Musée Précaire Albinet

Ein Projekt von Thomas Hirschhorn & Les Laboratoires d'Aubervilliers

 

 

Les Laboratoires d'Aubervilliers entstanden 1993 auf Initiative des damaligen Bürgermeisters auf dem Gelände einer ehemaligen Kugellagerfabrik in der Gemeinde Aubervilliers im nordöstlichen Gürtel von Paris, dem Département Seine – Saint-Denis. Es ist bis heute durch starke soziale Verwerfungen gekennzeichnet. Die Gründung als eingetragener gemeinnütziger Verein erfolgte 1994, die Leitung erhielt der Choreograph François Verret. Der Auftrag bestand in der Bildung eines interdisziplinären Zentrums für zeitgenössische Kunst, mit einem Schwerpunkt auf Darstellenden Künsten. Doch waren ebenso Film, Bildhauerei und auch Theorieformate Teil des künstlerischen und kuratorischen Profils. Ein Publikationsprogramm wurde bereits im Jahr 2004 gestartet; die Zeitschrift der Laboratoires erscheint seit 2003.

Residenzprogramme und produktionstechnische Unterstützung künstlerischer Forschungsvorhaben bilden bis heute den Schwerpunkt der Arbeit. Das kuratorische Profil variiert mit der jeweiligen künstlerischen Leitung; sie wechselt regelmäßig, in der Regel alle drei Jahre.

Von Anfang an sollten die Laboratoires vor allem auch in den Stadtraum hineinwirken und die lokale Bevölkerung einbinden. Vor diesem Hintergrund entstand 2004 das ehrgeizige Projekt Musée Précaire Albinet von Thomas Hirschhorn. Im Folgenden dokumentieren wir das Vorhaben in einer Reihe von Photos. Ein resümierender Text der Projektkuratorin und damaligen Ko-Leiterin Yvane Chapuis erläutert Intention und Durchführung, eine Notiz von Thomas Hirschhorn präzisiert seine künstlerische Herangehensweise.

Wir danken Yvane Chapuis, Thomas Hirschhorn und den Laboratoires d'Aubervilliers für die Erlaubnis zur Verwendung dieser Materialien.

Die Redaktion

 

 

 

 

Musée Précaire Albinet (2004)

Français

Ein Projekt von Thomas Hirschhorn
Kuratorisches Konzept (commissariat): Yvane Chapuis
Projektleitung: Guillaume Desanges
Produktion: Les Laboratoires d’Aubervilliers

 

Das Projekt Musée Précaire Albinet bestand darin, vor einem Sozialwohnungskomplex im Viertel Landy der Gemeinde Aubervilliers nordöstlich von Paris ein prekäres Museum einzurichten, das heißt ein Museum aus billigen und leicht verfügbaren Materialien (Holz, Plastik, Klebeband), um Werke von acht bedeutenden Künstlern aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts auszustellen.

Diese Künstler waren Marcel Duchamp, Kasimir Malewitsch, Piet Mondrian, Joseph Beuys, Andy Warhol, Fernand Léger, Le Corbusier und Salvador Dalì.

Thomas Hirschhorns Wahl fiel auf diese Künstler, weil sie alle das Anliegen teilten, durch ihre Arbeit die Welt zu verändern und weil sie auch für seinen eigenen Werdegang bedeutsam waren. Alle Werke entstammten den Beständen des Musée national d’Art moderne und des Fonds national d’art contemporain.

Das Musée Précaire Albinet bestand aus vier Räumen: ein Ausstellungssaal, eine Bibliothek, eine Werkstatt (atelier) und eine Cafeteria, die von Frauen aus dem Viertel eigenverantwortlich betrieben wurde.

 

Das Projekt basiert auf der Idee, dass Kunst handeln kann:

1/ Wenn Kunst handeln kann, kann sie aus ihrer kulturell determinierten Rolle hinaustreten, das heißt aus ihrem Schrein, nämlich dem Kulturtempel, dargestellt durch das Museum, um sich umzuschauen und in einem Viertel gezeigt zu werden wie dem von Landy.

Das war auch die Begründung für die Leihanfragen beim Centre Pompidou und die Basis, auf der die Anfragen positiv beschieden wurden.

2/ Wenn Kunst aktiv ist, löst sie Handlungen aus.

 

Musée Précaire Albinet lief über acht Wochen hinweg, wobei jede Woche der Ausstellung eines Künstlers gewidmet war. So gab es die Duchamp-Woche, die Mondrian-Woche, die Beuys-Woche usw. Jede Woche folgte einem gleichen Aktivitätsrhythmus:

  • Montag Aufbau
  • Dienstag Vernissage
  • Mittwoch Workshops für Kinder in der jeweils laufenden Ausstellung. Die Durchführung der Workshops war einem Verein La Part de l’Art anvertraut, der in dem Viertel bereits tätig war.
  • Donnerstag Schreibwerkstatt mit Bezug auf die jeweils laufende Ausstellung. Die Schreibwerkstätten wurden von acht zeitgenössischen Autorinnen betreut und durchgeführt, ausschließlich Frauen, weil die ausgestellten Künstler allesamt Männer waren.
  • Freitag öffentliche Diskussion, moderiert von der Schriftstellerin der Woche, ausgehend von zeitgenössischen Fragestellungen rund um die laufende Ausstellung. So hatte die Diskussion in der Warhol-Woche beispielsweise die Todesstrafe zum Thema, weil Warhols Elektrischer Stuhl in der Ausstellung zu sehen war.
  • Samstag Vortrag über den Künstler der Woche durch einen ausgewiesenen Experten bzw. Kunsthistoriker.
  • Sonntag gemeinsames kostenloses Mittagessen für alle, zubereitet von einem Bewohner des Viertels als Finissage der Ausstellung.

 

Ein weiterer Bestandteil des Rahmenprogramms, der allerdings nicht vor Ort durchgeführt wurde, waren Exkursionen mit Bezug zur Ausstellung. So gab es etwa während der Warhol-Woche die Besichtigung einer Werbeagentur, während der Léger-Woche eine Besichtigung des Eiffelturms (der Léger inspiriert hatte), während der Beuys-Woche einen Besuch in der Nationalversammlung (weil Beuys Mitglied der Partei Die Grünen gewesen war), während der Mondrian-Woche eine Reise zum Mondrian-Museum in den Niederlanden, während der Duchamp-Woche einen Besuch im BHV [Bazar de l’Hôtel de Ville, traditionsreiches Warenhaus im Zentrum von Paris, Anm. d. Ü.] (von wo sein berühmter Flaschenständer stammte) und so weiter.

Musée Précaire Albinet folgte also jede Woche dem Rhythmus seiner Aktivitäten.

Musée Précaire Albinet wurde mit den Bewohnern des Viertels errichtet und betrieben: Eine Gruppe von vierzig Personen hat es aufgebaut, ein Team von etwa fünfzehn Jugendlichen war für den laufenden Betrieb verantwortlich. Sie kümmerten sich um Verpackung, Hängung und Besucherempfang. Jede Woche begab sich die Gruppe in die Magazinräume des Centre Pompidou, um die Werke einzupacken und nach Landy zu transportieren.

Während der 18-monatigen Vorbereitungszeit des Projektes erhielten die Jugendlichen eine Ausbildung in Museumsberufen und Bestandsverwaltung, zunächst im Rahmen eines zweiwöchigen Praktikums während des Aufbaus der Biennale de l’Art contemporain de Lyon, dann über sieben Wochen in unterschiedlichen Dienststellen des Centre Pompidou im Rahmen einer beruflichen Fortbildung, die mit dem örtlichen Arbeitsamt gemeinsam entwickelt und auch vergütet wurde. Für diese Ausbildung von Jugendlichen haben die Laboratoires Unterstützung durch den Europäischen Sozialfonds ESF erhalten.

Nach dem Abbau des Musée Précaire Albinet wurden mit Ausnahme der Kunstwerke alle seine Bestandteile (Tische, Stühle, Sessel, Leuchtstoffröhren, Holz, Videomonitore etc.) im Rahmen einer Tombola im ganzen Viertel verteilt.

Das Budget betrug 350.000 Euro, davon ungefähr 50% aus öffentlichen Fördermitteln und 50% aus privaten Sponsorengeldern (agnès b, galeries de l’artiste, l'artiste lui-même, Fondation Evens).

 

Nachwirkung des Musée Précaire Albinet

Neben dem, was in der Erinnerung jedes einzelnen verbleibt und nicht messbar ist, führte Musée Précaire Albinet ganz konkret zu folgenden Ergebnissen:

Annäherung der Laboratoires d’Aubervilliers und der örtlichen Sozialarbeiter, die im Weiteren zu Folgeprojekten und Kooperationen geführt hat, teilweise auch auf Initiative der Sozialarbeiter.

Berufsentwicklung für einige Jugendliche des Viertels: So hat das Centre Pompidou zwei Ausbildungsverträge über zwei bzw. drei Jahre in Museumsberufen und Ausstellungstechnik angeboten sowie einen unbefristeten Arbeitsvertrag in der Gebäudesicherheit des Centre Pompidou. Außerdem erhielten etwa 20 Jugendliche einen befristeten Arbeitsvertrag als Aufsichtspersonal in den Ausstellungen des Centre Pompidou.

Ein Jugendlicher ist in die Pariser École des arts décoratifs aufgenommen worden.

2005 erschien, herausgegeben von Yvane Chapuis, ein Dokumentationsband bei Éditions Xavier Barral. Auch die Zeitschrift Le Journal des Laboratoires brachte 2007 eine Ausgabe zu Musée Précaire Albinet.

Les Laboratoires d’Aubervilliers 2004

 

 

Musée précaire Albinet: Ansichten

 

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Photos: © Les Laboratoires d’Aubervilliers 2004

 

 

ABOUT THE “MUSÉE PRÉCAIRE ALBINET”
I am an artist, I am not a social worker. The “Musée Précaire Albinet” is a work of art, and not a sociocultural project. The “Musée Précaire Albinet” is an affirmation. This affirmation is that art can only gain importance and a political meaning by being art. This is why I insist on the fact that the “Musée Précaire Albinet” is an art project. The point is not to reduce art to the sociopolitical field, nor to limit the mission of art to a cultural mission.
The “Musée Précaire Albinet” is not controllable. Art can always escape from control. When proposing the Landy area as location for the project, I said, and most specifically to the inhabitants of the Cité Albinet, that the mission of the “Musée Précaire Albinet” is an impossible mission, since this impossible mission is based on an agreement. Agreeing means to agree with one’s mission. It is only if I agree with my mission, that I can cooperate with reality and change it. Reality cannot be changed unless you agree with it. To agree is an affirmation. To affirm something does not mean to respect something, to affirm something means to love something. The “Musée Précaire Albinet” is an affirmation, in agreement with the neighbourhood, its inhabitants, its location, its program, its visitors, its activities. To agree does not mean to approve of, it means to dare go beyond the horizon of discussion, of argumentation, communication, justification and explanation.
The “Musée Précaire Albinet” claims to be a breakthrough. The “Musée Précaire Albinet” carries within itself the violence of the horizon’s transgression. I, myself, must constantly fight against the ideology of the possible, and against the dictatorship of what is allowed. I, myself, must work against the culture administration’s logic of facilitating things. I must constantly encourage myself. I must encourage myself for taking the right decision, and I must encourage myself to remain free. The “Musée Précaire Albinet” is a project that does not want to soothe, nor calm down. With this project, I want to dare touch what cannot be touched, the other, I do not want to neutralize the other. The “Musée Précaire Albinet” does not work towards “justice”, “democracy”, neither towards “the possible”. The artist’s freedom or the autonomy of art remain words if what they are aiming for is being prescribed at the same time. The “Musée Précaire Albinet” is a project in complete overworking, in total exaggeration. This project must constantly assert its raison d’être, and is constantly defending the autonomy of an artwork. Each day, the “Musée Précaire Albinet” must be rebuilt. This project involves complexity, contradiction, difficulty and beauty. I shall never say that the “Musée Précaire Albinet” is a success, nor shall I ever say it is a failure.
Thomas Hirschhorn, Aubervilliers, May 5. 2004

 

 

 

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