„Bewußtes Unvermögen“ – Archivpraktiken in der Gegenwart der Kunst
Vera Lauf (Leipzig)
Von März 2019 bis März 2020 zeigte die Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) Leipzig das Projekt Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer. In drei Teilen wurde die künstlerische Praxis Stötzers, die in den 1980er Jahren eine zentrale Protagonistin der subkulturellen Szene Erfurts war, gezeigt und durch dokumentarisches Material, das die Künstlerin selbst zusammengestellt hat, ergänzt. Dokumentarische Fotografien, Aufnahmen von Performances, Zeitschriftenartikel, Auszüge aus Stasi-Berichten sowie Plakate waren neben Filmen, Fotoserien, Textilarbeiten, Keramiken und Künstlerbüchern zu sehen und betteten die Kunst in den gesellschaftlichen Zusammenhang der späten DDR ein. Inszeniert wurde ein begehbares Archiv, das zugleich Ausstellungs-, Forschungs- und Vermittlungsraum sein sollte. (Bild1)
Abb. 1: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 1,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Dem Projekt vorangegangen waren Überlegungen zu einem aktuellen Umgang mit Sammlungen an Museen. Dies schloss an aktuelle Debatten zur gesellschaftliche Rolle von Kunstmuseen an, wie sie in den letzten Dekaden in verschiedenen Konferenzen, Symposien und Workshops sowie in zahlreichen Sammelbänden geführt wurden.[1] Während sich diese Diskussionen in erster Linie auf die Dynamik und das Potenzial von temporären Ausstellungen, Vermittlungsprojekten und Veranstaltungen richten, erfolgt eine kritische Befragung der Arbeit mit und an den Sammlungsbeständen nur stellenweise.[2] Wenn man bedenkt, dass die Sammlung konstitutiv ist für das Museum, ist es dringend geboten, die Frage nach der gegenwärtigen Rolle von Museen mit den sich daraus ergebenden Effekten und Notwendigkeiten im Umgang mit ihren Sammlungen zu verknüpfen.
In einem internationalen Symposium „Sammeln in der Zeit/Collecting in Time“[3], das bereits 2017 an der GfZK organisiert wurde, suchten wir daher nach Wegen für eine mögliche Sammelpraxis, die den gegenwärtigen Anforderungen an Museen Rechnung tragen kann. Zum einen bezog sich das etwa auf die Betrachtung des seit Bestehens der Institution formulierten Bildungsauftrags – der sich derzeit entlang der Schlagworte von Teilhabe, Diversität, aber auch Digitalisierung neu bestimmt – und zugleich auf die Herausforderungen, die sich durch veränderte zeitgenössische Kunstpraktiken ergeben. Es ging weniger um eine Analyse bisheriger Sammlungskonzepte als vielmehr darum, nach veränderten Modellen zu fragen, die den bestehenden Umgang erweitern oder sich gar mit diesem anlegen [Vgl. Griesser und Sternfeld, 2019].
Zwei zentrale Aspekte, die sich aus den Diskussionen ergeben haben, möchte ich im Folgenden näher betrachten und mit Blick auf das Projekt Archiv Stötzer genauer beleuchten. Gefragt werden soll zum einen, in welchem Verhältnis das Archiv zur Sammlung stehen kann und zum anderen wie im spezifischen Feld der Gegenwartskunst der Gegenstand des Sammelns selbst (sprich: die zeitgenössische Kunst) auf alternative Ansätze hin ausgelotet werden könnte. Davon ausgehend möchte ich diskutieren, wie Sammlung als „Archiv für eine künstlerische Erfahrung“ [vgl. Rolnik 2011] zu betrachten wäre und wie man davon ausgehend ein Zusammenspiel von Erhalt und Aktivierung denken kann.
Archive Now
Das Thema des Archivs erhält in den letzten Jahren wiederholt eine große Aufmerksamkeit an Museen und Kunstinstitutionen. Im Mai 2019 veranstaltete etwa das Haus der Kulturen der Welt Berlin (HKW) zusammen mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) die internationale Akademie und den Kongress Das Ganze Leben: Archive und Wirklichkeit, um darin die Bedeutung des Archivbegriffs für eine von den SKD kürzlich erworbene Kunstsammlung zu diskutieren. Die Privatsammlung von Egidio Marzona wird seit 2016 in das öffentliche Archiv der Avantgarden (AdA) überführt. Archivpraktiken und -politiken scheinen Möglichkeiten für einen zeitgemäßen Umgang mit Sammlungen an Museen aufzuzeigen. Aber auch in anderen Feldern erhält der Begriff des Archivs eine fortlaufende Konjunktur.[4] Eine Reihe von Publikationen widmet sich den Funktionen und Konventionen des Archivarischen, der Bedeutung des Archivs für die Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart sowie der Produktion von Wissen, oder aber den Faktoren, die zunehmend die tradierten Konzepte des Archivierens herausfordern [vgl. etwa Bexte, Bührer und Lauke 2016; Ebeling und Günzel 2009; Miessen und Chateigné 2016; Schmieder und Weidner 2016]. Neben veränderten Anforderungen an das Archiv entlang etwa der Themen wie Sichtbarkeit und Zugang, verändert sich auch der Gegenstand dessen, was und wie archiviert wird, und was in welchen Zusammenhägen als archivwürdig gilt. Bezieht sich der Begriff des Archivs, hergeleitet aus dem griechischen archeion, auf das Amtsgebäude, in dem Dokumente aufbewahrt werden, und daran anschließend eben auf die Institution, die der Sammlung und Bewahrung von Dokumenten jeglicher Art dient, legt Michel Foucault in seiner Schrift Archäologie des Wissens 1969 einen Archivbegriff vor, der auf eine archivische Methode hin ausgerichtet ist und sich von dem Archiv als Institution abgrenzt. Damit bezeichnet er die Möglichkeit und Wirklichkeit des Wissens, in seinen Worten: die „Bedingungen des Auftauchens von Aussagen“. [Foucault 1973: 184.] Ist das Archiv zunächst das „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ [Foucault 1973: 187], beschreibt das, was Foucault als das „Apriori des Archiv“ bezeichnet, zugleich auch dessen Wandel: „[...] es [das Apriori des Archivs] konstituiert nicht über den Ereignissen und in einem Himmel, der unbeweglich bliebe, eine zeitlose Struktur; es definiert sich als die Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren: nun erlegen sich diese Regeln den Elementen, die sie in Beziehung setzen, nicht von außen auf; sie sind genau in das einbezogen, was sie verbinden; und wenn sie sich mit dem geringsten der Elemente verändern, verändern sie sie und transformieren sich mit ihnen doch an bestimmten entscheidenden Schwellen.“ [Foucault 1973: 185]
Foucaults Überlegungen zum Archiv zogen disziplinübergreifend sowohl in der Wissenschaft als auch in der künstlerischen Praxis eine rege Auseinandersetzung mit den „Realitätsbedingungen für Aussagen“ [Foucault 1973: 184] nach sich.
Die Kunst des Archivs
Seit Mitte der 1960er Jahre wird eine enge Verbindung zwischen der Kunstpraxis und Prozessen der Archivierung ausgemacht. Die Rede ist gar von einem „archival turn“, unter dem ganz allgemein „die Übertragung einer unabgeschlossenen Vergangenheit in die Gegenwart mittels ästhetischer Praxis verstanden“ [Bührer und Lauke 2016: 15] wird. Bezieht sich dies sowohl auf Praktiken, bei denen Archive als künstlerische Arbeiten entstehen, als auch auf Vorgänge der künstlerischen Selbstarchivierung und übergeordnet auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Institution der Kunst, wird daran die breite Bedeutung des Archivbegriffs für die künstlerische Praxis sichtbar.
Das jüngste Heranziehen des „Archivs“ nun auch für die Befragung der Sammelpraktiken an Museen knüpft an die künstlerischen Beschäftigungen an. Gerade im erweiterten Feld der Kunst, den institutions- und repräsentationskritischen künstlerisch-kuratorischen Verfahren und damit verbundenen Konzepten können Modelle für reflexive Sammlungsstrategien gefunden werden.
Das Bestreben einiger Museen, eine Neuperspektivierung ihrer Sammlung vorzunehmen und sich dabei auf künstlerische Ansätze zu stützen, zeigt sich nicht nur in einer gerade in der letzten Dekade wiederkehrenden Präsentation von Künstlermuseen und Archivpraktiken in Museen, sondern auch darin, dass gezielt Künstler:innen dazu eingeladen werden, die bestehenden Bestände neu zu ordnen. Der Niederschlag künstlerischer Verfahren auf die Rekonzeption von Sammelpraktiken an Museen für Gegenwartskunst hat zudem noch eine weitere Dimension: Veränderte Kunstpraxen erfordern ohnehin ein Überdenken bisheriger Sammlungskonzepte. Für eine Reihe von künstlerischen Praktiken – etwa performative, zeitbasierte, partizipative, kollaborative – erweisen sich bisherige Sammelkonzepte als inadäquat, dabei können sie wichtige Perspektiven für die Museumsarbeit eröffnen. Die Herausforderungen, die sich für das Sammeln jener Kunstpraktiken ergeben, können auch auf die Betrachtung jeglicher Bestände einer Sammlung bezogen werden: Was wird (oder kann) gesammelt (werden)? Was sind die Bedingungen einer „Wiederaufführung“ und die Möglichkeiten ihrer „Überlieferung“? Welche Art der Überlieferung ist denkbar, wenn sich etwas nicht nur über eine Textebene oder visuelles Material vermitteln lässt, sondern wenn es auch um ein körperliches Erleben geht? Wie können etwa die ortsspezifischen und situativen Kontexte wie auch unterschiedliche Erfahrungen (der Künstler:innen, Teilnehmer:innen/ Betrachter:innen) sichtbar und zugänglich gemacht werden?
Beziehungsweisen
Die Frage nach dem Spektrum an Zugängen zu Sammlungsbeständen führt zu der Überlegung, dass sich die Fokussierung auf das materielle Einzelobjekt zugunsten eines relational gedachten Konzepts von Sammlungen verschieben müsste. Zum einen können durch eine Verknüpfung der Sammlung mit weiteren wissensproduzierenden Speichern – Archiv und Bibliothek – die Bestände mit diskursivem und kontextualisierendem Material erweitert werden,[5] zum anderen ginge es darum, die Erfahrungen und Wahrnehmungen verschiedener Akteur:innen (der Künstler:innen, des Museumspersonals, der Besucher:innen) mit in den Blick zu nehmen. Bezieht sich ersteres auf das In-Beziehung-Setzen von Materialien unterschiedlicher Herkunft und sammelnder Einrichtungen, öffnet letzteres entlang eines Archivbegriffs, der die diskursiven Praktiken in den Blick nimmt, die Perspektive auch für die Bedingungen des Sammelns und die Bedeutung(en) von Sammlungsobjekten, die sich entlang eines zeitlichen Faktors (von der Produktion über die Aufführung oder Ausstellung hin zur Überlieferung und Rezeption) wandeln.
Die vorangestellten Überlegungen führten in der GfZK zur Entwicklung des Projekts Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer.[6] Gabriele Stötzer (*1953) war Protagonistin einer kulturellen Szene, die nicht den offiziellen Paradigmen der Kulturpolitik der DDR entsprach. Als Mitinitiatorin einer Unterschriftenliste gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde sie zu einem Jahr Haft verurteilt und entschied sich anschließend für einen Lebensentwurf als Künstlerin. Ihr experimentelles künstlerisches Arbeiten umfasst literarische Texte, Filme, Fotografien, Performances, Kostüme, Objekte, textile Arbeiten, Künstlerbücher, Malerei und Zeichnung. Sie arbeitete sowohl individuell als auch in kollektiven Strukturen; agierte als Galeristin, Aktivistin und Co-Produzentin subkultureller Events. In diesen Tätigkeiten war Stötzer mit Überwachung und Kriminalisierungsversuchen durch die Staatssicherheit der DDR konfrontiert. Im Zuge der Bürger:innenbewegung im Herbst 1989 wurde sie in der Gruppe „Frauen für Veränderungen“ aktiv, sprach auf Demonstrationen und initiierte zusammen mit vier weiteren Frauen die Besetzung der Staatssicherheitszentrale Erfurt.
Gabriele Stötzer selbst hat zu dem hier kurz skizzierten biografischen Kontext umfangreiches dokumentarisches Material gesammelt; ihre künstlerischen Arbeiten befinden sich bis auf wenige Ausnahmen bis dato in ihrem Besitz. Das auf die Dauer von einem Jahr und in drei Teilen angelegte Ausstellungsprojekt zeigte eine große Auswahl des Konvoluts aus der Privatsammlung Stötzers. Die Arbeit mit dem Konvolut, das (noch) nicht Teil der GfZK-Sammlung ist, stellte einen Ausgangspunkt auch dafür dar, zu erproben, wie Sammlung bzw. der Umgang mit Sammlung am Museum gedacht bzw. wie eine Sammelpraxis am Museum erweitert werden kann.
In Anbetracht dessen, dass eigene Projekte nicht ohne Distanz beleuchtet werden können und um das Projekt nicht im Sinne einer „Best Practice“ darzustellen, möchte ich im Folgenden weniger diskutieren, welche tatsächliche Wirkung die Umsetzung erzielte, sondern vielmehr unsere (vorangegangenen) Überlegungen darstellen, die dann zu der jeweiligen Präsentation des Archivs bzw. genauer: des Materials als Archiv im Raum führten. Vorangestellt war eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem vorgefundenen Material und dem Begriff des Archivs – zunächst mit Blick auf das Ordnen und die Darstellung einer vergangenen Praxis und im Weiteren auf die Möglichkeit einer aktiven Auseinandersetzung, bei der nach der Bedeutung des Betrachtungsgegenstands für die Gegenwart gefragt wurde.
Die Ordnung des Archivs
Die einzelnen Teile waren nach sich veränderten Schwerpunkten organisiert: So lag zunächst der Fokus auf dem Archiv-Charakter und später auf Produktionszusammenhängen und auf der Arbeitsweise Stötzers. Der Umgang mit dem Material und dessen Präsentation in der als Reihe angelegten Ausstellung spiegelte zugleich Prozesse des Archivierens und die Annäherung an das Konvolut wider.
Zunächst ging es um ein Erfassen des Materials in seiner Bandbreite, von dem in einem weiteren Schritt ein thematischer Ausschnitt für die nähere Erforschung extrahiert wurde und aus dem schließlich im letzten Teil der Reihe einzelne Werkgruppen und dokumentarisches Material einander zugeordnet im Raum positioniert wurden. (Bild 2-4)
Abb. 2: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 1,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Abb. 3: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 2,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Abb. 4: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 3,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Zentral für die Präsentation war die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Paula Gehrmann, die basierend auf ihrer eigenen Arbeit wechselnde Rauminstallationen entwickelte. Die Installationen setzten sich aus einer Struktur zusammen, die als Architektur, Skulptur und Präsentationsmodell zugleich gelesen werden kann. Gehrmanns Elemente agierten als „Assistenten“ im erweiterten Sinn für die Praxis Stötzers.
Formgebend war Gehrmanns Struktur aus zusammengefügten Vierkantrohren, Plexiglas und MDF-Platten zunächst dahingehend, als sich in ihnen eine Reihe von Andeutungen verbarg: Die mit Verbindern zusammengesteckten Aluminiumstangen wiesen auf die potenzielle Veränderlichkeit sowohl der Anordnung als auch des Raums insgesamt hin, aufeinandergestellte Mdf-Kuben ergaben eine Säule, die an eine Plakatwand erinnerte, oder eine Kombination aus Mdf-Kubus, Plexiglas und Aluminiumstangen deutete eine Vitrine an, die nach oben hin offen blieb. (Bild 5)
Abb. 5: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 3,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Einher ging all dies mit eben der Idee der geöffneten Vitrine als zentrale Metapher für die gesamte Präsentation[7]: Die Glaswand im Foyer des GfZK-Neubaus, hinter der die Ausstellung zu sehen war, fungierte als Schaufenster, die einen ersten Einblick erlaubte, zugleich nahm der Raum, von der Außenperspektive her, den Charakter einer Vitrine an, in dem konventioneller Weise Historisches aufbewahrt und vor Zugriff geschützt wird. Nun gewährte diese Vitrine hingegen Eintritt und eröffnete ein begehbares Archiv, das auf eine aktivierende Auseinandersetzung mit dem gezeigten Material zielte. (Bild 6 + 6a)
Abb. 6
Abb. 6/6a: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 1,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Bewegliche Varianten
Der erste Teil der Ausstellungsreihe beschrieb zunächst einen Moment vor dem klassischen Archivieren und wollte zugleich den Raum für eine Betrachtung des Wesens von Archiven öffnen: Das modulare System Paula Gehrmanns, das auf festen Maßeinheiten beruht, fasste die Objekte Stötzers, gab ihnen teilweise eine geschlossene Rahmung, an anderer Stelle jedoch ließen sich die Formate einzelner Fotoserien oder Textilien nicht in die vorgegebene Struktur einfassen. Die Struktur wurde dann gewissermaßen aufgebrochen bzw. auf eine (notwendige) Erweiterung hingewiesen. (Bild 7 + 8)
Abb. 7: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 1,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Abb. 8: Paula Gehrmann, "Display (Bewußtes Unvermögen, 2019)
Gemäß der Fülle des weitestgehend unsortierten Konvoluts Stötzers, mit dem wir anfänglich konfrontiert waren, war das Material auf engstem Raum in einer dichten Zusammenstellung angeordnet. Dadurch wurde den Betrachter:innen die Konzentration auf ein Einzelobjekt verwehrt, die Dinge wurden in ihrer Überlagerung gezeigt und gerieten bei der Betrachtung und durch die Bewegung im Raum in wechselnde Konstellationen. (Bild 9 + 10)
Abb. 9
Abb. 9/10: Paula Gehrmann, "Display (Bewußtes Unvermögen, 2019)
Die Entscheidung, die Objekte Stötzers nicht auf den Wandflächen zu fixieren, sondern in den Raum zu holen, verstärkte sowohl deren Beweglichkeit als auch die genaue Sichtung des Materials: Alles war von verschiedenen Seiten aus zu betrachten und ermöglichte unterschiedliche Perspektiven, auch auf Texte, Zeichnungen, Schriften und Beschriftungen auf den Rückseiten der Objekte.
Die Form der Präsentation, die auf Interferenzen angelegt war, entwickelte sich zudem aus der künstlerischen Praxis Gabriele Stötzers selbst heraus: Analog zu ihrer Arbeitsweise der Produktion serieller Varianten und der Überarbeitung und Verbindung von Motiven tauchten einzelne Motive an verschiedenen Stellen und in variierenden Bezügen wieder auf. Das an manchen Stellen erforderliche regelrechte Durchzwingen durch die Gänge der Installation war auf eine stark körperlich-sensuelle Raumerfahrung der Betrachter:innen ausgerichtet, die auch die direkte Konfrontation des eigenen Körpers beinhaltete – gerade da, wo in den Arbeiten Stötzers der (nackte) Körper als Material fungiert.
Instabile Verhältnisse
Die Engführung der Beschäftigung mit dem Archiv (mit Prozessen der Selektion und des Ordnens) und der Praxis Stötzers (bei der Varianten von Posen und Motiven durchgespielt werden) setzte sich in der als Reihe angelegten Ausstellung fort. Durch die Präsentation des Archivs in drei großen Schritten, änderte sich die Auswahl der Objekte, führte dabei aber auch zu einer Um- und Neu-Ordnung des bereits gezeigten Materials, wenn dieses wieder in veränderten Konstellationen auftauchte. Leitend war dabei die Frage, welche Kontexte durch die Anordnung von künstlerischen Arbeiten zueinander und der Zusammenstellung von Kunst und Dokument hergestellt werden können; wie die Bedingungen der Produktion und Rezeption gerade auch von performativen und prozessual angelegten Arbeiten sichtbar werden können; wie sich dies, bzw. genauer: was sich davon „überliefern“ lässt.
Auszüge von Bildern und Texten aus Stasi-Berichten, Briefe von und an Kolleg:innen, Fotos von Aktionen und Ausstellungen, Filmaufnahmen von Modeshows eröffneten Zusammenhänge und eröffneten zugleich eine Reflexion auf deren Beziehung zur künstlerischen Praxis: Wie verhält sich die Dokumentation zum Ereignis selbst? Was ist künstlerische Arbeit, was Dokument, was Requisit? Die Entscheidung, etwa ein Künstlerbuch in gleicher Weise wie die von Gabriele Stötzer als Buchform angelegte Dokumentation zu der von ihr geleiteten Galerie im Flur, oder eine künstlerische Fotoserie samt der parallel dazu entstandenen Fotos, die den Produktionsprozess zeigen, wie auch ein Kleid aus einer Performance neben ihrer filmischen Aufnahme zu präsentieren, warf an mehreren Stellen die Frage nach der Ein- und Zuordnung des Materials auf (eben als Kunst, als Dokument, als Requisit). (Bild 11)
Abb. 11: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 3,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Das Motiv des Offenhaltens und damit das Befragen tradierter Konventionen des (Zu-)Ordnens lässt sich auch aus Gabriele Stötzers Praxis selbst begründen, die sich widerständig sowohl zu gesellschaftlichen als auch künstlerischen Normen herausbildete. Der Titel des Projekts Bewußtes Unvermögen ist ein Zitat aus einem Text Stötzers, in dem sie gängige und erprobte Systeme zugunsten einer Praxis der Unsicherheit und des Instabilen propagiert. Dabei ist Stötzers Arbeitsweise und künstlerische Produktion geleitet von einem feministischen Ansatz, der auch auf einer Produktion in kollaborativen Formen der Zusammenarbeit beruht. Im Archiv Stötzer setzte sich dies gerade da fort, wo die Arbeitsweisen der beiden Künstlerinnen, Gabriele Stötzer und Paula Gehrmann, zusammenkommen: Gehrmanns künstlerische Praxis ist motiviert von der Suche nach Fluchtlinien, die weg von den etablierten Grenzen führen und eine Befragung der eigenen Rolle wie auch der Produkte künstlerischer Produktion eröffnen: Explizit uneindeutig bleibt ihre eigene Position – als Künstlerin und/oder Ausstellungsgestalterin –genauso wie die Zuordnung zu funktionalem Träger, Skulptur, Installation und/oder Architektur des modularen Systems, das sie in Abgrenzung zu den sonst üblichen Displays (Rahmen, Sockel, Vitrine) entwickelt hat. Insbesondere im dritten Teil des Projekts spitzte sich der wechselnde Charakter der künstlerischen Arbeit Paula Gehrmanns zu, konnten hier doch einzelne Elemente Gehrmanns je nach eingenommener Perspektive im Raum sowohl als autarkes skulpturales Objekt als auch als Träger für die künstlerische Arbeit Stötzers betrachtet werden. (Bild 12 + 13)
Abb. 12
Abb. 12/13: Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer # 3,
Ausstellungsansicht, Foto: Alexandra Ivanciu
Das Zusammenspiel zwischen dem Gezeigten und den Gesten des Zeigens beschreibt Kathleen Reinhardt in einer Rezension zur Ausstellung wie folgt: „Gehrmann designed the show as a collaborative process that translates GDR 1980s subculture into a display method. [...] In this way she actualizes the historical material, but in a manner that is slower and demands more time from the visitors who (also physically) position themselves in relation to these materials [...].“ [Reinhardt o. J.]
In der Anlage, dass die gesamte Konzeption des Archivs eng aus der Praxis Stötzers selbst heraus begründet ist, gleichzeitig sowohl über die künstlerische als auch kuratorische Setzung archivische Prinzipien und Verfahren sichtbar macht, beschäftigte sich das Projekt mit dem Gedanken, nicht allein ein Archiv über, sondern (angeregt durch Suely Rolniks Betrachungen zur Archivmanie [Rolnik 2011]) eben auch für eine künstlerische Praxis zu eröffnen – ein Gedanke, den Reinhardt in ihrer Betrachtung der Ausstellung herausstellt: „In this show, the question of form is posed not only with respect to the materials —which are so powerful they could also speak for themselves— but form is actively created with them. This is a way to employ and actively reuse the materials on display [...]“. [Reinhardt o. J.]
Insgesamt forderte die Präsentation in der Ausstellungsreihe die Besucher:innen zu einer aktiven Beschäftigung mit dem Material heraus, war doch eine komfortable Betrachtung der Objekte aus einer gewissen Distanz und auf der als ideal festgelegten Augenhöhe nicht durchweg möglich. Vielmehr mussten sich die Besucher:innen, um etwa Fotografien, Künstlerbücher, Briefe, Postkarten, Plakate, (literarische) Schriften, Filme näher ansehen zu können, mitunter auf die Zehenspitzen stellen oder tief in die Hocke gehen. Auch eine eindeutige Lesart des Gezeigten war nicht festgelegt: Wurden in den einzelnen Teilen zwar jeweils Informationsmaterialien zum Kontext des Materials, zur Biografie Stötzers oder ihrer künstlerischen Praxis bereitgestellt, fehlten dagegen Erläuterungstexte zu den einzelnen Objekten. Deren Zuordnung und Bedeutung waren von den Besucher:innen auf der Grundlage der angelegten Beziehungskonstellationen zwischen den Objekten und der jeweils eigenen Erfahrungen selbst zu erschließen. An die Stelle der scheinbaren Objektivität und Überzeitlichkeit von Archivobjekten trat somit die Subjektivität und Zeitgebundenheit der mit dem Material konfrontierten Betrachter:innen – wobei die künstlerische Praxis aus den 1980er Jahren gleich in verschiedene zeitliche Bezüge gesetzt werden konnte: sowohl in die Zeit der Produktion (unterstützt durch die beigefügten Dokumente) als auch in die der gegenwärtigen Rezeption. Mit Blick auf die angestrebte Aktivierung schloss sich dezidiert die Frage nach der Gegenwart des Archivs an, die sich mit Peter Osborne als eine „diskursive Kategorie für Praktiken, die eine Signifikanz für das Heute haben“ [Osborne 2013: 2] beschreiben lässt.
Die Gegenwart des Archivs
Wurde die Frage nach der Gegenwart der vergangenen Praxis insbesondere im Programm sowie in den vielfältigen Vermittlungsformaten zum Ausstellungsprojekt gemeinsam mit einzelnen Akteur:innen und Gruppen diskutiert und bearbeitet, so ergab sich deren Betrachtung auch dadurch, dass alle drei Teile in eine reziproke Verbindung zu den jeweils im GfZK-Neubau parallel laufenden Wechselausstellungen gesetzt wurden. Das Projekt anarchive begleitete den ersten Teil und zeigte Arbeiten von George Adéagbo und Stephan Köhler, Rosa Barba, Andreas Grahl und Ricarda Roggan, die unterschiedliche archivarische Praktiken aus einer zeitgenössischen künstlerischen Perspektive heraus reflektierten. Der zweite Teil, in dem es um das Verhältnis von Überwachung durch die Staatssicherheit und dem Erproben alternativer Ausdrucksformen ging, war zeitgleich zu Clemens von Wedemeyers Einzelpräsentation Mehrheiten zu sehen, die sich wiederum mit vergangenen und zeitgenössischen Formen der Mobilisierung von Massen und der (Un)Möglichkeit subversiver Praktiken beschäftigte. Im dritten Teil wurden Formen der Zusammenarbeit herausgestellt, die für Stötzers Praxis grundlegend waren. Die Betrachtung der kooperativen und kollektiven Arbeitsweise, des Agierens in Netzwerken sowie der Bedeutung von Freundschaft wurde in einen unmittelbaren Bezug zu der von Natascha Sadr Haghighian für den Deutschen Pavillon der 58. Venedig Biennale produzierten Arbeit gesetzt, in der es um widerständige und solidarische Formen des Zusammen-Seins geht und die sie für die Präsentation in Leipzig unter dem Titel Im Rücken die alte Ordnung (he she they walked) adaptierte. Die jeweilige Anbindung an gegenwärtige gesellschaftliche wie auch künstlerische Diskurse hatte zugleich wiederum Auswirkungen auf die Bedingungen der Rezeption des Archiv Gabriele Stötzer und des darin gezeigten Materials.
In der Anlage, zugleich Präsentations- als auch Forschungs- und Vermittlungsraum zu sein, zielte das Archiv Gabriele Stötzer auf das Öffentlich-Zugänglich-Machen, sowohl im Sinne des Zeigens als auch im Sinne des Öffnens für eine gemeinsame Bearbeitung und Auseinandersetzung mit verschiedenen Akteuren. Parallel zum Ausstellungsprojekt wurde das Material archivarisch gesichtet, dokumentiert, sortiert und geordnet.[8] Der Wunsch ist, das Konvolut Gabriele Stötzers als ein Archiv nachhaltig zu bewahren, es jedoch für eine dynamische Aktivierung bereitzustellen – und zwar mit Blick auf bedeutende Diskurse der Gegenwart genauso wie auf die künstlerische Erfahrung, die davon ausgeht. Damit erhält die Funktion des Bewahrens eine veränderte Ausrichtung: Erhalt bedeutet dann weniger die Konservierung der Dinge, als vielmehr die sinnlich-diskursive Aktivierung einer vergangenen Praxis in der Gegenwart. Dies weiter zu denken, hieße einerseits mit Suely Rolnik zu fragen: Wie könnte dies aussehen, „archivierten Praktiken dazu zu verhelfen, auch in der Gegenwart sinnliche Erfahrungen zu aktivieren, die notwendig anders als die ursprünglich erlebten sind, jedoch den gleichen Gehalt an kritisch-poetischer Dichte aufweist.“? [Rolnik 2011: 19]
Die Aktivierung vergangener Praktiken darf andererseits keineswegs in eine abgeschlossene Betrachtung münden. Die Inszenierung eines ‚Archivs für eine künstlerische Erfahrung’, wie sie im Projekt Bewußtes Unvermögen angelegt war, kann dann ein Ausgangspunkt für eine reflexive Museumsarbeit sein, wenn entlang der Analyse der „Realitätsbedingungen für Aussagen“ eine weitere Differenzierung des Sagbaren erfolgt. Praktiken aus der Vergangenheit haben insofern eine „Signifikanz für das Heute“, wie sich ausgehend von diesen und mit Blick auf aktuelle Diskurse auch ihre Befragung in der Gegenwart anschließen kann. Die Auseinandersetzung mit dem Archiv Gabriele Stötzer zusammen mit verschiedenen Akteur:innen hat verdeutlicht, welche durchaus auch kontroversen Perspektiven sowohl der gezeigte Gegenstand als auch die Form des Zeigens eröffnen (etwa in Bezug auf Konzepte des Feminismus, der Darstellung des „Anderen“, der Formen von Zusammenarbeit oder auch einer zugleich erfolgten und verweigerten Musealisierung der künstlerisch-aktivistischen Praxis). Das angestrebte Ziel, Öffentlichkeiten eben nicht nur anzusprechen, sondern auch einzubeziehen (ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen sichtbar zu machen, darauf zu reagieren und von ihnen zu lernen) müsste in der Konsequenz einen Wandel in der Arbeitsweise von Museen sowie strukturelle Veränderungen nach sich ziehen. Eine Aktivierung im Sinne einer tatsächlichen Teilhabe diverser Akteur:innen und dem Öffnen für eine gemeinsame Bearbeitung erfolgt eben nur dann, wenn Autoritäten herausgefordert werden – auch hierfür ließen sich Ansätze in der Praxis Gabriele Stötzers finden.