Die Stadt als Bühne sehen – die Veranstaltungsreihe "Disappearing Berlin"

Marie-Therese Bruglacher (Berlin)
Verena Elisabet Eitel (Berlin)

 

 

 

2019 und 2020 fand in Berlin die Veranstaltungsreihe Disappearing Berlin des Schinkel Pavillon https://www.schinkelpavillon.de/de/ statt. Der Beitrag collagiert ein Gespräch mit der Projektleiterin und Co-Kuratorin des Projektes, Marie-Therese Bruglacher, das nach Abschluss der Reihe geführt wurde, mit ausgewähltem Foto- und Bewegtbildmaterial der Veranstaltungen.

Ausführliche Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen sowie eine Karte mit den eingezeichneten Orten finden sich auf der Website von Disappearing Berlin: https://disappearingberlin.de/events/

Disappearing Berlin ist kuratiert von Nina Pohl und Marie-Therese Bruglacher und produziert von Franziska Zahl.

Die Fragen stellte Verena Elisabet Eitel.

 

 

Welche Beobachtungen hinsichtlich des Wandels und der Dynamiken in Großstädten allgemein, im Besonderen aber in Berlin, stehen hinter der Projektreihe Disappearing Berlin?

Marie-Therese Bruglacher: Disappearing Berlin greift vordergründig etwas sehr Berlin-spezifisches auf: Vielschichtigkeit, Nebeneinander im Miteinander und Freiraum. Diese Themen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Serie und finden sich wieder in den Performances der eingeladenen Künstler*innen und den ausgesuchten Orten. Berlin bestand seit jeher, aber vor allem seit dem Zusammenschluss des historischen Stadtkerns mit den umliegenden Städten und Gemeinden zu Groß-Berlin im Jahr 1920 aus sehr unterschiedlichen Orten und Menschen – Groß-Berlin hatte damals sogar mehr Einwohner als Berlin heute und dehnte sich über fast die gleiche Fläche aus. Historisch gesehen musste sich Berlin als Stadt immer wieder neu erfinden und so auch die Menschen, die hier leben. Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg, der die Stadt in großen Teilen dem Erdboden gleichmachte oder die Teilung in zwei Städte durch die Berliner Mauer, haben das sozusagen zur zwingenden Voraussetzung gemacht. Das Berliner Stadtbild trägt unendlich viele Handschriften derjenigen, die diese Stadt tagtäglich neu erfunden haben und versuchen, das weiter zu tun. Heute sind die Frei- und Spielräume nur sehr viel kleiner geworden. Dynamiken wie Gentrifizierung, steigende Preise und Wohnungsknappheit finden sich dabei in allen Großstädten, Berlin ist da keine Ausnahme. Mit Disappearing Berlin wollten wir daher das Bewusstsein für die dringende Frage schärfen, in was für einer Stadt wir leben wollen.

 

Bonjour Tristesse Wohnhaus, When Doves Cry mit Billy Bultheel
und Spyros Rennt kuratiert von Joel Mu

 

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Welche Bedeutung hat die Projektreihe für den Schinkel Pavillon als einen institutionalisierten Ort für Kunst mit festen Ausstellungsräumen?

M-T B: Als öffentlich geförderter Kunstverein ist unsere Situation immer prekär. Einerseits hängt unser Programm von Fördergeldern ab, andererseits verfügen wir als Mieter immer nur temporär über den Ausstellungsraum. So geht es vielen Institutionen in Berlin. Es ist daher enorm wichtig, feste und langfristige Räume für die Kunst zu sichern, um auch den vielen Künstler*innen, die nach wie vor in Berlin leben und arbeiten gesicherte Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten zu bieten.

Mit Disappearing Berlin haben wir urbane und öffentliche Räume erkundet und teils auch bewusst mit Kunst gestört, wobei die Performances nie länger als ein paar Stunden gedauert haben. Es ging also nicht darum, Strukturen zu etablieren, sondern temporäre Begegnungsorte zu schaffen. An einer Brücke am Halleschen Tor tauchen andere Menschen auf als bei einer Eröffnung im Schinkel Pavillon. Ein etablierter Kunstort schreckt immer auch Menschen ab. Wenn wir aber zusammen ein Bewusstsein für Berlin entwickeln wollen, dann betrifft das alle Berliner*innen und nicht nur die Kunstinteressierten.

Insgesamt gab es über ein Jahr verteilt 12 bzw. 13 – wenn man die inoffizielle Eröffnung im Kino International mitrechnet – einzelne Veranstaltungen.

M-T B: – die 14. Veranstaltung, unser eigentliches Closing in einem ehemaligen Festsaal an der Hasenheide, musste leider Corona-bedingt ausfallen.

 

 

Postbank-Hochhaus, JULIUS EASTMAN. GAY GUERRILLA GIRLS,
initiiert von Maya Shenfeld

 

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Nach welchen Kriterien fand die Auswahl der Orte und Architekturen statt? Welche Rolle spielte ihr teilweise repräsentativer Charakter?

M-T B: Einerseits haben wir Orte gesucht, denen Abriss, Privatisierung oder Umnutzung bevorstanden und damit ganz aktuelle stadtpolitische Diskussionen beispielhaft aufgegriffen. So etwa die von Maya Shenfeld initiierte Performance Gay Guerrilla Girls im Postbahnhochhaus am Halleschen Ufer. Das Hochhaus war über Jahre Streitgegenstand zwischen dem Bezirksamt und der CG Immobilien Gruppe um Christoph Gröner. Nachdem der Investor die ursprünglichen Versprechungen an den Bezirk – Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, Ausbau als Kreativ- und Wirtschaftsort – nicht einhielt, lehnte der Bezirk die Baupläne ab. Der Kompromiss bestand letztlich im Rückkauf des Grundstücks durch die Stadt, wo jetzt die Degewo plant und baut. Ein anderes Beispiel für Stagnation und Fehlplanung ist das Baerwaldbad, das bereits 2017 für die Öffentlichkeit schließen musste (dabei mangelt es überall in Berlin an öffentlichen Schwimmbädern). Wir haben dort mit dem Choreografen Josh Johnson und dem Komponisten Patrick Belaga eine Performance rund um das Thema Choreografie und Improvisation geplant. Die politische Situation im Baerwaldbad ist starr, da sich verschiedene Parteien – der das Bad jahrelang betreibende Verein und das Bezirksamt – im Streit um Eigentum, Nutzung und Sanierung befinden.

Darüber hinaus haben uns die unterschiedlichen Narrative und Mythen in und über Berlin sowie Orte interessiert, die über längere Zeit im Zusammenwirken unterschiedlicher sozialer und kultureller Kräfte entstanden sind. Damit rückten auch ganze Nachbarschaften in den Fokus, nicht nur einzelne Gebäude und Orte. Architektur spielt dabei natürlich eine essentielle Rolle – in ihr haben sich über Jahrhunderte Epochen und Ideologien im wahrsten Sinne des Wortes verfestigt. Bewusst oder unbewusst spielt Architektur eine enorme Rolle in unserem Leben. Sie gibt vor, wie wir uns durch die Stadt bewegen und wie wir uns dabei fühlen.

 

 

Baerwaldbad, piety mit Cyril Baldy, Patrick Belaga,
Graziano Capitta, Thilo Garus, Josh Johnson und Nicole Walker

 

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Wie sind Künstler*innen und Veranstaltungsorte zusammen gekommen?

M-T B: Von Anfang an war Disappearing Berlin ein kollaboratives Projekt. Wir hatten natürlich viele Orte zur Auswahl, anhand derer wir Künstler*innen und Kurator*innen angesprochen haben. Wir haben dann zusammen die Performances aus bestehenden Arbeiten oder neu konzipiert – immer ortsspezifisch natürlich. Genauso passierte es andersherum, wir haben anhand künstlerischer Vorschläge gezielt nach Orten gesucht. Ab der dritten oder vierten Veranstaltung bekamen wir sogar regelmäßig Emails mit Ortsvorschlägen von Menschen, die von Disappearing Berlin gehört hatten. Die Dringlichkeit und Aktualität des Programms bestand auch darin, dass wir die Orte teils enorm kurzfristig „aufgetrieben“ haben. Dabei gab es auch viel Frustration, da aus vielen Anfragen und Verhandlungen nichts wurde. Wir hatten uns zu Beginn dazu entschlossen, das Programm offen zu halten, um flexibel auf neue Entwicklungen– frei werdende Räume oder kurzfristige Vorschläge von Künstler*innen – sowie aktuelle Stadtpolitik reagieren zu können. So kam zum Beispiel das Screening von Marianna Simnetts Filmen im moviemento Kino zustande. Das Kino ist das älteste Deutschlands. Sein Fortbestehen stand letztes Jahr konkret durch den Verkauf des Gebäudes und der damit einhergehenden Mieterhöhung in Frage. Das Team des moviemento hatte daraufhin eine Crowdfunding Kampagne zum Eigenerwerb der Räume gestartet, auf die wir mit unserer Veranstaltung aufmerksam machen wollten.

 

Welche Rolle spielten Historie und ehemalige oder eigentliche Nutzung der Orte bei der Entwicklung der künstlerischen Projekte? Gab es hierzu Recherchen – durch die Künstler*innen, durch dich als Kuratorin?

M-T B: Vom künstlerischen Proposal bis hin zur tatsächlichen Performance steckt in jeder Veranstaltung von allen Seiten viel Recherche und Zeit vor Ort dahinter. Manche der Künstler*innen, vor allem die in Berlin lebenden, haben sich konkret zur historischen und heutigen Dynamik von Orten Gedanken gemacht. Steven Warwick beispielsweise hat sich in seiner Performance am Landwehrkanal südlich des Mehringplatzes mit dem Entstehungsmythos Berlins beschäftigt. Ende des 17. Jahrhunderts schloss hier das Hallesche Tor das gerade durch die Südliche Friedrichstadt erweiterte Berlin ab. Heute ist gerade das Gebiet um den Mehringplatz von starker Armut betroffen. Im Rondell stehen etliche Läden leer, während sich die angrenzenden Bezirksteile wirtschaftlich und kulturell weiterentwickeln. Ein anderes Beispiel ist das von Dan DeNorch organsierte Konzert mit der Band Die Hässlichen Vögel, das im Foyer des Quartier 206 in der Friedrichstraße stattfand. Nach dem Fall der Mauer sollte die Friedrichstraße rund um den Gendarmen Markt den Kurfürstendamm als Luxus-Shopping-Meile des neuen Berlins ablösen. 1997 eröffnete das von den New Yorker Architekten Pei Cobb Freed & Partners erbaute Quartier 206, das mit freischwebender Marmortreppe und einer der Louvre-Pyramide nachempfundenen Glaskonstruktion als exklusive Luxuspassage konzipiert war. Seit 2011 befindet sich die Gewerbeimmobilie in der Zwangsverwaltung, auch hier stehen etliche Läden leer. Aktuell wird versucht, den Komplex als Kultur- und Eventstandort zu etablieren. Die Hässlichen Vögel entziehen sich Kommerzialisierung und Mainstream, haben ihre Musik nie veröffentlicht und gaben vergangenen Oktober dort ihr letztes Konzert. Das alles hat gut gepasst. Die Verbindung zwischen Künstler*innen, Performance und Ort bestand immer – mal stand die ursprüngliche Nutzung und Geschichte, mal die aktuelle Dynamik des Ortes im Vordergrund.

 


Quartier 206, Die Hässlichen Vögel, eingeladen von Dan DeNorch

 

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Bei den Veranstaltungen wurden Orte, die im Umbruch, im Verschwinden oder in temporärer Nutzung begriffen sind, bespielt. Die einmalige Bespielung reaktiviert die Orte temporär, schafft Aufmerksamkeit. Aber gibt es auch nachhaltige Aspekte? Was bleibt durch die künstlerische Auseinandersetzung?

M-T B: Mit Disappearing Berlin haben wir uns bewusst auf temporäre Interventionen konzentriert. Die einzelnen Orte und Performances ergeben zusammen Teile eines nie ganz zusammengesetzten Mosaiks. Die Erfahrung der Kunst und des Orts bleibt momenthaft. Die Nachhaltigkeit besteht darin, auf Entwicklungen und Tendenzen innerhalb der Stadtplanung und -soziologie hinzudeuten und sie aus Perspektive der Kunst temporär anders zu sehen. Sich politisch und gesellschaftlich gegen diese Entwicklungen zu stellen, passiert in einer anderen Sphäre, welche nicht die der Kunst ist. Die künstlerische Auseinandersetzung kann einen anderen Blick auf und Zugang zu dem schaffen, was um uns herum passiert. Disappearing Berlin verkörpert einen spielerischen und poetischen Ansatz, mit der Stadt und ihren vielen Facetten und Akteur*innen in Interaktion zu treten.

 

Green Mango Karaokebar, Fragments of the impossible, kuratiert von Kammerqueers (Keith Zenga King und Lola Fonsèque) mit House of Living Colors, Queer Arab Barty, Bad puppy & Mercedes Blenz

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Clärchens Ballhaus, Si Di Kubi 2.0 mit Mohamed Bourouissa, Tony Elieh, Paulina Greta, Dorine Potel, Youmna Saba, Sina XX, 2038

 

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Baustelle am Salzufer, YOUNG BOY DANCING GROUP

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Haus 1 am Waterloo Ufer, Steven Warwick Berlin Belongs to Us

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Architektur hat einen ästhetischen Aspekt, sie gestaltet aber auch das gesellschaftliche Zusammenleben, sie ist Spiegel von und Motor für Entwicklungen.

Welche Idee von Architektur und Stadtplanung steht hinter eurer Auseinandersetzung? Welche Erfahrungen habt ihr mit den ausgewählten Orten gemacht?

M-T B: Wenn wir Berlin heute als Stadt, die aktuellen Chancen und Problematiken, verstehen wollen, ist es enorm aufschlussreich die Berliner Geschichte wie auch die historische Stadtplanung genauer anzusehen. Architektur verkörpert Ideologien, die zu einer gewissen Zeit prägend waren. Diese wechselnden Epochen und Prägungen sind in Berlin besonders spürbar und nach wie vor in etlichen baulichen Schichten präsent. Über die Zeit ändern sich Bewusstsein und Zugang zur Architektur kontinuierlich. Wir bauen heute anders als vor zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren. Vielmehr als um eine präferierte Idee von Architektur ging es uns mit Disappearing Berlin darum, das Konfliktfeld Stadtplanung und Architektur als Lebensraum greifbar zu machen und ins Bewusstsein zu rücken, wie wichtig und essentiell das heterogene Stadtbild für Berlin ist.

In der Umsetzung von Disappearing Berlin ist uns vor allem klar geworden, wie schwer es geworden ist, die Freiräume zu finden und zu nutzen, mit denen Berlin vor allem nach der Wende gesegnet war. Es geht dabei auch ein Stück weit um die De-Mystifizierung der Zeit nach den 90er-Jahren. Wie können wir heute innerhalb der Entwicklungen unserer Zeit neue und andere Freiräume für und mit der Kunst schaffen? Es hilft nicht weiter, über die Gegenwart zu lamentieren und nostalgisch das Berlin von damals zu beschwören.

 

Durch die einzelnen Veranstaltungen wurden Orte und Räume wieder bzw. zum ersten Mal als Aufführungsorte genutzt. Von Seiten der Kunst gefragt – braucht es in Berlin mehr und/oder andere Räume?

M-T B: Wir haben die Frage zu Beginn schon kurz gestrichen. Einerseits ist es enorm wichtig, langfristig gesicherte Räume für die Kunst zu haben, die wiederum Künstler*innen gesicherte Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten bieten sollen. Andererseits ist es enorm spannend für die Künstler*innen, neues Terrain zu erkunden – schon in den 1960er-Jahren haben Künstler*innen und Vertreter*innen der Land Art den White Cube der Galerien und Museen gegen die freie Natur und Architektur eingetauscht, um diese aktiv zu gestalten. Gängige Ausstellungspraktiken und Institutionen zu hinterfragen spielt also eine wichtige Rolle. Auch wenn es in Berlin, im Vergleich zu anderen Städten, viele kleinere Projekträume gibt, wäre es toll, wenn es mehr Experimentierflächen für die Kunst gäbe. Institutionen funktionieren nach ihren eigenen Regeln, sie agieren häufig exklusiv, sowohl in Bezug auf die Auswahl der Künstler*innen wie auch bezüglich der Öffnung gegenüber neuen Publikumssparten. Kunst in oder an Orten, die un(vor)eingenommen sind, also nicht durch Kunst/Kultur besetzt sind, bieten da spannende Begegnungsmöglichkeiten. Das bringt wieder andere Herausforderungen mit sich: Künstler*innen müssen sich auf ein anderes, nicht durch den Kunstbetrieb geschultes Publikum einlassen. Das wirft Fragen auf: Wer überhaupt ist mein Zielpublikum? Wie politisch ist meine Arbeit, wenn nur ein Bruchteil der Menschen versteht, um was es geht? Wie kann ich mein Anliegen verständlich machen bzw. möchte ich das überhaupt?

 

Xara Beach am Kottbusser Tor, Leylet Hob (A Night of Love),
kuratiert von Martha Kirszenbaum

 

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Bärenzwinger im Köllnischen Park, Pigeon Feather Stick.
A play by Georgia Gardner Gray

 

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Moviemento Kino, Marianna Simnett Bits of girl left out to dry,
kuratiert von Attilia Fattori Franchini

 

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Auch (traditionelle) Aufführungsarchitekturen agieren in Form von Handlungsanweisungen an alle Akteur*innen (Darstellende und Publikum). War die Reflexion von Wahrnehmungsgewohnheiten und das Ermöglichen neuer Wahrnehmungserfahrungen in Zusammenhang mit der Aufführungsanordnung ein Thema für die Veranstaltungen?

M-T B: Absolut. Ein gutes Beispiel ist hier das Konzert von Eli Keszler, das auf dem Deck eines versteckt am Kottbusser Tor gelegenen Parkhauses stattfand. Das Parkhaus stammt aus dem 70er-Jahren, als das Kottbusser Tor in seiner heutigen Beton- und Plattenästhetik entstanden ist. Das Kottbusser Tor ist bekannt für seine Junkies und Obdachlosen, Polizeieinsätze und offene Testosteron-Zurschaustellung, es ist laut und dreckig. Hinter einem der Seitenflügel des Kreuzberger Zentrums liegt das Parkhaus, sozusagen in zweiter Reihe, der Blick auf den Kotti ist versperrt. Eli ist Komponist und Percussionist, viele seiner Performances und Installationen stehen direkt in Bezug zu ihrer städtischen und baulichen Umgebung. Für das Konzert haben wir verschiedene Tonspuren am Kotti aufgenommen: Gespräche, die vorbeifahrende U-Bahn, hupende Autos, Sirenen usw. Diese sogenannte Soundscape hat Eli dann live in sein Set eingespielt. Die Menschen saßen oben auf dem Dach, wir konnten den Kotti hören, aber nicht sehen. Das war eine sehr meditative Erfahrung.

 

Parkhaus X-berg Parking, Eli Keszler

 

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Kann Kunst  – und wenn, wie – gestaltend in den Wandel der Stadt eingreifen? Welche Rolle spielen dabei Kunst- und Kulturinstitutionen?

M-T B: Für mich sind Kunst- und Kulturinstitutionen Orte, um Zeitgeschehen zu reflektieren und neue, insbesondere andere Sichtweisen aufzugreifen. Es sind in gewisser Weise immer Freiräume, auch wenn die meisten von ihnen dabei eigenen Konventionen und Hierarchien unterlegen bleiben. Was dort geschieht, bildet nur einen kleinen Teil unserer Welt und Gesellschaft ab, der von Menschen ähnlicher Gesinnung ausgehandelt wird. Verlässt die Kunst die Institution und tritt in den Stadtraum und öffentliche Orte, muss sie sich den dortigen Dynamiken stellen. Der Raum gehört nicht nur der Kunst, andere Menschen und Gruppen beanspruchen ihn. In diesem Moment der Begegnung und Verhandlung hat die Kunst definitiv etwas Mit-Gestaltendes. Kunst vermag es, Dinge in einem neuen und ungewohnten Blick darzustellen und somit neue Aufmerksamkeit zu generieren. So kann Kunst Diskussionen um den Wandel der Stadt initiieren. Dabei kommt es zu Allianzen, guten und schlechten, zwischen der Kunst und Stadtpolitik. Das politisch wohl am aussagekräftigsten ist die Initiative Haus der Statistik. Hier haben sich Künstler*innen, Aktivist*innen und soziale wie kulturelle Einrichtungen von Beginn an in die Planung involviert. Es ist in vielerlei Hinsicht ein Modellprojekt geworden. Darüber hinaus befinden wir uns an einem Punkt, an dem die Strukturen und Funktionsweisen von Institutionen stark hinterfragt werden. Was und wer wird gezeigt? Wer entscheidet? Wer hat Zutritt?

 

Seit vielen Jahren gibt es Diskussionen und Projekte der verschiedenen Künste zu Zwischen-, Um- und temporärer Nutzung. Sind durch das Projekt neue Visionen für das Verhältnis von Kunst und Raumnutzung entstanden?

M-T B: Es gibt sehr viele Projekte im künstlerischen wie im sozialen und politischen Bereich, die sich mit diesen Themen übergreifend oder spezifisch auseinandersetzen. Disappearing Berlin war von Beginn an eine sehr dringende, aber spielerische Auseinandersetzung mit diesen Themen. Im Fortschreiten der Serie haben wir immer stärker gespürt, wie wichtig die Veranstaltungen sind und welche Möglichkeiten aus dem kontinuierlich wachsenden Netzwerk entstehen. Wir hatten vorhin bereits über den Aspekt von Reichweite und Publikum gesprochen. Disappearing Berlin fand zwischen Mai 2019 und März 2020 statt, das sind gerade einmal zehn Monate. Es dauert sehr viel länger um eine aktive Plattform zu bauen und zu etablieren, daher wäre es schön, wenn Disappearing Berlin weiterlaufen könnte. Dadurch könnten die Aspekte Vernetzung, Zugänglichkeit und Mitgestaltung weiter vertieft werden.

 

Kann man zum aktuellen Zeitpunkt etwas zur geplanten Fortsetzung des Projekts sagen?

M-T B: Wir haben uns für eine neue Förderung beworben und hoffen, dass es weitergeht.

 

 

Nachweise Trailer
Trailer 1: © Video: Augustín Farias
Trailer 2: © Video: David Rych
Trailer 3: © Video: Patrícia Bateira
Trailer 4: © Video: India Roper-Evans
Trailer 5: © Video: Silke Briel
Trailer 6: © Video: Anna Budniewski
Bildnachweise
Abb. 2: © Eike Walkenhorst
Abb. 3: © Mauricio Guillén
Abb. 5: © Julija Goyd
Abb. 7: © Silke Briel
Abb. 8: © Silke Briel
Abb. 9: © Silke Briel
Abb. 10: © Silke Briel
Abb. 11: © Nina Pohl
Abb. 12: © Julija Goyd
Abb. 13: © Julija Goyd
Abb. 14: © Silke Briel
Abb. 15: © Silke Briel
Abb. 16: © Silke Briel
Abb. 17: © Philippa Halder
Abb. 18: © Philippa Halder
Abb. 19: © Anna Budniewski

 

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