I. Werk-Geschichten und künstlerische Archiv-Forschung

Nyota Inyoka, Biographie, Archiv. Zum Forschungsprojekt „Border-Dancing Across Time“

Franz Anton Cramer (Berlin/Hamburg)
Die Tänzerin, Choreographin und Autorin Nyota Inyoka (1896-1971) steht im Zentrum eines Forschungsprojekts, das vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) seit Juni 2019 über den Zeitraum von drei Jahren gefördert wird. Eine der drei Forschungsfragen bezieht sich auf den Bereich der Biographieforschung. Doch Nyota Inyokas Lebensgeschichte spannt sich aus in einem komplexen Gebilde von Faktizität, Invention, Legendenbildung und Selbstbestimmung, ihre Identitätspolitik changiert zwischen selbstbewirkter Verschleierung, sozialer Dynamik, künstlerischer Transgression und zeithistorischer Vereinnahmung im Zeichen des europäischen Kolonialismus. Die Biographieforschung nähert sich im Forschungsverlauf einer Dynamik, die der Unabgeschlossenheit des Archivs als materiellem Wissens- und hermeneutischem Kulturraum entspricht. Der Beitrag resümiert erste Ergebnisse und fasst „das Biographische“ als „Archivisches“, um die Paradigmen des In-Sich-Abgeschlossenen auf der einen Seite, der beständigen Neukonfigurierung auf der anderen Seite methodisch zu verknüpfen.

Revue und Recherche: Jade Montserrats Performance „Shadowing Josephine“ (2013)

Ulrike Hanstein (Köln)
Jade Montserrat ist eine britische Performerin und bildende Künstlerin, die sich im Rahmen ihres künstlerischen PhD mit Josephine Bakers Performances auseinandersetzt. Sie performt geloopte Choreographien, die aus überlieferten Aufzeichnungen von Baker abgeleitet sind und setzt sich auch in Zeichnungen und Installationen mit Baker auseinander. Der Beitrag verortet diese Arbeiten in den Debatten von Performance und Blackness und beschreibt Montserrats Performanceverfahren selbst als Forschungsmethode. Daraus leiten sich neue Formen der Archivierung und Auseinandersetzung mit Performance-Geschichte ab.

Assembling a Work of Art: An Annotated History of Fluxfilm No. 1

Hanna Hölling (London/Zürich)
“What is Zen for Film?”, I was asked on the occasion of a preparatory meeting for Revisions, an exhibition to feature Zen for Film (1962–64), Nam June Paik’s “blank” film projection. Despite the many discussions that preceded the meeting, when it came to the question of what the main—and the only—artwork of this exhibition was, we felt as if we’d been left in the dark. Is Zen for Film an idea, a concept—or rather, an event, a performance, or a process? In its original form, Revisions: Zen for Film combined a research project, pedagogy, an exhibition, and an exhibition catalogue. Revised again in the following pages, Revisions is an exercise in slow looking. It questions the ambition of constructing the work with a fixed identity, a product that moves seamlessly from the studio to the world of dissemination, distribution, and display. Instead, Zen for Film will appear once again as an assemblage of people, things, and events, a vibrant materiality destined for a changeable future.

„Bewußtes Unvermögen“ – Archivpraktiken in der Gegenwart der Kunst

Vera Lauf (Leipzig)
Von März 2019 bis März 2020 zeigte die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig das Projekt „Bewußtes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer“. Dem vorangegangen waren Überlegungen zur gegenwärtigen Sammelpraxis am Museum. Diskutiert wurden Sammel- und Archivpraktiken, die eine Aktivierung der Bestände in der Gegenwart ermöglichen und die Sammlung als ‚Archiv für eine künstlerische Erfahrung’ (Suely Rolnik) begreifen. Für eine Reihe von künstlerischen Praktiken – etwa performativen, zeitbasierten, partizipativen, kollaborativen – erweisen sich bisherige Sammelkonzepte als inadäquat. Das Archiv Gabriele Stötzer war vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen als ein Ausstellungs-, Vermittlungs- und Forschungsraum angelegt. In 3 Teilen zeigte es die künstlerische Praxis Stötzers (vornehmlich aus den 1980er Jahren) zusammen mit dokumentarischem Material, das die Künstlerin selbst zusammengestellt hat. Für das begehbare Archiv entwickelte die Künstlerin Paula Gehrmann wechselnde Rauminstallationen, die in einen Dialog mit dem Material Stötzers traten.

Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste. Antworten auf häufig gestellte Fragen

Inke Arns – Kata Krasznahorkai – Sylvia Sasse (Dortmund und Zürich)
2019/20 zeigte der Hartware MedienKunstVerein in Dortmund die Ausstellung „Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste“. Die von Inke Arns, Kata Krasznahorkai und Sylvia Sasse kuratierte Ausstellung ging zurück auf Ergebnisse des mehrjährigen Forschungsprojekts „Performance Art in Eastern Europe 1950–1990. History and Theory” am Slavischen Seminar der Universität Zürich. Seit nach 1990 viele Geheimdienstarchive der ehemaligen Ostblock-Länder für die wissenschaftliche Forschung geöffnet wurden, war es erstmals möglich, die Dokumentation von Kunst durch Spitzel und die Einflussnahme der Geheimdienste auf künstlerische Arbeiten zu untersuchen. Die Ausstellung versammelte z. T. noch nie gezeigte Beispiele künstlerischer Subversion und geheimdienstlicher Unterwanderung und wollte vor allem die Interaktion von Geheimdienstaktionen und Performancekunst zeigen, jener Kunstrichtung, vor der sich die sozialistischen Staaten Osteuropas am meisten fürchteten. Der Beitrag ist ein Auszug aus dem die Ausstellung begleitenden Magazin.

Die Kunst der Deeskalation – Akira Takayamas Theaterprojekt „J Art Call Center“

Ulrike Krautheim (Tokyo)
Akira Takayamas Theaterprojekt „J Art Call Center“ entstand im Herbst 2019 als unmittelbare Reaktion auf die temporäre Schließung der Ausstellung After ‚Freedom of Expression‘? bei der Aichi Triennale 2019. Die Ausstellung versammelte über zwanzig künstlerische Positionen, welche in staatlichen japanischen Museen nicht gezeigt werden konnten bzw. aus laufenden Ausstellungen entfernt worden waren. Aufgrund von aggressiven Protesten von Bürger*innen musste sie nach nur drei Tagen Laufzeit aus Sicherheitsgründen schließen. Eine Gruppe von Künstler*innen rief daraufhin die Kampagne „Re:Freedom Aichi“ ins Leben. Akira Takayamas J Art Call Center entstand im Kontext von „Re:Freedom Aichi“ und setzte in einer Situation der Konfrontation und Eskalation auf eine direkte Form des Dialogs. Die zentrale Idee des J Art Call Center: Beschwerdeanrufe von Bürger*innen wurden nicht mehr von Angestellten der Präfektur Aichi entgegengenommen, sondern von den beteiligten Künstler*innen und Künstlern selbst. Der Artikel reflektiert Takayamas Projekt als Antwort auf eine zunehmende Vereinnahmung der künstlerischen Sphäre durch politische Repräsentationskämpfe. Die Autorin beschreibt, wie Takayama im Rekurs auf die griechische Tragödie Strategien entwickelt, Theater vor dem Hintergrund der Radikalisierung des öffentlichen Diskurses als sozialen Raum neu zu aktivieren.

Archivanalysen Teil 3: Dokumentation als Teil der Produktion - RIMINI PROTOKOLL

Lucie Ortmann (Wien)
Im Rahmen des Forschungsprojekts "Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste" interessierten wir uns für die Archivierungsprozesse von Rimini Protokoll. Wie dokumentiert die medial-technisch versierte Künstler:innengruppe ihre Arbeit? Gibt es so etwas wie ein kontinuierlich betriebenes Archiv? Dieser Bericht bildet den dritten Teil der Reihe Archiv-Analysen. Er basiert auf einem Gespräch, das wir bereits 2016 führten und ist in insofern auch ein Griff ins Archiv des Forschungsprojekts. Archiv-Analysen richten sich auf die Praktiken des Sammelns und die Prozesse des Erschließens und Nutzens verschiedener Akteur:innen und Institutionen im Bereich Performancekunst/Freie Theater- und Tanzszene. Teil 1 beschäftige sich mit dem HAU Hebbel am Ufer, Berlin (MAP #8) und Teil 2 mit dem Haus der Kunst, München und dem steirischen herbst, Graz (MAP #9).