick in die Wirkung unterschiedlicher Orte auf die Protagonistin.

Durch das Mittel der physischen Fortbewegung (Spazierengehen, Tanzen, Parkour) kann im Film eine Art Illusion erzeugt werden: Orte, die in der Realität vielleicht weit voneinander entfernt sind, erscheinen auf einmal nah und eng beieinander. Die Praxis des Parkour richtet einen bestimmten Blick auf die Stadt. Räumliche und urbane Gegebenheiten werden als Möglichkeiten gesehen, diese zu überwinden. Damit wird der Blick auf die Stadt geschärft. In der Philosophie des Parkour bedeutet der Versuch der physischen Überwindung von Hindernissen gleichzeitig das mentale Überschreiten von Grenzen. Auch der Aspekt von Spiel nimmt eine zentrale Rolle ein. Der urbane Raum bietet unzählige Möglichkeiten sich auszuprobieren, zu messen, mit neuen Materialien und Oberflächen zu konfrontieren und neue Wege der Fortbewegung zu erforschen. Eine solche Praxis bietet auch die Möglichkeit, von einer gewissen Norm der Fortbewegung, vom schon Bekannten abzuweichen. Gehen wiederum eröffnet vielleicht mehr kontemplative Räume.

In ihrer Kombination eröffnen die Bewegungselemente Gehen, Tanz, Parkour für die Zuschauenden eine andere Form, den Stadtraum zu sehen, was einer Geschichte die sich über Worte erzählt, nicht gleichkäme. Die Orte, die im Film durch die Protagonistin aufgesucht werden, sind Orte des Wandels: Baustellen, abgerissene Häuserfassaden, Viertel, in denen gerade neue Wohnblocks im Bau waren, Orte an denen Prozesse von Gentrifizierung in besonderer Weise offenbar werden.

Jener Blick wäre eine anderer, wenn die Thematik in einer Performance behandelt würde. Ein Film hat die Möglichkeit, über eine Dauer festzuhalten, was im Moment ist und in kurzer Zeit wieder anders sein kann. Er kann urbane Orte und Performance in direkter Verbindung miteinander zeigen. In diesem Sinne ist er ein Zeitdokument, das einen spezifischen Blick auf die Realität offenlegt.

 

Gentrifizierung und Widerstand

Nahezu alle Großstädte weltweit sind von Gentrifizierungsprozessen betroffen: umfassende Sanierungsmaßnahmen, Abriss alter Gebäude, Mietenexplosion, Verdrängung, Verschwinden von Grünflächen. Zugleich formiert sich aber gegen diese Maßnahmen Widerstand in Initiativen und temporären Zusammenschlüssen. In Berlin zeigen dies Initiativen wie Kotti&Co, Deutsche Wohnen & Co enteignen oder die temporäre Durchsetzung des Mietendeckels.

In Istanbul sind diese Prozesse der Gentrifizierung von einer rasanten Schnelligkeit geprägt. Während meines Aufenthaltes 2018 im Rahmen von zwei Stipendien der Kulturakademie Tarabya und der Kunststiftung NRW änderte sich mancherorts das Stadtbild wöchentlich. Kehrte ich an bestimmte Punkte ein zweites Mal zurück, standen dort bereits neue Wohnblöcke.

Als ich 2021, drei Jahre später, einen Ort, an dem ich oft getanzt und gefilmt hatte, wieder aufsuchte, standen einige Häuser nicht mehr. Es handelt sich um eine Treppe, die die Stadtviertel Cihangir und Fındıklı miteinander verbindet. Zu Zeiten der Gezi-Proteste im Jahr 2013 wurden die Stufen komplett mit Regenbogenfarben bemalt. Als ich dort 2018 drehte, waren die bunten Farben bereits verblasst oder bröckelten und schienen wie Ruinen der vergangenen Proteste. Von oben eröffnete sich damals der Blick auf das Meer, unmittelbar davor befand sich eine Straße an der ein immenses Bauprojekt – das Einkaufszentrum für Kreuzfahrtschiffe „Galataport“[5] – realisiert werden sollte, das den freien Blick auf den Horizont mit seiner Fertigstellung verdecken würde. Links war die Treppe gesäumt von einer neu renovierten Villa, rechts von einem renovierungsbedürftigen oder abrissreifen Haus, das mit Graffitis besprüht war. Im unteren Abschnitt befanden sich öffentliche Gebäude. Die Kombination dieser verschiedenen Elemente machte die Treppe für mich von Beginn an zu einem interessanten Ort.

2021 war der Blick auf den Horizont durch das fertiggestellte Einkaufszentrum komplett verdeckt. Das alte Haus war bereits abgerissen, ein weiteres befand sich im Abriss und die Regenbogenfarben des Protests waren nun rot überstrichen.

Fotos vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen, dass die Architektur der Treppe damals, was die Distribution der Gebäude betrifft, der heutigen ähnelt, wobei sie breiter erscheint. Dass sich von oben aus auch damals ein weiter Blick auf die Stadt, aber auch eine freie Aussicht auf das Meer ergab, bleibt anzunehmen. Folgende Bilder zeigen die Treppe im Jahr 1910 bzw. 1938, voll von Menschen während des vorüberziehenden Trauerzuges bei der Beerdigung Kemal Atatürks; dazu Aufnahmen von 2018 und 2021.

 

Abb1

Abb. 1: Treppe Cihangir-Fındıklı

 

Abb1

Abb. 2: Treppe Cihangir-Fındıklı, 1910

 

Abb1

Abb. 3: Treppe Cihangir-Fındıklı, 1938

 

Abb4

Abb. 4: Treppe Cihangir-Fındıklı, 1938

 

Abb1

Abb. 5: Treppe Cihangir-Fındıklı, 2018

 

Abb1

Abb. 6: Treppe Cihangir-Fındıklı, 2021

 

Abb1

Abb. 7: Treppe Cihangir-Fındıklı, 2018

 

Abb1

Abb. 8: Treppe Cihangir-Fındıklı, 2021

 

Abb1

Abb. 9: Treppe Cihangir-Fındıklı, 2018

 

Abb1

Abb. 10: Elmadağ 2018

 

Die Stadtviertel Sulukule und Balat

Im obigen Fall betreffen die rasanten Veränderungsprozesse, die in Istanbul eine gewisse Normalität haben, nur ein kleines Gebiet. Anders war dies in Sulukule, einem seit mehr als 600 Jahren von Roma bewohnten Viertel im Stadtteil Fatih, das 2007 den Abrissmaßnahmen der Regierung zum Opfer fiel. Auf Grundlage eines Gesetzes zur Erdbebenprävention war Sulukule das erste ausgewiesene Sanierungsgebiet. Die Bevölkerung wurde mit fadenscheinigen Verträgen zum Verkauf ihrer oft selbstgebauten Häuser bewegt. Mit dem Versprechen ein neues, schöneres Viertel zu bauen, willigten viele der Bewohner_innen ein, erhielten für den Verkauf ihrer Häuser aber viel zu wenig. Die dann neu gebauten Eigentumswohnungen waren unerschwinglich für die zuvor dort ansässige Bevölkerung. Ihnen wurden Wohnungen am Stadtrand zur Verfügung gestellt, eine nicht praktikable Lösung, da diese viel zu weit vom Arbeitsmittelpunkt der Menschen im Zentrum der Stadt entfernt lagen. Die zuvor in Sulukule existierende soziale Infrastruktur wurde zerstört, ein ganzes Viertel zerrissen. Trotz vieler Initiativen und Unterstützung, die teilweise auch aus dem Ausland kam, war es zu spät: Das Viertel konnte nicht mehr gerettet werden und hat seinen ursprünglichen Zusammenhalt verloren.

Für die Recherche zum Film suchte ich Sulukule auf, führte Interviews mit der HipHop-Crew Sulukule Ekibi, der Tänzerin Gizem Nalbant und ihrer Familie sowie einigen zufällig angetroffenen Anwohner_innen. Im Film tauchen ihre Stimmen, die Beschreibungen der Entwicklungen im Viertel, als weitere Diskursebene auf.

Auch in anderen Bezirken kam es zu ähnlichen Entwicklungen, aber mit durchaus anderem Ergebnis. Ein Beispiel ist der Bezirk Balat. Hier kam man ebenfalls von staatlicher Seite auf die Bevölkerung zu und wollte sie vom Verkauf ihrer Häuser zum Zwecke der Modernisierung überzeugen. Doch vermochte es die Bevölkerung, sich schneller zu organisieren. Viele wurden sich bewusst, dass die Umstrukturierungsmaßnahmen den Verlust der historischen und architektonischen Struktur des Viertels und der Nachbarschaftskultur bedeuten würde [vgl. Ahunbay, Dinçer und Şahin 2015: IX]. Die in Balat lebende Ökonomie-Dozentin Çiğdem Şahin, die ich ebenfalls interviewen konnte, stand am Anfang der Bewegung und gründete mit Anwohner_innen einen Verein, der nach mehreren Gerichtsprozessen die Baumaßnahmen stoppen konnte. Balat blieb von umfangreichen Sanierungsmaßnahmen verschont. Die Erfahrungen aus Sulukule hatten gezeigt, wohin eine zu späte Reaktion führen konnte und wie wichtig die kollektive Aktion war.

Im Film tauchen beide Beispiele auf. Die Stimmen aus Zeiten des Protests, sprachlich geschilderte Eindrücke der Organisierung und der jeweiligen Entwicklungen in den Stadtteilen, die ich in Interviews festhalten konnte, legen sich als weitere diskursive Ebene über die Bilder.

 

Anıt ağaçlar: Bäume als Gedenkorte

Den schnellen Veränderungsprozessen steht im Film eine wichtige Konstante gegenüber: die Bäume der Stadt. Istanbul ist weltweit eine der Metropolen mit der geringsten Anzahl an Grünflächen und Parks.[6] Im Gegensatz zum recht grünen Umland und den Außenbezirken, werden besonders im Zentrum der Stadt Bäume, Pflanzen und Parkanlagen immer rarer und müssen im Zuge der exzessiven Baumaßnahmen weichen. Hieran entzündeten sich immer wieder politische Konflikte und Auseinandersetzungen, wie z.B. bei Beginn der Gezi-Proteste im Jahr 2013 am Taksim-Platz oder während der Proteste gegen den inzwischen fertiggestellten neuen Flughafen der Stadt, für den ganze Waldflächen gerodet wurden.

Das durchweg nicht grüne Stadtbild von Istanbul ist nichtsdestotrotz geprägt von einer Vielzahl vereinzelt stehender alter Bäume, die hier den besonderen Namen „Anıt ağaçlar“ tragen, was sich am ehesten mit Erinnerungs- Gedenk- und / oder Monument-Bäume übersetzen ließe. Damit sind Bäume gemeint, die eine besondere Bedeutung im Stadtbild einnehmen, da sie eine bestimmte Größe bzw. Lebensdauer ihrer Art bereits überschritten haben und so besonders eindrucksvoll wirken. An einem Ort wie Istanbul, an dem sich viele unterschiedliche Geschichten und historische Erzählungen überlagern, fesselte mich der der Gedanke was diese Bäume schon alles miterlebt, gesehen oder bezeugt haben müssen. Die Tatsache, dass viele dieser besonders alten Bäume noch existieren, grenzt fast schon an ein Wunder.

Als ich im selben Jahr, 2018, gemeinsam mit meinem Vater und meinem Onkel in das Geburtsdorf meines Vaters reiste, fanden wir die Teestube wieder, die mein Großvater über viele Jahre betrieben hatte. Wir tranken gemeinsam mit den alten Männern des Dorfes genau dort Tee unter einem riesigen Maulbeerbaum, als einer der älteren Herren mir erklärte, dass mein Großvater diesen Baum gepflanzt hatte. Die Tatsache, dass wir über diesen Baum mit meinem Großvater verbunden waren, dass er über Generationen hinweg unsere Verbindung aufrechterhält, hatte mich damals zutiefst berührt. Der Baum kannte mich, meinen Vater und meinen Großvater – drei Generationen. Dieses Erlebnis sensibilisierte mich fortan auch für die Bäume von Istanbul.

Trotz vieler Widrigkeiten stehen viele der alten Bäume noch. Im Wahn des Städtebaus hat man es bisher noch nicht gewagt, ihnen den Platz streitig zu machen. 2019 wurde seitens der Istanbuler Stadtverwaltung sogar eine Website zu ihrem Schutz eingerichtet, auf der sich viele Informationen über Art, Alter, Bestand finden.[7] Die alten Bäume scheinen uns mit einer anderen Zeitlichkeit zu verbinden. In diesem Sinne werden im Film nicht nur die verschiedenen Punkte in der Stadt miteinander in Beziehung gesetzt, sondern auch verschiedene Temporalitäten. Die Existenz der alten Bäume zeigt zudem, inwiefern das Stadtleben, so urbanisiert es auch sein mag, immer eine Koexistenz von „Natur“ und „Kultur“ bedeutet. Die Bäume sind Teil der Stadt, sie haben ihr Überleben an die Urbanität angepasst und die Menschen haben sie durch ihre Geschichten, Erzählungen und ihr dortiges Verweilen – es gibt eine Vielzahl von Cafés unter Platanen in Istanbul, die auch genau diesen Namen tragen – in ihr Leben eingefügt.

Ein erstes wichtiges schriftliches Dokument, das die alten Bäume von Istanbul dokumentiert, ist das im Jahr 1977 erschienene und von Çelik Gülersoy verfasste Buch İstanbul‘un Anitsal Ağaçları (Istanbuls Gedenkbäume), auf das ich 2018 während meines Aufenthaltes in Istanbul stieß. Es diente mir als eine Art Kompass für meine Spaziergänge, als Karte, durch die sich die Punkte der Stadt auf andere Art bestimmen ließen als es bei meinen spontanen ‚tänzerischen‘ Spaziergängen der Fall gewesen war. Neben den spontanen und intuitiven Erkundungen suchte ich einige Orte sehr bewusst auf, nämlich jene, an denen die bis zu 700 Jahre alten meist Platanen- und Kiefern-Bäume zu finden waren. Im Buch finden sich Fotos und Zeichnungen vom Zustand der Bäume und ihres Umfeldes zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vergangenheit – aber alle vor 1977, dem Erscheinungsjahr des Buchs. Aus diesem Grund war es für mich spannend zu entdecken, was sich verändert hatte und ob die Bäume noch existierten. Gleichzeitig fand ich über Gespräche mit Anwohner_innen - im Film festgehalten als Interviewstimmen - etwas über die Legenden und Erinnerungen heraus, die an die jeweiligen Bäume geknüpft sind. So hatte in Sulukule jahrelang ein Schuhhändler seinen Laden in einem 500 Jahre alten Baum unterhalten. Und viele weitere Geschichten rankten sich um diesen Baum, der auf einem kleinen Platz an einer Straße steht. So griff eine ältere Dame eine Erzählung auf, nach der im Baum ein Brautpaar gewohnt hatte, das sich jede Nacht herausschlich.

In Çengelköy erzählte man sich, dass die Wurzeln des 700 Jahre alten Baumes die am Meeresufer entlangführende Straße untergraben, obwohl der Baum mehrere hundert Meter davon entfernt steht. Einer anderen Geschichte zufolge wurde ein Cafébesucher von einem herabfallenden massiven Ast eines Baumes erschlagen. Der Name des Cafés, dessen Terrasse sich direkt unter jenem Baum befindet, nimmt auf ihn Bezug: „Çınaraltı“ – „Unter der Platane“.

Über das Aufsuchen der Orte der Bäume ergibt sich  eine besondere Art des urbanen Mappings, das als eine Ebene in den Film eingeflossen ist.

 

Mapping gegensätzlicher urbaner Prozesse

Es stehen sich zwei grundlegende Prozesse gegenüber: die ständige Veränderung und auch Zerstörung der Stadt und gleichzeitig die Kontinuität, symbolisiert durch die alten Bäume, die wie Zeugen der Geschehnisse wirken. Sie bilden einen Gegenpol zur Schnelllebigkeit. Im Film lassen sich ihre Standorte als unterlegte Karte deuten, die die Wege der Protagonistin bestimmt.

Mapping-Prozesse durchziehen den Film auf verschiedenen Ebenen: es liegen gewissermaßen unterschiedliche Karten und Prozesse zugrunde, die sich in einem Netz miteinander verknüpfen. Die Interdependenz all dieser Karten ergibt in der Montage das spezifische Mapping des Films. Wie zu Anfang betont, liegen dem Film unterschiedliche thematische Diskurse zugrunde, die sich miteinander verschränken und gleichzeitig an unterschiedlichen Orten lokalisieren: Es geht um Orte des Wandels, die Orte der Bäume und das intuitive Aufsuchen, Gehen und Tanzen, ein In-Bewegung-Sein. Unterlegt mit den Stimmen der Anwohner_innen und den Geschichten, die sich um diese Orte ranken, entsteht der Blick auf die Stadt.

Mapping muss nicht auf Karten beschränkt sein. Auch andere mediale Formate können in solcher Weise gelesen werden und neue Blickverhältnisse erzeugen. Mapping im vorliegenden Film kann dazu beitragen, Perspektiven jenseits von bekannten Wegen einer bekannt scheinenden Stadt zu eröffnen, kann die Perspektiven unterschiedlicher Gruppen und deren Kämpfe um innerstädtische Räume sichtbar werden lassen.

Die Kombination verschiedener Medien – Film und Performance – ist ein Versuch, den Prozessen von ständigem Wandel und gleichzeitiger Kontinuität als Teil von Gentrifizierung einen neuen Zugang zu eröffnen. Jedes Medium bringt eigene Möglichkeiten und Einschränkungen mit sich; die Kombination verschiedener Medien erzeugt wiederum neue Konfigurationen. In dem Fall galt es auszuloten, welche Bilder und Perspektiven urbaner Veränderungen sich durch deren jeweiligen Einsatz erzeugen lassen – was nicht zuletzt auf ihre Kontingenz verweist.

 

 

 

Abb11

Abb. 11: Topkapı 2018

 

 

Abb1

Abb. 12: Maslak 2018

 

 

Abb13

Abb. 13: Sulukule 2018

 

Literatur
Ahunbay, Zeynep, Iclal Dinçer und Çiğdem Şahin. „Şunuş“. In: dies. Neoliberal Kent Politikaları ve Fener-Balat-Ayvansaray. Bir Koruma Mücadelesinin Öyküsü: Türkiye Iş Bankasi Kültür Yayınları Istanbul 2015: VII-XI.
Bueno de Mesquita, Naomi and David Hamers. „Mapping Invisibility“. In: Proceedings of the 3rd Biennal Research Through Design Conference, 22-24 March 2017, Edinburgh/UK 2017: 423-437.
Busse, Klaus-Peter. Den Atlas öffnen. Mapping: ein kulturelles Skript. 2008, docplayer.org/13324478-Klaus-peter-busse-den-atlas-oeffnen-mapping-ein-kulturelles-skript.html, 25.05.2022.
Debord, Guy. „Theorie des Umherschweifens“. In: Anneke Lubkowitz (Hg.). Psychogeographie. Eine Anthologie. Berlin 2020: 35-42.
Gülersoy, Çelik. İstanbul‘un Anitsal Ağaçları. Istanbul 1977.
İhraç, Jasmin. Constant changes, silent witnesses. Film. 2019.
İhraç, Jasmin. „Stipendiat’innen-Porträt“. In: Deutsche Botschaft Ankara / Goethe-Institut (Hg.). Kulturakademie Tarabya. 2018-2019. Istanbul 2020: 92-98.
Lefebvre, Henri. „Das Recht auf Stadt“. In: Anneke Lubkowitz (Hg.). Psychogeographie. Eine Anthologie. Berlin 2020: 45-50.
Merx, Sigrid. Mapping invisibility Surveillance art and the potential of performative cartography. 2017. URL: https://mediarep.org/bitstream/handle/doc/2188/Performing_the_Digital_157-167_Merx_Mapping.pdf?sequence=1&isAllowed=y, 25.05.2022.
Ohrt, Roberto (Hg.). Das große Spiel: Die Situationisten zwischen Politik und Kunst. Berlin 1999.
Runow, Tanja. „Nach dem Abriss von Sulukule“. 2011. https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-abriss-von-sulukule-100.html, 25.05.2022.
Spillmann, Peter. Künstlerisches Mapping – Der kartographierte öffentliche Raum. 2011. Künstlerisches Mapping - Der kartographierte öffentliche Raum - Master Kunst Luzern (master-kunst-luzern.ch), 25.05.2022.
Spillmann, Peter. Strategien des Mappings, In: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007:155-168.
Yalazay, Volkan. Eski İstanbul'un Anıtsal Ağaçları. Ankara 2019.

 

Nachweis der Abbildungen
Abbildung 1:
Abbildung 2:
Abbildung 3:
Abbildung 4:
Abbildungen 5-8 und 10-13: Screenshots Constant changes, silent witnesses
Abbildung 9: Viola Yeşiltaç

 



[1] „Auch ein weiterer Mitbegründer der Situationistischen Internationale, der Künstler und Architekt Constant [Nieuwenhuis], benutzte in den 1960er-Jahren Stadtpläne von Paris, Brüssel und Amsterdam, um eine Vision der Stadt der Zukunft darzustellen. Seine Pläne zeigen rhizomartig verästelte Strukturen entlang bestimmter Verkehrsachsen oder Geländestrukturen, wo sich die Stadt verdichtet und von mehrschichtigen Nutzungen überlagert wird, während die homogenen Flächen dazwischen an Bedeutung verlieren. Constants New Babylon organisiert sich entlang von Beziehungen, Kontakten und Informationsflüssen. Scheinbar objektive Strukturen wie Peripherie und Zentrum verlieren jegliche Bedeutung.“ [Spillmann 2011, o. P. ]
[2] „Als Strategie gegen die dominante Ordnung des Kapitalismus forderten die Situationisten im Vorfeld der 1968er Bewegungen die konsequente Hinwendung zum Alltag. Absichtslose Streifzüge durch die Strassen und Quartiere von Paris war die von ihnen bevorzugte Praxis, um das reibungslos funktionierende Spektakel der Stadt-Maschine zu sabotieren und die Routinen der Wahrnehmung zu untergraben. Im ziellosen Umherschweifen nimmt das Geschehen im Raum laufend überraschende Wendungen, bilden Fragmente des Alltags – vielleicht vergleichbar mit der Montage beim Film – ständig neue Bedeutungen.“ [Spillmann 2011, o. P.]
[3] “Why and how this map was made will be explained later as part of an argument to consider performative mapping as an act of ‘inter-facing’ between the physical and the virtual, between the known and the yet to be discovered, and between different points of view.” [Bueno de Mesquita und Hamers 2017: 426]. Siehe auch: http://performativemapping.com/ 25.05.2022
[4] Das Projekt ist über folgende Website einsehbar: MigMap - Governing Migration (transitmigration.org) 25.5.22. Vgl. auch Peter Spillmans Text zu MigMap: „Ziel war die Sichtbarmachung der Dynamik und politischen Evidenz der normalerweise in der medialen Berichterstattung nicht repräsentierten Autonomie der Migration und das Zugänglichmachen von entsprechenden Informationen über das Internet.“ [Spillmann 2007, o. P.]
[5] „‚Dir gehört die Stadt, dir gehört das Meer‘ – dies versprach jahrelang die Aufschrift auf einem Bauzaun, der Istanbul und seine Bewohner vom Meer abschnitt. Der Zaun riegelte das historische Hafengelände am Zusammenfluss von Goldenem Horn und Bosporus am europäischen Ufer von Istanbul ab. Ein Konsortium türkischer Konzerne und Banken baute dahinter an einem Großprojekt namens ‚Galataport‘, das Kreuzfahrtschiffe nach Istanbul locken soll.“ [Güsten 2021]
[6] Vgl. die folgende Zusammenstellung von 2019: Der Anteil von Grünflächen und Parks in Istanbul betrug im Jahr 2015 2,2%. In Stockholm waren es im gleichen Jahr 40%; vgl. www.worldcitiescultureforum.com/data/of-public-green-space-parks-and-gardens. 25.5.2022.