Einstweilen im Dazwischen – das Interim als Möglichkeit, andere Umgebungen zu erschließen und variable Räume zu erproben

Barbara Büscher (Köln / Leipzig)

 

 

 

 

Durch Rekonstruktion, Umbau und Renovierung / Erweiterung sind oder waren eine Reihe von städtischen und staatlichen deutschen Theatern in den letzten Jahren gezwungen, sich im Interim mit anderen Standorten, neuen Umgebungen und variablen Raumaufteilungen in großen Hallen auseinanderzusetzen. Gerhard Preußer hat 2017 für einige Beispiele (Köln, Düsseldorf, Dortmund und Bonn) thematisiert, wie unterschiedlich der Umgang der verschiedenen Häuser mit der vermeintlichen ‚Notlösung‘ sein kann (Preußer 2017). Im gleichen Jahr veröffentlichte der Mannheimer Morgen eine kleine Liste von bereits sanierten oder sanierungsbedürftigen Theatern (Hardung 2017), als da sind und waren: Nationaltheater Mannheim, Theater Heidelberg, Badisches Staatstheater Karlsruhe, Staatstheater Mainz und Staatstheater Darmstadt. Aktuell beschäftigt die Auseinandersetzung um Sanierung oder Neubau der Frankfurter Bühnen auch die Frage nach Standort und Kosten des Interims, für das vor allem die Oper die Idee einer möglichst vollständigen Nutzung vorhandener Bühnenbilder verfolgt.

„Das Festhalten am Status Quo wird am grotesken Umgang mit der Frage des Interims deutlich. Die Opernintendanz erwartet, im Interim den gegenwärtigen Spielbetrieb möglichst unverändert fortsetzen zu können. Um die Bühnenbilder des bestehenden Repertoires weiter unverändert nutzen zu können, bedarf es einer Drehbühne von 38,5 Metern Durchmesser, die in Kosten von € 70 Mio. für das Interim resultieren, welche wiederum von der Politik als nicht vertretbar gelten.“[1]

Das ist die eine Seite der möglichen Bandbreite von Ideen und Konzeptionen zum Umgang mit Interimsspielstätten, an deren anderem Ende die Vorstellung stehen kann, die erforderlichen räumlichen und ortsbezogenen Änderungen als Rechercheauftrag und Experimentierfeld zu sehen. So heißt es in einem 2016 verfassten Papier des Deutschen Bühnenvereins u.a.:

„Das Spielen an außergewöhnlichen Orten kann einen besonderen Reiz sowohl für das Publikum als auch für die Inszenierungsarbeit bedeuten. Nicht immer ist es aber leicht, einen geeigneten Raum zu finden. Der Aufwand, einen theaterfremden Ort in eine Spielstätte umzuwandeln, ist meist hoch. Nicht selten entstehen hierdurch extreme Mehrkosten zum Beispiel aufgrund nicht vorhandener technischer Einrichtungen. [...]
Häufig ist an der neuen Spielstätte kein Repertoirebetrieb möglich. Marketing und Öffentlichkeitsarbeit müssen die Vorteile des Interims hervorheben, damit keine (bzw. möglichst geringe) Einnahmeverluste aufgrund von Publikumsrückgang entstehen. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch die Möglichkeit, neue Zielgruppen zu erschließen, die gerade das Ungewöhnliche schätzen.“ [Krischer / Bolwin 2016]

Welche weiter reichenden Funktionen einer Interimsstätte in städtischer Planung auch zugeordnet werden können, zeigt beispielhaft die Situation in Augsburg, wo zuletzt 2019 die brechtbühne in ein Interim („Ofenhaus“) auf einem aufgelassenen Gaswerkareal umziehen musste. In einer städtischen Mitteilung heißt es:

„Auf dem Gaswerkareal wurde im Januar 2019 die neue brechtbühne eröffnet. [...] Das Theater bietet Platz für 219 Gäste und beherbergt eine eigene Gastronomie. Die Spielstätte wirkt als Impulsgeber für das neu entstehende Kreativquartier auf dem Gaswerkareal. Das Theater im Ofenhaus soll nach der Interimszeit von freien Theatern übernommen werden und so weiterhin für eine Bereicherung am Standort sorgen.“[2]

In dieser Sichtweise auf das Interim werden gleich drei interessante Aspekte, die in verschiedenen Konstellationen auch für andere solche Projekte zutreffen, sichtbar: Interimsspielstätten lassen sich öfter in aufgelassenen Industriearealen finden, die umgenutzt werden (sollen), ihre Nutzung als Kulturstandort dient der Wertsteigerung des Areals und – erfreuliche kulturpolitische Entscheidung in diesem Fall – die Nachnutzung des zunächst als temporär verstandenen Gebäudes und Ortes durch kulturelle Akteure soll gesichert werden.

Nicht zuletzt hängt von einer solchen stadtpolitischen Kontextualisierung des Interims und, natürlich, von der geplanten Dauer des temporären Zustandes ab, wie sich der Umgang der Theater/Künstler*innen mit der veränderten Lage – anderen Räumen, Umgebungen und Arbeitsbedingungen – entwickeln kann. Als interessanter Fall zeigt sich – ohne dass ich in diesem Text genauer darauf eingehen möchte – die Entwicklung rund um das Wuppertaler Schauspielhaus (2013 geschlossen) zu einem Pina Bausch Zentrum (immer noch unklar ist, wann der Baubeginn stattfinden kann). Inzwischen lassen sich auf der Website des in Planung befindlichen Pina Bausch Zentrums einige Projekte verfolgen, die den Leerstand / die Nicht-Nutzung des Theatergebäudes und die lange Zeit der politischen Entscheidungsvertagungen als Interim, als Zwischenzeit, verstehen und in dem Sinne nutzen, dass sie das Gefüge der kulturellen Infrastruktur der Stadt selbst zum Thema machen.[3]

 

Temporär und variabel – das Interim als Form der Zwischennutzung?

Die Diskussion um Zwischennutzung als sinnvolle Stadtentwicklungsinitiative, um Rolle und Kontext ihrer Akteur*innen und um gelungene, erfolgreich sich als Alternative zur Entwicklung des Immobilienmarktes durchsetzende Projekte, wird schon einige Jahre geführt. Anhand und im Kontext der „ZwischenPalastNutzung“ der Bauruine des ehemaligen Palastes der Republik in Berlin habe ich darauf hingewiesen (Büscher 2019). 2014 schrieben die Herausgeber in ihrem Band Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln:

„Zwischennutzer sind Pioniere anderer Raumnutzungen und zunehmend instabiler, entinstitutionalisierter Lebensweisen. Die Entwicklung schlägt sich etwa in den immer schneller wechselnden Beschäftigungsverhältnissen sowie in der Fülle an Freiberuflern, Kleinunternehmern, Teilzeitbeschäftigten nieder. [...] Die gezielte Vernetzung und der Aufbau möglichst breit gefächerter Wissensmilieus gewinnen für den Einzelnen, aber auch für Städte insgesamt an Bedeutung.
[...] Im Politischen und Kulturellen zeichnen sich heutige temporäre Nutzungen durch eine große Permissivität aus. Die Bedeutung der entstehenden Räume und Programme liegt in ihrem zumeist öffentlichen Charakter, der für das jeweilige städtische Leben und damit auch für Identität und Image der jeweiligen Stadt eine wesentliche Rolle spielt.“ [Oswalt, Overmeyer und Misselwitz 2014: 15]

Das Kurzzeitige, Temporäre von Zwischennutzungen lässt die Interventionen und Eingriffe in die Stadtentwicklung eher als Experiment verstehbar und politisch akzeptabel erscheinen, auch wenn die Initiator*innen und Akteur*innen die temporäre Nutzungsmöglichkeit oft nicht als Provisorium verstehen, sondern als etwas, was exemplarisch für längerfristige Veränderungen zu sehen sein möge. Und in diesem Sinne sind Zwischennutzungen in verschiedenen diskursiven Kontexten aber auch in stadtplanerischen Praktiken und Planungen inzwischen selbstverständlicher Teil des Prozesses geworden.[4] Renée Tribble, Gründungsmitglied und Gesellschafterin der Planbude Hamburg (www.planbude.de) sieht in der Urbanen Praxis eine effektive Antwort auf diesen einschränkenden Aspekt des Provisorischen:

„Zwischennutzungen und urbane Interventionen schaffen immer wieder neue Möglichkeiten an neuen Orten in neuen Zeitfenstern – den Lücken der Stadt. Beide gelten heute in der Stadtplanung als strategische Planungstools.[...] Durch ihre zeitliche Begrenztheit sind die mit und durch sie entstehenden Möglichkeitsräume ebenfalls begrenzt, die investierten und etablierten Ressourcen verpuffen. Demgegenüber verwendet Urbane Praxis urbane Interventionen als Methode, indem sie in bestehende Räume eingreift und ‚alternative Realitäten‘ mit lokalen Akteuren ‚koproduktiv‘ und ‚lokal spezifisch‘ herstellt. Die drei Raumebenen materiale Gestalt, soziales Handeln und kultureller Ausdruck werden verknüpft, um auf der normativen Ebene der Planung Veränderung zu erzielen.“ [Tribble 2019: 97]

Was haben solche Überlegungen mit dem Interim, der Interimsspielstätte eines Theaters zu tun? Was könnten sie damit zu tun haben?

Zunächst ist festzuhalten, dass das Interim als Umzugsbewegung einer anderen Bewegungsrichtung folgt als eine Zwischennutzung. Bei Zwischennutzungen sind es leer stehende, ungenutzte Gebäude, die durch Akteur*innen angeeignet, kuratiert, gepflegt, architektonisch adaptiert und – oftmals aufgrund fehlender kultureller und künstlerischer Infrastruktur – kulturell genutzt werden. Das Theater im Interim aber ist gezwungen, seinen angestammten Ort zu verlassen und nach (einem) temporär nutzbaren, (wie auch immer) adäquaten Gebäude(n) zu suchen. Entscheidend für die Bewegung hin zum Interim ist nicht nur die (Aus)Richtung, sondern die Tatsache, dass eine Institution umzieht und sich als Ganze in eine neue Arbeitssituation und Umgebung begeben muss.

Inwiefern die beschriebenen produktiven Aspekte von Zwischennutzung auch im Interim, für Interimsspielstätten von Theatern, relevant werden, darüber entscheidet vor allem das Selbstverständnis der Institution und die Vorstellung der an ihr Beteiligten von Variabilitäten und Veränderungspotential im Verhältnis von Akteur*innen und Publikum, im Umgang mit Medien und Räumen, in Spiel- und Inszenierungsweisen sowie im Umgang mit urbanem Zentrum und anderen Stadtteilen.

 

Im Interim: verschiedene künstlerische und stadtpolitische Strategien als Überschreitung des räumlich Institutionalisierten

Gerhard Preußer hat in seinem eingangs erwähnten Text vor allem untersucht, wo und wie Inszenierungen künstlerisch auf die neuen räumlichen An/Ordnungen reagieren. In der Palette seiner vorgestellten Beispiele steht Dortmund unter dem Stichwort „völlige Flexibilität“ (Preußer 2017, unpag.) als das erfolgreichste der untersuchten Modelle da. Ich möchte im Folgenden – im Wesentlichen anhand des Materials und Textes, das der damalige Dortmunder Dramaturg Dirk Baumann veröffentlicht hat -, dies als ein Beispiel heranziehen und dazu ein zweites Beispiel untersuchen, in dem das Schauspiel Köln im Interim eine Projektkooperation eingegangen ist, die ganz andere Schwerpunkte bearbeitete. Zuletzt möchte ich beide Beispiele durch einen kleinen Ausflug in die Wiener freie Szene ergänzen, deren Produktionshaus brut eine bemerkenswert andere Form von Interim praktiziert/praktizieren musste.

 

Abb. 1: Foto © Djamak Homayoun / Schauspiel Dortmund

 

Abb. 2: Halle vor dem Um/Einbau, Foto © Kay Voges / Schauspiel Dortmund

 

Megatheater im Megastore – Schauspiel Dortmund 2016-2017

Das Schauspiel Dortmund musste zu Beginn des Jahres 2016 sein Theater aufgrund des anstehenden Abrisses und Neubaus des Magazins für ca. zwei Jahre verlassen und fand nach einer längeren Phase des Suchens den Megastore, eine aufgelassene Fanartikel-Halle des BVB, im Stadtteil Hörde als Interimsspielstätte. 4.280 qm ist die Halle insgesamt groß, der Nachhall ist immens und die technische Ausstattung musste improvisiert bzw. mit reduziertem Anspruch erst auf- und eingebaut werden.

Im Verlauf des Umbaus wurden drei Hallen eingezogen: die große Halle ist über 2.000 qm; Megastore 1, die kleine Halle, umfasst immerhin noch 1.500 qm; und Megastore 3 als dritter und kleinerer Spielort wurde mit mobilen Tribünen ausgestattet. Allerdings durften sich aus Brandschutzgründen nie mehr als 200 Zuschauer*innen gleichzeitig aufhalten und wegen der fehlenden akustischen Trennung können die Hallen nicht parallel bespielt werden. Trotz dieser Beschwerlichkeiten – so zitiert und beschreibt Baumann die Haltung der Theatermacher – wird der Raum, die Räume als eine große Chance gesehen:

„Und so ist sich Voges im Oktober 2015, kurz bevor es losgeht im Megastore, sicher: ‚Es werden sich neue Perspektiven für das Theater erschließen.‘ ‚Die beiden Hallen bieten eine ungeheure Flexibilität. Sie erlauben es, das Theaterspiel neu zu denken.‘ Und auch der Technische Leiter Thomas Bohl ist sich sicher: ‚Der Megastore bietet völlig neue künstlerische Möglichkeiten, nicht nur die räumliche Anordnung von Publikum und Bühne, sondern auch neue Möglichkeiten für den Einsatz von künstlerischen Mitteln.‘ Und so werden alternative Ideen gesammelt, wie sich Theater jenseits der Guckkastenbühne denken und spielen lässt. Noch ist alles möglich, der Megastore auch in dieser Hinsicht ein Glücksfall, der so nur wenigen Intendant_innen widerfährt, das weiß auch Voges: ‚Aus künstlerischer Sicht ist das ein Sechser im Lotto.‘ Unter seiner Schlichtheit birgt der Megastore eben auch ein Versprechen auf alternative Bühnenmodelle, auf das Unmögliche, das noch nicht Gedachte, bislang immer nur Geträumte.
Intendanz und Dramaturgie denken fieberhaft darüber nach, welche Projekte sie schon immer realisieren wollten, die aber aufgrund der räumlichen Gegebenheiten des Schauspielhauses am Hiltropwall nicht zu realisieren waren. Kay Voges präsentiert eine noch gar nicht so alte Idee: Schon im Schauspielhaus wollte er einen Theaterabend entwickeln, dessen Bühnenbild zu mehreren Seiten hin offen ist – und bei dem das Publikum nicht den ganzen Abend fest auf einem Platz sitzt.“ [Baumann 2020:  225]

Zentral also ist die Faszination, die die leere, auch unwirtlich aussehende, aber riesig dimensionierte Halle ausübt, die dazu einlädt, Aufführungen in anderen als den üblichen räumlichen Dimensionen und Zuordnungen zu denken. Die erste Inszenierung im Megastore – Das schweigende Mädchen nach einem Text von Elfriede Jelinek zu den NSU-Morden und dem Münchener Prozess – von Michael Simon, Regisseur und Bühnenbildner, verbindet eine installative Anordnung, in der sich das Publikum bewegen kann, mit einem Wechsel zur Tribüne und festen Plätzen ebenso wie eine Öffnung des Bühnenraums in die Weite der Halle. Baumann hat in seinem Text eine Liste von weiteren Inszenierungen beschrieben bzw. benannt, die jeweils neue räumliche Anordnungen versuchen, aber ebenso auch mit dem Guckkasten arbeiten, z. B. so:

„Aber auch die frontale Bühnensituation wird im Megastore 1 umgesetzt: In Gordon Kämmerers Inszenierung Kasimir und Karoline ist nicht nur der Bühnenraum riesig, auch die aufblasbaren Bühnenelemente Weißwürste und Bierzelt, durch das die Schauspieler_innen auf eigens gebauten Elektro-Karts rasen.“ [Baumann 2020: 226]

Im April 2016 findet in der großen Halle die Uraufführung von Borderline Prozession. Ein Loop um das, was uns trennt von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin statt, eine Arbeit, die nur in den Dimensionen dieser Halle realisierbar war (Bühnenbild: Michael Sieberock-Serafimowitsch).

 

Abb. 3: Szenenfoto „Borderline Prozession“,
Foto © Birgit Hupfeld / Schauspiel Dortmund

 

Als Einblick sei hier der Anfang der Rezension von Dorothea Marcus zitiert, der die Raumanordnung und die situative Zuordnung der Zuschauer*innen deutlich macht:

„Wie soll man das im Kopf nur irgendwie klarkriegen: den Terror der gleichzeitigen Ereignisse, die wir uns süchtig permanent medial zuführen. Die einschüchternde Rechthaberei der nebeneinander existierenden Parallelleben. Die zunehmende Unübersichtlichkeit des Lebens bei seiner gleichzeitig wachsenden Totaltransparenz. Schöne neue Welt.
Der Dortmunder Intendant Kay Voges versucht, ihr in seiner neuen Arbeit Die Borderline Prozession in einer Art Gesamtkunstwerk, einer gewaltigen Musik-, Kunst-, Theater- und Filminstallation beizukommen. Zunächst darf der Zuschauer in der großen Megastore-Halle, [...] noch selbst herumgehen und die Bühne bewundern: eine detailreich ausgestattete Villa mit zehn Zimmern in gediegenem Mittelstands-Retro-Schick. Auf der einen Zuschauerseite liegen die Innenräume: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, Dachterrasse, Garten, Fitnesskeller. Auf der anderen Seite sind die grauen, einsamen Außenräume: Bushaltestelle, Parkplatz, Kiosk. Man kann selbst entscheiden, welchen Ausschnitt man mit eigenen Augen sieht, darf die Perspektive jederzeit frei wechseln. Und dann beginnt eine Prozession mit 23 Darstellern ums Haus, als wollten sie die irre gewordenen Weltgeister bannen.“ [Marcus 2016]

 

Mit dieser Produktion wurde Schauspiel Dortmund zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen. Auch das kann man als Ausweis für eine erfolgreiche künstlerische Aneignung der anderen Räume und Dimensionen ansehen, wie sie Preußer konstatierte. Die Arbeitsbedingungen waren für alle Beteiligten ausgesprochen schwierig, auch darüber schreibt Dirk Baumann im zitierten Text, und von der Tatsache, dass „irgendwann die infrastrukturellen Nachteile die Attraktivität der künstlerischen Möglichkeiten überwiegen“ [Baumann 2020: 232]. Aber es bleibt nach seiner Auffassung die Erfahrung, dass räumliche Flexibilität, offene und variable Architekturen andere künstlerische Anordnungen ermöglichen, die die zentralperspektivische Ausrichtung der meisten Theater durch Multiperspektiven, Parcours, Installationen und weitere Formate ergänzen. Keine Rolle spielte für die künstlerische Arbeit im Megastore die Lage und die Nachbarschaft der Halle. Preußer hält dazu fest:

„Lokale Verankerung war nicht Voges‘ Ziel, angesichts der kürzeren Umbauphase verständlich. So grüßen die rostigen Hochofentürme nur als bezugslose Reminiszenzen herüber zur ehemaligen BVB-Fan-Artikel-Halle.“ [Preußer 2017, unpag.]

Auf meine Nachfrage hat mir Dirk Baumann erläutert, dass die Aspekte von Lage und Nachbarschaft für die Auswahl des Interims keine Rolle spielen konnten, da die Suche nach einer Spielstätte unter Zeitdruck stattfand. Zudem befand sich der Megastore in einem Gewerbegebiet, zwar unweit des Phoenix West-Geländes mit seinem charakteristischen Hochofen und umliegendem Entwicklungsgebiet, die unmittelbaren Nachbar*innen waren aber Autohäuser, Kleingärten und WILO, ein Pumpenhersteller aus Dortmund. [Baumann, Email an die Autorin vom 11.12.20]

 

„Die Stadt von der anderen Seite sehen“ – ein Projekt im Kontext des Interims von Schauspiel Köln

Auf der produktiven künstlerischen Auseinandersetzung mit anderen Teilen der Stadt(gesellschaft) und einer veränderten Nachbarschaft, die für das Dortmunder Interim keine Rolle spielte, lag der Fokus in einem Kooperationsprojekt von Eva-Maria Baumeister und Isabel Finkenberger, Künstlerin die eine und Stadtplanerin die andere, mit Schauspiel Köln.

Die Geschichte der Sanierung der Städtischen Bühnen Köln – Opernhaus und Schauspielhaus – beginnt 2006, sagt die offizielle Darstellung[5]. 2010 gab es eine Wende in der Planung, als ein Bürgerbegehren gegen den Abriss und Neubau des Schauspielhauses schließlich erfolgreich war, indem der Rat der Stadt dem Erhalt zustimmte. 2012 begann die Sanierung und das Schauspiel bezog als Interim bis zum Ende der Spielzeit 2012/13 eine innenstadtnahe Spielstätte. Danach und seitdem bespielt das Schauspiel als Interim Depot 1 (600 Plätze) und Depot 2 (etwa 250 Plätze) auf dem Gelände des ehemaligen Carlswerks in Köln-Mülheim, in einer freistehenden Produktionshalle des ehemaligen Kabelherstellers Felten & Guilleaume. Die beiden Hallen können parallel bespielt werden und sind durch ein Foyer miteinander verbunden. Zur Spielzeit 2013/14 übernahm Stefan Bachmann die Intendanz des Schauspiels. Aktuell ist die Rückkehr in das sanierte Haus für 2023 geplant.

Im Spielzeitheft 2013/14 des Schauspiel Köln wird das Interim und seine Nachbarschaft vorgestellt, die Rückkehr ins sanierte Haus im Zentrum erwartete man damals für 2015.

„Das DEPOT ist ein Ort mit symbolträchtiger Geschichte: Hier wurde 1904 das erste transatlantische Telefonkabel hergestellt, das Europa mit Nordamerika verband. Und hier wurden die Seile gezogen, die die rechte und linke Hälfte Kölns zusammenbinden: sowohl die Tragseile für die Mülheimer als auch für die Rodenkirchener Brücke entstanden hier. Verbindungen herzustellen, wird nun auch die Aufgabe des neuen Schauspiels sein: Verbindungen zwischen dem Theater selbst und seinen Zuschauern, die eingeladen sind zu einer erlebnisreichen Theaterreise ins Rechtsrheinische. Zwischen den verschiedenen Stadtteilen Kölns [...]. Und nicht zuletzt zwischen dem Theater und seiner neuen Nachbarschaft. Denn die könnte kaum vielfältiger und lebendiger sein: die Studios von Brainpool, in denen Stefan Raab seine Fernsehshows aufzeichnet, sowie der Hauptsitz des Bastei-Lübbe-Verlages sind unmittelbar nebenan. Auch E-Werk, Palladium und die Studios von Harald Schmidt befinden sich nah am anderen Ende des Geländes. Noch bunter ist das Quartier drumherum: Die Keupstraße mit ihren türkisch geprägten Geschäften und Restaurants grenzt direkt ans Carlswerksgelände, ebenso das alte Arbeiterviertel von Mülheim mit seiner Gründerzeitarchitektur. All dies wird die Theaterarbeit beeinflussen und prägen; und das DEPOT in Mülheim zu einem neuen kulturellen Zentrum machen, von dem aus das Theater in die Stadt hinaus sendet. Ein Zentrum, in dem Künstler und Zuschauer einander begegnen, Theatermacher auf Kiezbewohner treffen und Kölner auf Kölner.“ [Spielzeitheft 2013/14, 95-100]

Neben das ‚gewohnt große Theater im Repertoirebetrieb‘, das in der Selbstdarstellung und Positionierung zum Interim als erstes erwähnt wird, stellt die neue Leitung, wie hier als Anspruch formuliert, explizit die Auseinandersetzung mit dem anderen Teil der Stadt in den Fokus ihrer künstlerisch-kuratorischen Konzeption. In der Planung für 2014 finden sich zwei Projekte, die sich mit der Nachbarschaft und der neuen Spielstätte beschäftigen: eine Stückentwicklung, in der sich Autor Jan Neumann mit der Geschichte des Unternehmens, dessen Produktionsstätte man nun bespielt, in zwei Teilen auseinandersetzt (Carls Werk) und ein Recherche-Projekt des Regisseurs Nuran David Calis zum 10. Jahrestag des NSU-Nagelbombenattentats in der Keupstrasse (Die Lücke. Ein Stück Keupstrasse).

 

Abb. 4/5: Foto © Ana Lukenda/ Schauspiel Köln

 

In und für den Interims-Kontext entwerfen die beiden Künstlerinnen / Planerinnen Eva-Maria Baumeister und Isabel Finkenberger dann ein Kooperationsprojekt mit dem Schauspiel Köln, das im Rahmen des Projektaufrufs „Zusammenleben in der Stadt“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) für zwei Jahre, von 2015 bis 2017, gefördert wurde. „Die Stadt von der anderen Seite sehen“ war Pilotprojekt der Nationalen Stadtentwicklungspolitik des Bundes.[6]

„Um die bisherige Beschäftigung und fruchtbare Zusammenarbeit mit der Nachbarschaft einen Schritt weiterzutreiben, wurde ‚Stadt sehen‘ als kooperatives Projekt vom Schauspiel Köln und der Sozialraumkoordination Mülheim-Nord und Keupstrasse konzipiert. In dieses dezidiert eingeschrieben wurde der interdisziplinäre Zugang und – neben der bisherigen theatralen – eine stadtplanerische Perspektive integriert. Ziel war, den damaligen Fokus des Schauspiel Köln auf die Keupstrasse und deren Themen auf den ganzen Stadtteil auszuweiten und die dort immanenten Fragestellungen zu bearbeiten. Insbesondere der analytische Blick der Stadtplanung, aber auch das In-Beziehung-Setzen des Schauspiels zu den zahlreichen anderen Kontexten und Nachbarschaften sollte den theatralen Ansatz nun in einen breiten gesellschaftlichen und zugleich ortsbezogenen Diskurs einbetten.“ [Finkenberger 2018a: 211]

So beschreibt Finkenberger den Ansatz des Projektes aus der Rückschau. An anderer Stelle fasst sie den Prozess zusammen:

„Fasst man den Prozess von Stadt sehen zusammen, liest sich das Projekt wie folgt: Wir begannen mit dem Kennenlernen, schauten uns die Dinge genau an, kristallisierten Themen heraus und machten uns auf den Weg. Im Laufe dieses Prozesses wurden neue künstlerische Formate entwickelt, stießen viele Künstler*innen und (lokale) Expert*innen dazu, fanden unterschiedliche Veranstaltungen und Testphasen statt. Als Abschluss führten wir im Juli 2017 ein mehrtägiges Festival durch, um Die Stadt der Zukunft zu bauen.“ [Finkenberg 2018b: 92]

Bestandteil dieses Prozesses waren drei theatrale Konferenzen unter den Titeln „Aufbruch in die Zukunft“ (März 2016), „Im Blick zurück entstehen die Dinge“ (Oktober 2016) und „Stadt und Theater Denken“ (November 2016) sowie das abschließende oben erwähnte Festival und Grande Finale (9.6.-2.7.2017). Insbesondere in den zwei als Dokumentationen dieses Prozesses veröffentlichten Publikationen lassen sich zentrale Fragen finden, die das Projekt aufgeworfen und im Gespräch mit Bewohner*innen des Stadtteils und eingeladenen Künstler*innen ausgearbeitet hat. Der eine Pool von Fragen und Beobachtungen richtet sich auf das neue Zusammenspiel von Theater und Stadtplanung, auf die im doppelten Wortsinn verstandene Verortung des Theaters als Institution, die durch das Interim explizit zum Thema geworden ist. In der Publikation zur Konferenz „Stadt und Theater Denken“ heißt es u.a. in These 6:

„Beim Theatermachen stellt sich zentral die Frage der Verantwortung der Institution Theater gegenüber der Stadtgesellschaft. Was kann das Theater und seine Spielstätten als öffentlicher Ort leisten? Welche Verantwortung liegt auch darin, nicht Kultur- und Stadtentwicklungsdienstleister zu sein oder zu werden, sondern sich Autonomie und Eigenständigkeit zu bewahren?
[...] Behauptet das Stadttheater seine Position in den zentralen (und nachgefragten) Innenstadtlagen? Oder sucht es aktiv die peripheren Räume? Lässt sich beides verbinden, und kann das Theater gar ein Modell für neue, offenere Zentrums-Peripherie-Strukturen sein?“ [Baumeister, Finkenberger und Herrndorf 2016: 19]

Zu dieser Konferenz waren u.a. Theaterprojekte und Kulturinitiativen aus Wales, Brüssel, Hamburg und Wuppertal eingeladen, um die das Lokale überschreitende Arbeit an solchen Fragen sichtbar zu machen.[7]

Die zweite Publikation, die in Zusammenhang mit Abschlussfestival und Debatte „Die Stadt von Morgen“ erschien, eröffnet unter dem Titel Eine AGORA für Mülheim. Ein konkret-utopisches Manifest eine konkrete stadtplanerische Perspektive für einen ‚anderen öffentlichen‘ Ort im Stadtteil Mülheim, der in besonderer Weise eine Schwelle markiert und als solche durch die Stadtgesellschaft angeeignet werden könnte – so zumindest die konkrete Utopie, die der Titel annonciert. Es handelt sich um das Areal rund um die Mülheimer Brücke, die die beiden durch den Rhein getrennten Stadtseiten verbindet.

„Das im Rahmen des Projektes behauptete Labor für die Stadtgesellschaft von Morgen hat seinen Kristallisationspunkt gefunden – die Möglichkeit für ein zukunftsweisendes und ganz reales Reallabor, eine Ideenschmiede und Katalysator gleichermaßen – eben eine AGORA für Mülheim. Und der Zeitpunkt ist gut: die Mülheimer Brücke wird ab Herbst 2017 mit fünfjähriger Projektlaufzeit saniert.“ [Baumeister, Finkenberg und Schauspiel Köln 2017: 5]
„Mülheim ist ein Stadtteil mit einer sehr diversen und heterogenen Bewohnerschaft [...], ein Stadtteil, der den frei zugänglichen öffentlichen Raum als Schlüsselmoment des gesellschaftlichen Miteinanders braucht, in dem man sich trifft, sich wahrnimmt, sich kennenlernt, miteinander redet und debattiert. [...]
Das Areal um die Mülheimer Brücke ist dafür prädestiniert. Er ist Zentrum und Peripherie, identitätsstiftender Bezugspunkt und Ort des Übergangs und der Verbindung gleichermaßen. Der zentrale Außenraum und Festplatz liegt unter der Brücke versteckt und geschützt, öffnet sich aber zugleich zum Rhein mit Blick auf die Kölner Innenstadt. Die Innenräume bieten Rückzugsmöglichkeiten, während sich ihre Arkaden zu beiden Seiten zu den Grünflächen öffnen [...]. Wo, wenn nicht hier, steckt das Potenzial für einen öffentlichen Raum als Ort der Begegnung und der Zusammenkunft, als Ort der Inspiration und als Katalysator für den ganzen Stadtteil?“ [Baumeister, Finkenberg und Schauspiel Köln 2017: 10]

Das Brückenareal und das Rheinufer waren von Beginn des Projektes an ein Ort des Zusammentreffens und des Beziehungen-Stiftens, Aufführungsort während des Festivals und Ausgangspunkt einer nächtlichen Expedition auf die andere Seite. Nicht zuletzt, aber dann doch mit der Zeit auf der Strecke geblieben, war bereits 2009 auch in den Planungen der Stadt von einer ‚Kulturbrücke‘ die Rede (ebenda, 18).

Ohne dass ich hier im Einzelnen die Projektstrategien untersuchen kann, scheint mir wesentlich und bemerkenswert an dieser Verbindung von theatraler, künstlerischer Aktion und Recherche mit konzeptionellen Überlegungen zur Stadtplanung und der Moderation von Debatten vor Ort,

  • wie sehr das Interim des Theaters den Blick für neue Nachbarschaften, für die Überschreitung der traditionellen Lokalisierung von Kunstinstitutionen allein im Stadtzentrum öffnen kann;
  • dass in diesem Zusammenhang Prozesse von Kommunikation, Austausch und Aushandlung mit den Bewohner*innen initiiert werden, die Fragen nach öffentlichen Orten für kulturelles Zusammentreffen aufgreifen;
  • dass in der Bespielung des Brückenareals die Idee des ‚Schwellenreitens‘ in einer ganz konkreten Dimension Gestalt annehmen konnte.

Leider mussten die Projektinitiatorinnen letztlich doch feststellen, dass die angestoßenen Prozesse nicht in der bisherigen Kooperation weitergeführt und die zahlreichen Ideen zur Verbindung von Aufführungsorten und stadtplanerischen Perspektiven nicht weiter ausgearbeitet werden konnten. 2019 schrieben sie resümierend u.a.:

„[...] gilt es jetzt abseits des Dokumentierens die begonnene und wichtige Debatte weiterzutreiben, sich neue Verbündete zu suchen und Themen auf die Tagesordnung zu setzen, die seit vielen Jahren schwelen und neu gedacht und angegangen werden müssen.
Die Betonung liegt hier auf neue Verbündete: Das Schauspiel Köln hat sich nach Ende der Projektlaufzeit dazu entschlossen, den begonnenen Prozess des den Stadtteil Infiltrierens zu beenden und zum Repertoire-Spielbetrieb zurückzukehren. Allein der Standort im rechtsrheinischen Mülheim bleibt dem Haus wohl noch für einige Jahre erhalten.“ [Finkenberger, Baumeister und Koch 2019: 14]

 

Temporär und beweglich – das Interim zwischen Nomadisieren und ‚Schwellenreiten‘[8]

Auch die freie Theater/Tanz/Performance-Szene und ihre Produktionsorte sind gelegentlich mit Interimssituationen konfrontiert, wie es die Wiener Spielstätte brut Wien erfahren musste. 2015 übernahm Kira Kirsch die Leitung des Hauses und musste zugleich die angestammte Spielstätte im Künstlerhaus am Karlsplatz wegen Renovierungsarbeiten verlassen. Seit 2016 arbeitet das brut nomadisierend an immer wieder neuen Orten und hat es in sechs Jahren unter dem Motto „brut all over Vienna“ auf 90 Spielstätten gebracht, die auf der Website in einer interaktiven Karte dargestellt werden[9]. Diese besondere und besonders umfängliche Bewegung durch die Stadt ist zunächst den sich ständig verändernden Parametern des Aus- und Umzugs geschuldet, wie Kirsch in einem Interview mit c/o vienna erläuterte[10].

 

Abb. 9: Ingri Fiksdal „Diorama“ in der Seestadt Aspern, Foto © Lorenz Seidler

 

Abb. 10: Thomas Jelinek/ Jorge Sánchez-Chiong, „WASCHSALON – ENTROPY“ im Waschsalon im Matteottihof, Foto © Erli Grünzweil

 

Zu meinen Fragen bezüglich des kuratorischen Aspektes der Entscheidungen hat Kira Kirsch mir geantwortet:

„In meinem kuratorischen Konzept für brut waren allerdings seit Beginn meiner Intendanz ab 2015 neben Produktionen im Theaterraum auch ortsspezifische Projekte vorgesehen. Meine erste Spielzeit 2015 haben wir etwa mit einem Projekt der schweizerischen Gruppe mercimax mit einem Autoballett vom Karlsplatz bis nach St. Marx eröffnet und Ann Liv Young und Marino Formenti haben über mehrere Wochen hinweg in einem leerstehenden Ladenlokal im 2. Bezirk Besucher*innen empfangen. Nach dem erzwungenen Auszug aus dem Künstlerhaus wurde dieses Konzept unter dem Motto ‚brut all over Vienna‘ nochmals erweitert. Wir haben in den vergangenen Jahren viele ortsspezifische Projekte realisiert, bspw. in einem Schwimmbad, in verschiedenen Museen oder etwa in einem Stadtheurigen. Es wurden in der Zeit aber auch weiterhin Produktionen in diversen Theater- und Bühnenräumen in Wien realisiert. In Ermangelung einer Hauptspielstätte mussten wir uns hierfür immer wieder neue Kooperationen und Orte erschließen. Wir haben in den letzten Jahren eine große Expertise im Entdecken und Einrichten von Räumen für den Theater-, Tanz- und Performancebetrieb entwickelt. Der Charakter des Viertels und die Nachbarschaft spielen definitiv eine Rolle bei der Raumwahl, auch darüber haben wir immer wieder neue Zuschauer*innen erreicht. Es war uns ein Anliegen, in vielen verschiedenen Bezirken zu spielen. [Kira Kirsch, Email an die Autorin vom 19. Dezember 2020]

Als gelungene Beispiele für verschiedene Aspekte von site specific Arbeiten nannte sie mir u.a.:

„Um drei Beispiele zu nennen: Mit der norwegischen Choreografin Ingri Fiksdal haben wir ein Projekt in der Seestadt Aspern[11] realisiert, in einem neuen Stadtentwicklungsgebiet am Rande Wiens, mit Thomas Jelinek und dem Komponisten Jorge Sánchez-Chiong haben wir ein Projekt im Waschsalon eines Gemeindebaus auf die Beine gestellt[12] und mit Club Real haben wir in einem Gewächshaus ein temporäres Gartenparlament gegründet.“ [Kira Kirsch, Email an die Autorin vom 19. Dezember 2020]

Oder eben als eine kontinuierliche Form der Arbeit am anderen Ort:

„Wir arbeiten beispielsweise seit langem mit der Gruppe irreality.tv, einer Plattform für ortsspezifische und partizipative DIY Fernsehprojekte. irreality.tv hat bereits mehrmals über Wochen hinweg in Gemeindebauten in Wien Projekte mit brut realisiert[13]. Diese Produktionen haben einen ganz besonderen Reiz, der Prozess der Zusammenarbeit steht im Vordergrund, Bewohner*innen vor Ort werden in künstlerische Prozesse mit einbezogen.“ [Kira Kirsch, Email an die Autorin vom 19. Dezember 2020]

Als wesentliche Fragen für weiterführende Diskurse und Recherchen bleiben: Wie sehr machen ortsspezifische Projekte, die sich künstlerisch mit räumlichen, sozialen und Gebrauchsaspekten von anderen Orten auseinandersetzen, ein Andocken an neue Nachbarschaften möglich? Kann dies ihr Ziel sein, wenn sie nur für eine relativ kurze Zeit vor Ort arbeiten und präsentieren, vielleicht auch das Publikum ‚mitbringen‘? Oder: bedarf es nicht einer gewissen Kontinuität, Kooperation und unmittelbaren Adressierung vor Ort, um Prozesse zu initiieren und um interdisziplinär – dann nicht nur verschiedene Künste, sondern auch verschiedene Wissensfelder des (stadt)gesellschaftlichen Lebens betreffend – zu arbeiten?

 

Abb. 11: Irreality.tv, „Der Ring des Nibelungenviertels“,
Foto © irreality.tv

 

Die Positionen dazu, wie man in und durch eine Interimssituation agieren kann, reichen von der künstlerischen Aneignung bestimmter Qualitäten und Gebrauchsspuren der nicht für die Künste / Theater gebauten Häuser und Orte, deren Integration in ein Inszenierungs- oder Aufführungskonzept bis hin zu programmatischen Erweiterung von Themen, Orten, Adressierungen in Hinblick auf neue Nachbarschaften sowie der Befragung der städtischen kulturellen Infrastruktur. Schwellen / Räume können dabei eine zentrale Bedeutung gewinnen, in dem Sinne, wie sie z. B. Sophie Wolfrum oder Stavros Stavrides verstehen:

„Thresholds make bearable the presence of borders and, moreover, assign to them a positive connotation through architecturally defining a space that belongs to two spheres simultaneously. [...] Thresholds are spaces of passage – we are still here while being already there; we participate in two different spheres, but their relationship and presence shifts with each step we take.“ [Wolfrum 2018: 3]

Schwellen werden als Orte der Aushandlung und Beweglichkeit gesehen, die nicht nur abgrenzen, sondern auch verbinden. Und sie könnten als Raum eingerichtet werden, in dem Gemeinsamkeiten (common grounds[14]) verschiedener Sphären zu- und miteinander ebenso wie deren Differenzen artikuliert werden. Welche Bedeutung diese Idee und Haltung für die Zugänglichkeit kultureller Orte und von Räumen für die Kunst in und durch die nicht nur städtische Gesellschaft hat, wo welche Praktiken im Kontext von Aufführungen erprobt werden – das wird Gegenstand weiterer Untersuchungen im Rahmen unserer Forschungen zu (beweglichen) Architekturen der Aufführungskünste sein.

 

 



[1] Zitiert nach der Presseerklärung von Marion Harnack, Norbert Müller-Schöll, Philipp Oswalt und Carsten Ruhr, Initiator*innen einer „Petition zu Erhalt und Zukunft der Städtischen Bühnen Frankfurt“, die am 17.4.2020 per Email versandt wurde. Ähnlich heißt es in einem Bericht der Stabsstelle Städtische Bühnen Frankfurt vom 10.2.20: „Damit die Oper den Großteil ihres Repertoires aufführen kann, bedarf es im Interim einer Drehscheibe mit demselben Durchmesser der jetzigen großen Drehbühne am Willy-Brandt-Platz von 38,5 Metern.“ (S. 11) Siehe:
https://kultur-frankfurt.de/download/4453/Bericht_der_Stabsstelle_Zukunft_der_St%C3%A4dtischen_B%C3%BChnen_Februar_2020.pdf.aspx, 26.12.20
[3] So z. B. das Projekt „Wohnen in der Politik“ (drei Wochen im Schauspielhaus mit zehn Räumen für die zehn Wuppertaler Stadtbezirke, https://www.wohnen-in-der-politik.de/, 25.12.20), die Veranstaltungsreihe „Under Construction“ ( https://under-construction-wuppertal.de/, 25.12.20) oder das größer ausgelegte Projekt „Forum Wupperbogen“, in dem es u. a.um eine institutionskritische Befragung des geplanten Zentrums und eine (dezentrale) Kooperation mit unterschiedlichen kulturellen Akteur*innen der Stadtgesellschaft gehen soll, siehe: https://www.pinabauschzentrum.de/konzept/forum, 25.12.20.
[4] Siehe dazu für Berlin z. B. Hauser 2020: 44-45.
[5] Siehe dazu die Timeline auf der Seite der Bühnen der Stadt Köln zur Sanierung: https://sanierung.buehnen.koeln/de/timeline, 26.12.20. Auf dieser Seite findet man auch eine Liste der notwendigen Arbeiten, eine interaktive Karte und ein monatlich erscheinendes Magazin, das über den Stand der Sanierung informiert.
[6] Die Informationen stammen von und sind mit anderen, u.a. den dazu veröffentlichten Publikationen, hier einsehbar: https://studioifplus.org/die-stadt-von-der-anderen-seite-sehen/, 25.12.20.
[7] An dieser Stelle sollten eigentlich Fotos aus dem Projekt Aspekte von dessen Arbeit veranschaulichen. Leider hat die Pressestelle von Schauspiel Köln, die Nutzung nicht erlaubt, da das Projekt nicht repräsentativ für das Interim sei.
[8] Mit diesem Begriff betitelte Isabel Finkenberger einen auswertenden Text zum Begriff – ich finde ihn sehr passend, deswegen ist er hier übernommen. Schwellen werden von ihr – wie ich es weiter unten von Wolfrum und Stavrides zitiere – als Räume des produktiven Dazwischen verstanden, in denen man sich souverän hin- und herbewegen will, wie es im implizit referierten Wellenreiten der Fall ist.
[9] Die Karte und einige Infos zu Spielstätten und Produktionen findet man unter: https://brut-wien.at/de/brut-all-over-Vienna/brut-all-over-Vienna, 26.12.20
[10] Das (undatierte) Interview findet man hier: http://www.co-vienna.com/de/leute/die-brut-intendantin/, 26.12.20
[13] Siehe z.B. die Produktion „Ring des Nibelungenviertels“, die auch auf dem nachfolgenden Bild zu sehen ist: https://brut-wien.at/de/Programm/Kalender/Programm-2017/2017_01_Jaenner-2017/irreality.tv_Galapremiere-DER-RING-DES-NIBELUNGENVIERTELS 28.12.20
[14] Siehe zu dem Thema des Zusammenhangs zwischen Schwellen und gemeinsamen Orten und Räumen der Stadt: Stavrides 2018: 18-26.

 

 

Literatur
Baumann, Dirk. „Unendliche Weiten des Raums. Erinnerungen an zwei Jahre MEGASTORE“. In: Schauspiel Dortmund (Hg.). Schauspiel Dortmund 2010-2020. Dortmund 2020: 222-237.
Baumeister, Eva-Maria und Isabel Finkenberger (Red.), Schauspiel Köln (Hg.). Eine AGORA für Mülheim. Ein konkret-utopisches Manifest. Köln 2017, siehe: https://studioifplus.org//wp-content/uploads/2018/05/Schauspiel-Koeln_Eine-AGORA-fuer-Muelheim.pdf, 26.12.20.
Baumeister, Eva-Maria, Isabel Finkenberger und Martin Herrndorf (Red.), Schauspiel Köln (Hg.). Stadt und Theater Denken. Über Strategien und Handlungsanweisungen von Theater zwischen Stadtplanung und Kunst. Köln 2016, siehe: https://studioifplus.org//wp-content/uploads/2018/05/Schauspiel-Koeln_Stadt-und-Theater-Denken.pdf, 26.12.20.
Büscher, Barbara. „1969 – 1964 – 2004...Mobile Spielräume und urbane Paläste“, in: MAP #10, Oktober 2019, http://www.perfomap.de/map10/modellieren/mobile-spielraeume-und-urbane-palaeste, 26.12.2020.
Finkenberger, Isabel, Eva-Maria Baumeister und Christian Koch. „Komplement und Verstärker. Wandel gestalten durch neue Allianzen“. In: dieselben 2019: 10-33.
Finkenberger, Isabel Maria. „Schwellenreiten. Potenzial neuer Handlungs- und Planunspraxis“. In: Margitta Buchert (Hg.). Prozesse reflexiven Entwerfens. Berlin 2018 (a): 209-224.
Finkenberger, Isabel. „Die Stadt als städtisch-theatrale Versuchsanordnung: Wie wollen wir in Zukunft leben und welche Stadt brauchen wir dafür?“ In: Marius Förster u.a. (Hg.). Un/Certain Futures. Rolle des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Bielefeld 2018 (b): 86-94.
Finkenberger, Isabel Maria, Eva-Maria Baumeister und Christian Koch (Hg.). Komplement und Verstärker / Amplifier and Complement. Zum Verhältnis von Stadtplanung, künstlerischen Praktiken und Kulturinstitutionen. Berlin 2019.
Hardung, Janina. „Das Drama mit der Sanierung“. In: Mannheimer Morgen, 18.7.2017.
Hauser, Susanne. „Kunst, Kultur und Stadt. Berlin nach 1989. Eine Skizze“. In: Birgit Eusterschulte u.a. (Hg.). Neuverhandlungen von Kunst. Diskurse und Praktiken seit 1980 am Beispiel Berlin. Bielefeld 2020: 35-54.
Krischer, Tanja und Rolf Bolwin / Deutscher Bühnenverein. Qualitätssicherung bei komplexen Sanierungen vornehmlich öffentlich getragener Theater. Unveröffentlichte Ausarbeitung. 2016.
Oswalt, Philipp, Klaus Overmeyer und Philipp Misselwitz (Hg.). Urban Catalyst. Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln. Berlin 2014.
Preußer, Gerhard. „Freiräume. Im Interim – Zur Ästhetik und Politik von Ausweichspielstätten“. In: Nachtkritik vom 4.10.2017, unter: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14464:interimsspielstaetten-zur-aesthetik-und-politik-der-ausweichspielstaetten&catid=101&Itemid=84, 28.12.20.
Schauspiel Köln. Spielzeit 2013/14, unter: https://issuu.com/schauspielkoeln/docs/schauspielkoeln.de, 26.12.20.
Stavrides, Stavros. „Common Spaces. Die Stadt als Gemeingut“. In: ders. und Mathias Heyden. Gemeingut Stadt. Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart von Stadt 4. Berlin 2018: 14-58.
Tribble, Renée. „Make the Gap. Alternative Ways of Urban Development“. In: Finkenberger, Baumeister und Koch 2019: 96-101.
Wolfrum, Sophie. „Still Here while Being There – About Boundaries and Thresholds“. In: Sophie Wolfrum, Heiner Stengel, Florian Kurbasik u. a. (Hg.). Porous City. From Metaphor to Urban Agenda. Basel 2018: 60-63.

 

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