Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste. Antworten auf häufig gestellte Fragen

 

Inke Arns – Kata Krasznahorkai – Sylvia Sasse (Dortmund und Zürich)

 

 

„Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste“ – so heißt eine Ausstellung, die vom 26. Oktober 2019 bis zum 19. April 2020 (zuletzt in einer Online-Version) im Hartware MedienKunstVerein in Dortmund zu sehen war.

Nach 1990 wurden viele Geheimdienstarchive der ehemaligen Ostblock-Länder für die wissenschaftliche Forschung geöffnet. Dadurch war es erstmals möglich, die Dokumentation von Kunst durch Spitzel und die Einflussnahme der Geheimdienste auf künstlerische Arbeiten zu untersuchen. Die Ausstellung wollte vor allem die Interaktion von Geheimdienstaktionen und Performancekunst zeigen, jener Kunstrichtung, vor der sich die sozialistischen Staaten Osteuropas am meisten fürchteten.

Die von Inke Arns, Kata Krasznahorkai und Sylvia Sasse kuratierte Ausstellung versammelte z. T. noch nie gezeigte Beispiele künstlerischer Subversion und geheimdienstlicher Unterwanderung. Neuere Arbeiten zeigen: Die Frage nach dem zunehmenden Einsatz geheimdienstlicher Methoden in Politik und Alltag ist hochaktuell.

Eine Ausstellung des HMKV (Hartware MedienKunstVerein) in Kooperation mit dem Slavischen Seminar der Universität Zürich. Das Projekt basiert auf den Ergebnissen des mehrjährigen Forschungsprojekts des Slavischen Seminars der Universität Zürich „Performance Art in Eastern Europe 1950–1990. History and Theory”, das vom European Research Council (ERC) finanziert wurde.

Künstler*innen:

Alexandru Antik (RO), Tina Bara & Alba D'Urbano (DE), Kurt Buchwald (DE), György Galántai / Artpool (HU), Ion Grigorescu (RO), Sanja Iveković (HR), Voluspa Jarpa (CL), Jens Klein (DE), Daniel Knorr (RO/DE), Csilla Könczei (RO), Korpys/Löffler (DE), Jiří Kovanda (CZ), Károly Elekes / Árpád Nagy / Gruppe MAMÜ (RO), Simon Menner (DE), Arwed Messmer (DE), Clara Mosch (DE), Orange Alternative (PL), Peng! Collective (DE), Józef Robakowski (PL), Cornelia Schleime (DE), Nedko Solakov (BG), Gabriele Stötzer (DE), Tamás St.Turba (NETRAF-agent) / Gábor Altorjay (HU)

Akten:

Politische Polizei, Schweiz; Ministerium für Staatssicherheit (MfS), DDR; Służba Bezpieczeństwa (SB), Volksrepublik Polen; Štátní bezpečnost (ŠB), ČSSR; Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti (KGB), UdSSR; Belügyminisztérium (BM), Ungarische Volksrepublik; Securitate, Sozialistische Republik Rumänien; Dirección de Inteligencia Nacional (DINA), Chile; Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst (AIVD), Niederlande; Bundesnachrichtendienst (BND), Deutschland.

(Diese Informationen stammen von der Website des HMKV Dortmund.)

Wir veröffentlichen hier im Nachdruck einen Abschnitt aus dem umfangreichen und sehr informativen Magazin, das die Kuratorinnen zur Ausstellung herausgegeben haben und das online frei zugänglich ist.

Wir möchten damit auf dieses Projekt aufmerksam machen, das den Forschungen über Archive und Performancekunst ein wichtiges neues Feld eröffnet. Seine konzeptionelle Diskursivierung und analytische Schärfung – wie sie in den folgenden Antworten auf Fragen zum Gegenstand aufscheinen – machen deutlich, wie virulent der Zusammenhang zwischen staatlichen Interventionen, Desinformation und ihrem Vokabular und Archivbildung ist, aber auch wie wichtig die (künstlerische) Appropriation dieser Geschichte(n) ist. Gespannt sind wir auf weitere Ergebnisse des Forschungsprojektes der Zürcher Kolleginnen.

Die Redaktion.

 

 

Was verbindet Künstler*innen und Agent*innen? Man würde ja erst einmal annehmen, dass es sich um zwei sehr konträre, gar gegensätzliche Positionen handelt. Im Titel der Ausstellung wird jedoch eine gewisse Nähe suggeriert.
Sylvia Sasse:
Es gibt einerseits Künstler*innen, die waren auch Agent*innen bzw. Informant*innen, andererseits wurden (und werden) Künstler*innen von Agent*innen, Informant*innen bzw. Mitarbeiter*innen der Geheimpolizei, der Staatssicherheit oder anderer Dienste beobachtet, manipuliert und in ihrem persönlichen und künstlerischen Umfeld isoliert und zerstört. Es gibt aber auch Fälle, in denen Geheimdienste bestimmte Künstler*innen und Kunstrichtungen fördern oder künstlerische Arbeiten in Auftrag geben. Letzteres kennen wir z. B. von den USA.
Inke Arns:
Die amerikanische Central Intelligence Agency (CIA) hat in den 1950er Jahren ganz gezielt den Abstrakten Expressionismus ge­fördert und diese Kunstrichtung als Ausdruck der politischen und künstlerischen Freiheit in die Länder des US-amerikanischen Einflussbereichs exportiert. Die Ausstellung Parapolitik im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin hat das ja zuletzt 2017 ausführlich untersucht.[1] Uns interessiert in der aktuellen Aus­stellung aber etwas anderes. Uns interessiert nicht Propaganda oder ‚Außenpolitik‘, wie im Falle der USA, sondern quasi die ‚Innenpolitik‘ – also wie die osteuropäischen Staaten (und andere) mit ihren ‚inneren Feinden‘ umgegangen sind. Aktions- und Performancekunst wurde in manchen Ländern als sehr gefährlich eingeschätzt. Uns interessieren die Strategien der Agent*innen, mit denen sie sich Zutritt zu den jeweiligen künstlerischen Szenen verschafft haben.
Kata Krasznahorkai:
Ein Genre, das beide – Agent*innen und Künstler*innen – verbindet, ist die Performance. Auf beiden Seiten wurde inszeniert und performt: Die Stasi griff in die künstlerische Produktion ein und inszenierte die Künstler*innen als große gesellschaftliche Gefahr, als ‚feindlich­negative Elemente‘. Die Künstler*innen wiederum nahmen die Perspektive der Stasi in ihre Arbeiten auf – auch, wenn sie nicht direkt überwacht wurden. Sie inszenierten z. B. ‚für die Kamera‘ der Stasi. Aber wir haben in der Ausstellung auch Fälle, bei denen Künstler*innen und Agent*innen  nur noch auf einer indirekten Ebene ‚zusammenarbeiten‘: im Falle der Generation  von Künstler*innen, die nicht mehr unmittelbar betroffen sind, aber heute mit dem Material arbeiten, das Agent*innen über Künstler*innen erstellt haben. Dieses Material wird dann quasi als ‚Ready­made‘ verwendet.
Es geht in der Ausstellung um „Fälle“ aus der Sowjetunion, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn und der DDR – warum konzentriert sich die Ausstellung vor allem auf ehemals sozialistische Länder Osteuropas, also quasi auf Diktaturen? Gab und gibt es solche Fälle nicht auch in westlichen Demokratien?
Kata Krasznahorkai:
Der Staat versus subversive Kunst: Das gab und gibt es überall. Nur wissen wir im Westen nicht, wie das genau funktioniert und funktioniert hat.
Inke Arns:
Wir verstehen das relativ gut in den osteuropäischen Staaten, weil deren Archive der ehemaligen Staatssicherheiten heute größtenteils für die Forschung offenstehen. Diese Staaten existieren seit 1990 nicht mehr. Es gibt also niemanden, der den Zugang zu diesen Archiven heute noch ‚bewachen‘ würde. Zuletzt ist das 1989/90 passiert, als Stasimitarbeiter*innen in großem Maße Akten vernichtet haben – um Beweismaterial gegen sich selbst verschwinden zu lassen. Daher haben damals viele Leute – darunter auch viele Künstler*innen – zuallererst die Stasizentralen besetzt, um dafür zu sorgen, dass die Aktenvernichtung aufhört. Diesen Besetzer*innen ist zu verdanken, dass diese Akten heute noch existieren und zugänglich sind.
Die Archive in der DDR und in Osteuropa sind quasi historische Objekte, denn die Staaten, die sie angelegt haben, existieren nicht mehr. Im Gegensatz dazu wissen wir nur sehr wenig über das Verhältnis von Staat versus subversive Kunst im Westen. Warum? Nun, weil die westeuropäischen Staaten nach wie vor existieren und deren Geheimdienstarchive nicht zugänglich sind. Die – verschlossenen – westlichen Archive bilden quasi eine Kontinuität von der Vergangenheit bis in die Gegenwart und sind auch gerade deswegen nicht öffentlich. Sie sind in dieser Ausstellung quasi der ‚elephant in the room‘.
Kata Krasznahorkai:
In den von der Sowjetunion dominierten und kontrollierten Staaten war 1989 nicht nur mit dem System Schluss – sondern auch mit der Stasi. Die Kontinuität ist weg. Nach der Gründung der Stasi­Aufarbeitungsbehörden wurden ehemalige Geheimdienstarchive zu ‚Archiven im Archiv‘. Eine einmalige Forschungssituation! Man kann tatsächlich die Geschichte der jüngsten Vergangenheit erforschen, und zwar anhand des Geheimsten, was ein Staat vor seinen Bürger*innen verbergen wollte. Das gibt es im Falle des BND, der CIA oder des FBI nicht. Dieses Wissen, das wir aus diesen ‚Gegenarchiven‘ gewinnen, hilft uns heute, Fake News und Desinformation besser zu verstehen. Es ist auch dieses Wissen über die Funktionsweise von Repression in Diktaturen, das uns als Bürger*innen heute bei den ersten Anzeichen in diese Richtung sofort auf den Plan rufen sollte.
Sylvia Sasse:
Unser Blick auf die ehemaligen Geheimdienstarchive in Osteuropa hat mit der Forschungssituation zu tun. Nur dort wurden nach der Wende die vom Geheimdienst bzw. der Geheimpolizei über Jahre produzierten und gesammelten Dokumente der Öffentlichkeit und der Forschung in unterschiedlichem Maße zugänglich gemacht, im Grunde handelt es sich um ein komplettes Gegenarchiv zum öffentlichen, kulturellen Archiv. Das ist eine einmalige Situation, denn wir haben sonst weltweit kaum ehemalige Geheimdienstarchive.
Einerseits zeigen diese Dokumente, wie die Geheimpolizei in Parteidiktaturen gearbeitet hat. Man kann ihre absurde Angst vor bestimmten künstlerischen Strömungen und Genres, wie der Performance Art, die sie für westlich und unvorhersehbar hielten, förmlich spüren. Andererseits zeigt das Mate­rial auch Geheimdienstpraktiken an sich. Einige dieser Praktiken (Diskreditierung, Isolation, Verbreitung von Gerüchten, Verkehrungen ins Gegenteil, Herstellung von Kompromat) etc. sind international. Man trifft sie nur heute nicht mehr im Realsozialismus an, sondern gerade in nationalistischen, rechtspopulistischen Kreisen sowie außerhalb des Geheimdienstes – in den Medien, in der Politik. Und selbstverständlich beobachten auch Demokratien ihre eigenen Bürger*innen, dies ist hinlänglich bekannt. Inwieweit sie aber Künstler*innen beobachtet und in künstlerische Prozesse eingegriffen haben, darüber wissen wir kaum etwas.
Lediglich in der Schweiz, in der es 1990 ebenfalls zu einer Öffnung der ‚Fichen‘, der Akten der Politischen Polizei, kam, die zwischen 1900 und 1990 über die Bürger*innen angelegt worden sind, kann man sehen, wer und warum beobachtet worden ist. Es waren vor allem Linke, Gewerkschaftler*innen und Ausländer*innen aus Osteuropa, viele linke Aktivist*innen landeten sogar in der so genannten Extremistenkartei, darunter auch Fotograf*innen und solche, die künstlerische und politische Aktionen organisiert haben. Das heißt in der Ausstellung steht nicht die Region und die poli­tische Situation im Vordergrund, sondern die Geheimdienstpraxis, ihre Lesbarkeit und die Frage, warum uns dieses Wissen dabei hilft, auch die heutige Situation zu verstehen und mit dieser um­zugehen, z.B. durch die Decodierung von Desinformation.

Abb1

Abb. 1: „Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste“, Bildmitte: Lesesaal mit Akten zu sechs Fällen; im Hintergrund rechts: Gabriele Stötzer, „Trans Serie“ (1984); im Hintergrund links: Cornelia Schleime, „Bis auf weitere gute Zusammenarbeit, Nr. 7284/85“ (1993/2019), HMKV im Dortmunder U, 26.10.2019 – 19.4.2020. Foto: Chris Franken

 

Wie müssen wir uns die Arbeit in Geheimdienstarchiven vorstellen? Können Sie beschreiben, wie Sie recherchiert haben? Wie läuft so eine Recherche konkret ab? Nach was kann oder muss man suchen?
Kata Krasznahorkai:
Das Archiv selbst lässt sich nicht durchforsten, man kann also nicht an Aktenregalen entlanglaufen und je nach Schlagwort oder Namen etwas aussuchen, wie in einer Bibliothek oder in einem Lesesaal. Um in den Staatssicherheitsarchiven etwas zu finden, muss man einen Forschungsantrag stellen und Namen bzw. Schlagworte angeben. Dann bekommt man eine*n Referent*in bzw. Archivar*in zur Seite, die*der sucht und manchmal sogar etwas findet, nach dem man gar nicht suchen konnte. Denn: Wie findet man Material unter mehreren Kilometern Akten? Da ist man komplett auf das Fachwissen und die Kenntnisse der einem persönlich zugeordneten Referent*innen angewiesen – und sie sind gleich mehrfach gefordert: Sie müssen sich nicht nur in der Systematik des Aufarbeitungssystems und der Aktensystematik der Staatssicherheit auskennen, sondern sie müssen in unserem Kontext auch mit Kunst und Künstler*innen der Zeit vertraut sein.
Wenn etwas gefunden wird, bekommt man als Wissenschaftler*in die Möglichkeit, die Akten, die das Forschungsthema betreffen, ungeschwärzt einzusehen. Wenn es dann zum tatsächlichen Aktenlesen kommt, sind ebenfalls die Referent*innen gefragt, um Licht ins Dunkel der teilweise undurchschaubaren Strukturen und Systematiken der Geheimdienstsprache und der Akten-Systematik zu bringen. Denn wenn man dem Archiv nicht die richtigen Fragen stellt, bleibt es stumm. Aber auch die Antworten muss man verstehen können. Das Aktenlesen selbst ist eine tief deprimierende Angelegenheit, die einen krank machen kann. Davor hatte uns die Künstlerin Gabriele Stötzer, als sie uns ihre komplette Akte zeigte, gewarnt. Man liest Tausende von Seiten über Verrat, Denunziation, Erpressung und Hinterhältigkeit, aber auch völlig Banales, so dass man sich fragt, warum der ganze Aufwand veranstaltet worden ist.
Inke Arns:
Bin ich froh, dass mir das erspart geblieben ist. Und die Besucher*innen der Ausstellung und die Leser*innen des Magazins und des Buches freuen sich bestimmt auch darüber.
Sind eigentlich die Staatssicherheits-Akten in allen ehemals sozialistischen Ländern gleich gutzugänglich oder gibt es da große Unterschiede?
Sylvia Sasse:
Ja, da gibt es große Unterschiede. In Russland war es ganz kurze Zeit nur wenigen Personen gestattet, sich Dossiers von Schriftsteller*innen der 1930er Jahre anzuschauen, der russische PEN hatte sich im Zuge der Perestroika dafür eingesetzt. Da fand man dann z. B. Osip Mandel’stams Gedicht gegen Stalin, das Mandel’stam während der Untersuchungshaft niederschreiben musste. Heute kann man, wenn man etwas über den KGB erfahren will, auf die Ukraine und das Baltikum ausweichen, aber dort beginnt die Forschung erst, während die historische, nicht aber die kunsthistorische in den anderen ehemaligen sozialistischen Ländern weit fortgeschritten ist.
Am detailliertesten aufgearbeitet ist das Material in der BStU, der Behörde für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit. In der ehemaligen DDR wurden am wenigsten, nur ca. 40% des vorhandenen Aktenmaterials vernichtet, was wir u.a. auch wiederum Aktivist*innen, darunter auch Künstler*innen, zu verdanken haben, die die Stasizentralen im Herbst 1989 besetzten. In anderen Ländern ist die Vernichtungsquote viel höher, besonders dramatisch jedoch ist die Aktenvernichtung in Russland. Wie Arsenij Roginskij und Nikita Ochotin 1993 auf einem Symposium zum Thema Staatssicherheitsdienste und Literatur zusammenfassten, wurde im Herbst 1990 eine totale Zerstörung aller IM-Akten (Informanten- und Mitarbeiterakten) befohlen, 1991 wurden auch viele der Akten von Opfern, darunter die von Schriftstellern, zerstört.
Inke Arns:
In Russland scheint die Kontinuität zwischen der Sowjetunion und dem heutigen russischen Staat ungebrochen. Das sieht man ja auch in der Art und Weise, wie Künstler*innen bis heute vom Staat und von der russisch-orthodoxen Kirche drangsaliert werden. Und es zeigt sich darin, dass so viele Gerichtsverfahren – ich würde ja von Schauprozessen reden – gegen Künstler*innen (z. B. Pussy Riot) und Theaterregisseure (z. B. Kirill Serebrennikov) geführt werden, die oft mit harten Strafen enden.
Sylvia Sasse:
Ja, es wäre natürlich sehr interessant, russisches Material zur Verfügung zu haben, wir haben nur ein paar Notizen eines ehemaligen KGB-Mitarbeiters, der den Moskauer Underground Ende der 1970er Jahre beobachtet hat, er machte sich private Notizen, eine so genannte „Wer ist Wer-Aufklärung“, die er dann in den 2000er Jahren der russischen Kunstzeitschrift Iskusstvo übergab. Auch ist die Intensität der Beobachtung in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Während man in der DDR und in Ungarn sehr konsequent und einfallsreich ‚zersetzte‘, ist dies in anderen Ländern nicht der Fall. In Polen, wo Performance Art eine ‚normale‘ Kunstgattung war, ging es nur darum zu sehen, ob es sich um politische Aktionen handelt. In Tschechien haben wir nur vereinzelt Akten gefunden, und die, die wir gefunden haben, sagen mehr über die ‚Performance‘ der Staatssicherheit als über die Künstler*innen aus. Wir erfahren z.B. genau, was die Agent*innen zur Tarnung trugen.
In einigen Archiven ist der Bestand klein, in Slowenien z. B. hat man uns die 16 gefundenen Seiten über Künstler*innen auf einem USB-Stick zugeschickt – es handelt sich um Akten über die NSK (Neue Slowenische Kunst). In Rumänien haben wir uns auf die Expertise von Mădălina Brașoveanu verlassen, die dort bereits seit vielen Jahren die kunsthistorische Forschung in den Archiven betreibt. Über die Situation in Bulgarien haben wir uns mit Hristo Hristov unterhalten, dessen Forschung politisch nicht willkommen ist, er wurde mehrfach bedroht.
Präsentieren Sie in der Ausstellung neue Fundstücke bzw. Materialien?
Sylvia Sasse:
Wir zeigen in der Ausstellung sowohl Dokumente, die überhaupt noch nie bzw. noch nie in einem solchen transnationalen Zu­sammenhang gezeigt worden sind. Dazu gehören einerseits Akten, z. B. die Stasidokumentation der Losungsaktion Das Schweigen von Clara Mosch wird unterbewertet, die die Stasi erst 1984, vier Jahre, nachdem die Losung auf die Straße aufgemalt worden war, gefunden und forensisch dokumentiert hat.
Andererseits zeigen wir auch Performances von Künstler*innen, die überwacht bzw. gestört worden sind, und die so noch nie gezeigt worden sind. Dazu gehört u. a. die Aktion von Alexandru Antik in Rumänien im Jahr 1986, The Dream Has Not Died. Die Aktion wurde von der Securitate brutal unterbrochen, ohne dass die Securitate ihre Intervention dokumentiert hätte. Für mich war besonders erstaunlich, wie performativ und kreativ die Arbeit der Geheimpolizei war bzw. ist, denn künstlerische Arbeiten oder Aktionen wurden nicht einfach nur verboten, manchmal wurden sie durch aufwändige staatliche Gegenaktionen gestört. Diese performative Seite des Geheimdienstes bleibt oft unterbelichtet, weil man sich die Geheimpolizei immer als technischen Überwachungsapparat vorstellt. Wir haben es aber vor allem mit angewandtem Theater zu tun, und dieses, mal raffinierte, mal grauenvolle Theater zeigen wir in der Ausstellung.
Kata Krasznahorkai:
Die Aktion Das Schweigen von Clara Mosch wird unterbewertet wäre ohne diese Akteneinsicht nicht in der Kunstgeschichte aufgetaucht. Wir zeigen zudem zwei Fotos von einem Agenten, der gleichzeitig Fotograf war, die er auf Siebdruck aufwendig drucken ließ, und die dank der Galerie Barthel in Berlin jetzt zum ersten Mal ausgestellt werden.
Gibt es auch neue theoretische Erkenntnisse? Ergeben sich daraus vielleicht neue Narrative für die Kunstgeschichte?
Kata Krasznahorkai:
Performativität in der Interaktion zwischen Performancekünstler*innen und Staatssicherheit ist ein komplett unerforschtes The­ma. Auch für uns war es ein Sprung ins Dunkel der Akten. Was wir ans Licht befördert haben, wird nicht nur für die Geschichte der Performancekunst viele neue Erkenntnisse liefern, sondern auch für die Geschichte von Geheimdiensten. Es gibt aber auch kunsthistorische Narrative, die von der Staatssicherheit zumin­dest mitbefördert wurden, und die teilweise heute immer noch existieren – so zum Beispiel, wenn es um die Politisierung von Kunst geht, und Künstler*innen (aus der Sicht des Staates) entweder in ‚Feinde‘ oder ‚Freunde‘ – also subversive Künstler*innen oder Staatskünstler*innen – aufgeteilt werden. Die Schattierungen werden immer wichtiger. In Zeiten von Fake News und populistischen antidemokratischen Strömungen ist es sehr wichtig zu zeigen, dass es nicht nur Schwarz-Weiß gibt. Auch in Diktaturen nicht.
Sylvia Sasse:
Man kann beim Lesen der Akten sehen, wie subversiv Geheim­dienste bzw. die Geheimpolizei gegen den künstlerischen Underground gearbeitet haben. Sie haben Verfahren verwendet, die man gleichzeitig auch in der Kunstszene findet, z.B. Verfahren subversiver Affirmation (Nachahmung von subversiven Gedichten oder ganzen Oppositionszeitungen). Subversion als Verfahren, so die Erkenntnis, gehört niemandem, sie kann von der politischen oder künstlerischen Opposition ausgehen und den Staat unterhöhlen, sie kann aber auch von der Geheimpolizei bzw. vom Geheimdienst kommen und die Kunstszene unterwandern. Dieses Wechselspiel der Subversion kann man in der Ausstellung sehr genau sehen, auch die zerstörerische, ‚zersetzende‘ Kreativität geheimpolizeilicher Subversion. Eine zweite Erkenntnis ist das, was wir „performative Zensur“ nennen. Das bedeutet, dass künstlerische Aktionen nicht nur verboten, sondern durch Gegenaktionen verhindert oder kriminalisiert worden sind. Das kann man übrigens heute noch beobachten, etwa wenn der schon erwähnte Regis­seur Kirill Serebrennikov wegen einer Scheinanklage vor Gericht kommt oder wenn Filmvorführungen durch angebliche Bomben­drohungen verhindert werden.
Sind die Stasi-Akten belastbare Grundlagen für eine Neuschreibung der Kunstgeschichte?
Kata Krasznahorkai:
Uns ist ganz wichtig zu betonen: die Stasi sollte keine Kunst­geschichte schreiben. Wir dürfen niemals, egal was es ist, den scheinbaren ‚Fakten‘ in den Akten glauben. Denn, wenn wir zulassen, dass das von der Stasi inszenierte Spiel weitergeführt wird, dass also Lügen für bare Münze genommen werden, laufen wir Gefahr, einer eigentlich beendeten Geheimdienstagenda neuen Aufschwung zu geben – oder eben deren Narrative fortzuschreiben.
Dagegen ist aber ganz schwer anzugehen, was sich z. B. auch daran zeigt, dass osteuropäische Kunst immer noch fast ausschließlich anhand ihres politischen Inhalts beurteilt wird – und nicht hinsichtlich kunsthistorischer Prämissen und Kontexte. Wir schlagen mit dieser Forschung einen neuen Weg ein, um zu zeigen, dass es dreißig Jahre nach dem Systemwechsel endlich an der Zeit ist, gängige Denkmuster über die Kunst dieser Zeit hinter sich zu lassen.
Sylvia Sasse:
Gleichzeitig wird aber durch die Lektüre der Akten auch klar, dass die Stasi massiv in die Kunstgeschichtsschreibung einzugreifen versuchte. Kunst verhindern wollte, Künstler*innen kriminalisierte und pathologisierte. Sie schrieb zwar in den Akten keine Kunstgeschichte, man kann, wie Kata Krasznahorkai schon sagte, den Akten und auch den Beschreibungen von Performances darin nicht trauen. Die Staatssicherheit machte aber mit ihren Eingriffen in die Kunstszene durchaus Kunstgeschichte. Deshalb ist es uns auch wichtig, Künstler*innen zu zeigen, die aus der Kunstgeschichte herausgeschrieben werden sollten, wie etwa Gabi Stötzer.

 

Abb2

Abb. 2: „Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste“, im Vordergrund: Voluspa Jarpa, „Minimal Secret Condor Operation“ (2019), HMKV im Dortmunder U, 26.10.2019 – 19.4.2020.
Foto: Chris Franken

 

Warum sollten wir uns überhaupt mit diesen Akten beschäftigen, 30 Jahre nach dem Mauerfall und 40, teils 50 Jahre, nachdem sie verfasst wurden? Warum können wir das nicht einfach in den Archiven ruhen lassen?
Sylvia Sasse:
Es handelt sich um Beispiele von Desinformation, um Desinformation gegen Kunst – darunter im heutigen Jargon Fake-News, Fake-Gedichte, Fake-Aktionen gegen Kunst. Beschäftigt man sich mit dem Material, erkennt man, dass heutzutage zwar die medialen Verbreitungsmöglichkeiten andere sind, die Verfahren der Diskreditierung von politischen Gegner*innen aber nach ähnlichen Mustern funktionieren.
Wir müssen uns die Frage stellen, wie gegenwärtig geheimpolizeiliche und geheimdienstliche Methoden der Diskreditierung und Kriminalisierung in der aktuellen politischen Praxis und den Medien sind – weltweit. Der russische Philosoph Michail Ryklin nennt die russische Regierungsform heute z. B. eine ‚operative Macht‘, weil sie Geheimdienstmethoden für die politische Praxis verwendet, und nicht etwa, um die Verfassung zu schützen, sondern um sie zu umgehen. Beunruhigend ist auch, dass im Jahr 2018 in Deutschland ein Verfahren gegen eine Künstlergruppe, das ZPS (Zentrum für Politische Schönheit) wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet worden ist, das dazu berechtigt, den Verfassungsschutz mit einer Beobachtung zu beauftragen.
Kata Krasznahorkai:
Wenn wir die Akten ‚in Ruhe lassen‘, passiert das, was z. B. in Ungarn heute zu beobachten ist. Die fehlende Aufarbeitung des sozialistischen Systems ist einer der Gründe für die gegenwärtige Entdemokratisierung. Die Leerstellen, die Intransparenz, die Erpressbarkeit und Manipulation der Erinnerungskultur wird durch Re-Nationalisierung und ‚Fake-History‘ gefüllt. Um lästige Kunst, Kunst-Orte, NGOs, Theater o. ä. loszuwerden, entzieht man die Finanzierung, löst Mietverträge, diskreditiert öffentlich Institutsdirektor*innen, stellt ‚Schwarze Listen‘ in einer medial gleichgeschalteten Medienlandschaft auf. Kommt uns das bekannt vor? Der öffentliche Zugang und die Forschung in den Archiven ver­hindert auch, dass Dokumente politisch instrumentalisiert werden, um unliebsame Gegner*innen auszuschalten oder zu erpressen. Unsere Aufgabe ist es zu zeigen, wie enorm wichtig es ist, diese Archive immer wieder neu zu befragen und Transparenz herzu­stellen – nicht um der Vergangenheit willen, sondern es geht hier um die Zukunft, nämlich unsere Zukunft.
Wie setzten sich Künstler*innen in Osteuropa mit der potentiellen Überwachungssituation in ihren Aktionen und Performances auseinander?
Sylvia Sasse:
Die Künstler*innen wussten von den so genannten ‚Kunsthistorikern in Zivil‘, wie russische Künstler*innen die KGB-Mitarbeiter, die auf Ausstellungen herumschlichen oder an Aktionen als Informanten teilnahmen, nannten. Einige Künstler*innen waren deshalb vorsichtig, andere haben mit dem potentiellen Blick der Stasi gearbeitet oder die Überwachung schon in ihre Performances einbezogen.
Die Orange Alternative in Polen, deren Happenings von der polnischen Staatssicherheit überwacht und dokumentiert worden sind, hat sogar 1988 einen ‚Tag des Geheimdienstlers‘ veranstaltet und zwar am Tag des staatlichen Feiertags für die Mitarbeiter der Staatssicherheit. Sie haben die Bevölkerung mit einem Flugblatt dazu angeleitet, sich selbst wie Spitzel zu kleiden und zu verhalten, so dass die potentiell anwesenden Spitzel von der Bevölkerung beobachtet werden. Eine solche Umkehrung der Perspektive hatte auch Ion Grigorescu im Sinn, als er bei einer Wahlveranstaltung mit versteckter Handkamera Aufnahmen machte. Er nahm die anwesende Securitate auf, die die ‚Wahl‘ überwachte. Und die Fotos, die er machte, gleichen jenen, die man heute in den Geheimdienstarchiven tatsächlich findet.
Was passierte, als Künstler*innen nach 1989 begannen, ihre eigenen Akten zu lesen?
Inke Arns:
Cornelia Schleime, die 1984 aus der DDR ausgereist war und zuvor und danach intensiv bespitzelt worden ist, las 1993 ihre Akten, die typische Beschuldigungsnarrative für Künstler*innen in der DDR enthielt: So habe Schleime eine „asozialen Lebensweise“ und lebe in einer „notdürftig“ eingerichteten Wohnung, sie selbst trage „Westkleidung“ und lehne eine „Anpassung an die sozialistische Gesellschaft völlig ab“.
Die Künstlerin verharrte daraufhin nicht in einer Opferrolle, sondern antwortete mit frivol dekadenten Selbstportraits, die sie auf vierzehn verschiedene Aktenblätter klebte: Mal sieht man sie West-Bravo-lesend auf dem Bett fläzen, mal nackt in einem Mohnfeld tanzen oder vor einer amerikanischen Limousine posieren. Sie inszeniert sich damit genau so, wie die Stasi sie in den Akten beschrieben hat: als ein vollkommen überzogenes Propagandabild, über das man als Beobachter*in lachen muss. Cornelia Schleime ist ein Beispiel für eine Künstlerin, die souverän mit ihren eigenen Akten umgeht, diese nicht versteckt, sondern veröffentlicht, und die in ihnen enthaltenen Stasi-Phantasien quasi öffentlich ausagiert.
Sylvia Sasse:
Unmittelbar nach der Öffnung der Archive haben viele Künstler*innen ihre Akten angefordert und bei der Lektüre erfahren, wie sie von der Staatssicherheit überwacht und ‚zersetzt‘ worden sind. Viele Schriftsteller*innen haben beschrieben, wie man plötzlich feststellt, dass jemand, ohne dass man das wusste, das eigene Leben manipuliert hat.
Sie fühlten sich nicht mehr wie Autor*innen des eigenen Lebens, sondern wie Figuren im Roman eines Anderen, nicht Subjekt, sondern Objekt von Beobachtung und Beschreibung. Péter Esterházy hat geschrieben, dass die Realität der Akten phantastischer war als seine Einbildungskraft. Klaus Schlesinger kam es vor, als sei die „Struktur dieses Romans der europäischen Moderne entlehnt, in der die Figuren aus Blicken entstehen, die andere Figuren auf sie werfen“. Viele, u. a. Jürgen Fuchs, haben versucht, ihre eigene Aktenlektüre zu beschreiben und zu zeigen, wie schwierig es ist, nach dieser Lektüre über sich selbst nicht weiter im Jargon der Stasi nachzudenken und zu schreiben. Während Fuchs versuchte, den Jargon beim Schreiben wieder loszuwerden, hat Gabriele Stötzer damit begonnen, ihre Stasiakten zu dadaisieren, d. h. ihren schon vorhandenen dadaistischen, unsinnigen Kern freizulegen. Der Umgang mit den Akten hat, so könnte man es zusammenfassen, ein eigenes Genre hervorgebracht, und zwar in allen Künsten.
Sind die Archive auch für Künstler*innen und nicht nur für Forscher*innen interessant?
Inke Arns:
Auf jeden Fall. Gerade in den letzten Jahren haben viele Künstler*innen das Material der Archive, insbesondere Fotografien, Asservate aber auch, wie Daniel Knorr, die von der Stasi bei der Vernichtung der Akten entstandenen Aktenklumpen für sich als künstlerische Objekte entdeckt. Zu welchen Fragen von Autor*innenschaft diese Appropriation führen kann, zeigen Tina Bara und Alba D’Urbano in ihrer Arbeit. 2007 entdeckte Alba D’Urbano in der Ausstellung der spanischen Künstlerin Dora Garcia in der Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig ein 25 Jahre altes Foto ihrer Kollegin Tina Bara – wie D’Urbano Professorin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Das (anonyme) schwarz-weiß Foto zeigt Tina Bara nackt mit einem schwarzen Balken über den Augen, zusammen mit der Textzeile „BStU-Kopie MfS HA XX/Fo/689 Bild 9“. Das Foto ist Teil eines privaten s/w-Foto-Konvoluts aus dem Jahr 1983, das die Stasi im Rahmen des Operativen Vorgangs ‚Wespen‘ beschlagnahmt hatte. Dora Garcia verwendete dieses Material als ‚Ready made‘, ohne sich jedoch für die Herkunft der Bilder zu interessieren und die Einwilligung der abgebildeten Personen einzuholen. Dieser als gewaltsam erfahrenen Enteignung begegnen die Künstlerinnen, indem sie sich das Bildmaterial – einschließlich seiner Geschichte – im Rahmen ihres mehrteiligen Projektes Covergirl: Wespen-Akte wieder aneignen.
Die AfD – deren Anführer*innen in den neuen Bundesländern ironischerweise alles Westdeutsche sind – vergleicht sich selbst gerne mit der DDR-Opposition, spricht von „Systemparteien“ und wirft dem Verfassungsschutz Stasi-methoden vor – weil er die Partei als Prüffall bezeichnet hat. Mitglieder der Identitären Bewegung (IB) laufen bei der versuchten Stürmung des Justizministeriums in Berlin im Mai 2017 mit DDR-Fahnen herum – und mit Transparenten, auf denen steht „... alles schon vergessen?“ Das sind abenteuerliche Verdrehungen.
Sylvia Sasse:
Rechtspopulist*innen versuchen seit Jahren, Begriffe für sich in Anspruch zu nehmen, die aus den Oppositionsbewegungen und Bürgerrechtsbewegungen des ehemaligen Ostblocks stammen. Sie bezeichnen sich selbst als „Andersdenkende“ oder gar als die neuen Dissident*innen. Vertreter*innen der AfD bezeichnen z.B. die Kritik an ihrer Partei als „Hexenjagd auf Andersdenkende“. Im extremsten Fall bezeichnen sie sogar Holocaust­Leugner*innen als „Dissidenten“, wie man in den Schriften des AfD-Politikers Wolfgang Gedeon lesen kann. Die russischen Auslandspropagandasender RT und Sputnik benutzen dieses Vokabular ebenfalls. Dadurch können die potentiellen Wähler*innen rechtspopulistischer Parteien mit Vokabeln versorgt werden, mit denen sie sich wohl eher identifizieren können als mit der Selbstbezeichnung ‚Rassist‘ oder ‚Faschist‘ ... Aber nicht nur das: Was durch diese permanente Verschiebung und Verdrehung letztlich passiert, ist ein Akt der Auslöschung und Usurpation.
Die Umbenennung und Verdrehung zielt darauf ab, die Erinnerungen daran, was man historisch über Dissidenz, Widerstand, Andersdenkende wissen kann und sollte, zu verlachen und auszulöschen. Im Gegenzug usurpiert man die positiven Vorstellungen, die mit Widerstand und Opposition verbunden sind.
Konkret versucht etwa die AfD den Nimbus der Oppositionsbewegung der ehemaligen DDR für sich zu reklamieren, indem sie zum Beispiel den Slogan „Wir sind das Volk“ annektiert und für ihre Zwecke missbraucht. Völlig zu Recht, aber in den Medien kaum hörbar, hat die DDR-Opposition sich darüber empört, dass nun versucht wird, „ein freiheitliches Motto für völkisch-rassistische Zwecke umzudefinieren.“[2]
Ähnliches lässt sich auch in Polen und Ungarn beobachten. Die neue Rechte, die für den rasanten Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verantwortlich ist, eignet sich die Erinnerung an den Widerstand gegen die Diktatur an und nutzt diese für die eigenen, wiederum entgegengesetzten Ziele. Viktor Orbán bringt zum Beispiel in seinen Statements zum Gedenken an den Aufstand von 1956 problemlos die Belagerung durch die Sowjetunion mit der Flüchtlingspolitik durch die EU zusammen.[3] Der Aufstand von 1956 wird nun auch als Aufstand gegen das Fremde und nicht mehr nur als Aufstand gegen die Diktatur erinnert.

 



[1] Vgl. zu dem Thema auch: Serge Guilbaut, How NewYork Stole the Idea of Modern Art: Abstract Ex­pressionism, Freedom and the Cold War (1983), oder: Frances Stonor Saunders, Who Paid the Piper. The CIA and the Cultural Cold War (1999) (dt. Wer die Zeche zahlt ... Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg, 2001).
Nachdruck aus dem Magazin zur Ausstellung „Artists & Agents“ mit freundlicher Genehmigung der drei Kuratorinnen. Das Magazin ist hier online und kostenlos zugänglich:
Informationen zur Ausstellung auf der Website des Hartware MedienKunstVerein: https://www.hmkv.de/ausstellungen/ausstellungen-detail/artists-agents-performancekunst-und-geheimdienste.html
Der Katalog zur Ausstellung ist im Spector Verlag Leipzig erschienen: https://spectorbooks.com/de/artists-agents-0

 

 

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