Einstweilen im Dazwischen – das Interim als Möglichkeit, andere Umgebungen zu erschließen und variable Räume zu erproben
Barbara Büscher (Köln / Leipzig)
Durch Rekonstruktion, Umbau und Renovierung / Erweiterung sind oder waren eine Reihe von städtischen und staatlichen deutschen Theatern in den letzten Jahren gezwungen, sich im Interim mit anderen Standorten, neuen Umgebungen und variablen Raumaufteilungen in großen Hallen auseinanderzusetzen. Gerhard Preußer hat 2017 für einige Beispiele (Köln, Düsseldorf, Dortmund und Bonn) thematisiert, wie unterschiedlich der Umgang der verschiedenen Häuser mit der vermeintlichen ‚Notlösung‘ sein kann (Preußer 2017). Im gleichen Jahr veröffentlichte der Mannheimer Morgen eine kleine Liste von bereits sanierten oder sanierungsbedürftigen Theatern (Hardung 2017), als da sind und waren: Nationaltheater Mannheim, Theater Heidelberg, Badisches Staatstheater Karlsruhe, Staatstheater Mainz und Staatstheater Darmstadt. Aktuell beschäftigt die Auseinandersetzung um Sanierung oder Neubau der Frankfurter Bühnen auch die Frage nach Standort und Kosten des Interims, für das vor allem die Oper die Idee einer möglichst vollständigen Nutzung vorhandener Bühnenbilder verfolgt.
Das ist die eine Seite der möglichen Bandbreite von Ideen und Konzeptionen zum Umgang mit Interimsspielstätten, an deren anderem Ende die Vorstellung stehen kann, die erforderlichen räumlichen und ortsbezogenen Änderungen als Rechercheauftrag und Experimentierfeld zu sehen. So heißt es in einem 2016 verfassten Papier des Deutschen Bühnenvereins u.a.:
Häufig ist an der neuen Spielstätte kein Repertoirebetrieb möglich. Marketing und Öffentlichkeitsarbeit müssen die Vorteile des Interims hervorheben, damit keine (bzw. möglichst geringe) Einnahmeverluste aufgrund von Publikumsrückgang entstehen. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch die Möglichkeit, neue Zielgruppen zu erschließen, die gerade das Ungewöhnliche schätzen.“ [Krischer / Bolwin 2016]
Welche weiter reichenden Funktionen einer Interimsstätte in städtischer Planung auch zugeordnet werden können, zeigt beispielhaft die Situation in Augsburg, wo zuletzt 2019 die brechtbühne in ein Interim („Ofenhaus“) auf einem aufgelassenen Gaswerkareal umziehen musste. In einer städtischen Mitteilung heißt es:
In dieser Sichtweise auf das Interim werden gleich drei interessante Aspekte, die in verschiedenen Konstellationen auch für andere solche Projekte zutreffen, sichtbar: Interimsspielstätten lassen sich öfter in aufgelassenen Industriearealen finden, die umgenutzt werden (sollen), ihre Nutzung als Kulturstandort dient der Wertsteigerung des Areals und – erfreuliche kulturpolitische Entscheidung in diesem Fall – die Nachnutzung des zunächst als temporär verstandenen Gebäudes und Ortes durch kulturelle Akteure soll gesichert werden.
Nicht zuletzt hängt von einer solchen stadtpolitischen Kontextualisierung des Interims und, natürlich, von der geplanten Dauer des temporären Zustandes ab, wie sich der Umgang der Theater/Künstler*innen mit der veränderten Lage – anderen Räumen, Umgebungen und Arbeitsbedingungen – entwickeln kann. Als interessanter Fall zeigt sich – ohne dass ich in diesem Text genauer darauf eingehen möchte – die Entwicklung rund um das Wuppertaler Schauspielhaus (2013 geschlossen) zu einem Pina Bausch Zentrum (immer noch unklar ist, wann der Baubeginn stattfinden kann). Inzwischen lassen sich auf der Website des in Planung befindlichen Pina Bausch Zentrums einige Projekte verfolgen, die den Leerstand / die Nicht-Nutzung des Theatergebäudes und die lange Zeit der politischen Entscheidungsvertagungen als Interim, als Zwischenzeit, verstehen und in dem Sinne nutzen, dass sie das Gefüge der kulturellen Infrastruktur der Stadt selbst zum Thema machen.[3]
Temporär und variabel – das Interim als Form der Zwischennutzung?
Die Diskussion um Zwischennutzung als sinnvolle Stadtentwicklungsinitiative, um Rolle und Kontext ihrer Akteur*innen und um gelungene, erfolgreich sich als Alternative zur Entwicklung des Immobilienmarktes durchsetzende Projekte, wird schon einige Jahre geführt. Anhand und im Kontext der „ZwischenPalastNutzung“ der Bauruine des ehemaligen Palastes der Republik in Berlin habe ich darauf hingewiesen (Büscher 2019). 2014 schrieben die Herausgeber in ihrem Band Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln:
[...] Im Politischen und Kulturellen zeichnen sich heutige temporäre Nutzungen durch eine große Permissivität aus. Die Bedeutung der entstehenden Räume und Programme liegt in ihrem zumeist öffentlichen Charakter, der für das jeweilige städtische Leben und damit auch für Identität und Image der jeweiligen Stadt eine wesentliche Rolle spielt.“ [Oswalt, Overmeyer und Misselwitz 2014: 15]
Das Kurzzeitige, Temporäre von Zwischennutzungen lässt die Interventionen und Eingriffe in die Stadtentwicklung eher als Experiment verstehbar und politisch akzeptabel erscheinen, auch wenn die Initiator*innen und Akteur*innen die temporäre Nutzungsmöglichkeit oft nicht als Provisorium verstehen, sondern als etwas, was exemplarisch für längerfristige Veränderungen zu sehen sein möge. Und in diesem Sinne sind Zwischennutzungen in verschiedenen diskursiven Kontexten aber auch in stadtplanerischen Praktiken und Planungen inzwischen selbstverständlicher Teil des Prozesses geworden.[4] Renée Tribble, Gründungsmitglied und Gesellschafterin der Planbude Hamburg (www.planbude.de) sieht in der Urbanen Praxis eine effektive Antwort auf diesen einschränkenden Aspekt des Provisorischen:
Was haben solche Überlegungen mit dem Interim, der Interimsspielstätte eines Theaters zu tun? Was könnten sie damit zu tun haben?
Zunächst ist festzuhalten, dass das Interim als Umzugsbewegung einer anderen Bewegungsrichtung folgt als eine Zwischennutzung. Bei Zwischennutzungen sind es leer stehende, ungenutzte Gebäude, die durch Akteur*innen angeeignet, kuratiert, gepflegt, architektonisch adaptiert und – oftmals aufgrund fehlender kultureller und künstlerischer Infrastruktur – kulturell genutzt werden. Das Theater im Interim aber ist gezwungen, seinen angestammten Ort zu verlassen und nach (einem) temporär nutzbaren, (wie auch immer) adäquaten Gebäude(n) zu suchen. Entscheidend für die Bewegung hin zum Interim ist nicht nur die (Aus)Richtung, sondern die Tatsache, dass eine Institution umzieht und sich als Ganze in eine neue Arbeitssituation und Umgebung begeben muss.
Inwiefern die beschriebenen produktiven Aspekte von Zwischennutzung auch im Interim, für Interimsspielstätten von Theatern, relevant werden, darüber entscheidet vor allem das Selbstverständnis der Institution und die Vorstellung der an ihr Beteiligten von Variabilitäten und Veränderungspotential im Verhältnis von Akteur*innen und Publikum, im Umgang mit Medien und Räumen, in Spiel- und Inszenierungsweisen sowie im Umgang mit urbanem Zentrum und anderen Stadtteilen.
Im Interim: verschiedene künstlerische und stadtpolitische Strategien als Überschreitung des räumlich Institutionalisierten
Gerhard Preußer hat in seinem eingangs erwähnten Text vor allem untersucht, wo und wie Inszenierungen künstlerisch auf die neuen räumlichen An/Ordnungen reagieren. In der Palette seiner vorgestellten Beispiele steht Dortmund unter dem Stichwort „völlige Flexibilität“ (Preußer 2017, unpag.) als das erfolgreichste der untersuchten Modelle da. Ich möchte im Folgenden – im Wesentlichen anhand des Materials und Textes, das der damalige Dortmunder Dramaturg Dirk Baumann veröffentlicht hat -, dies als ein Beispiel heranziehen und dazu ein zweites Beispiel untersuchen, in dem das Schauspiel Köln im Interim eine Projektkooperation eingegangen ist, die ganz andere Schwerpunkte bearbeitete. Zuletzt möchte ich beide Beispiele durch einen kleinen Ausflug in die Wiener freie Szene ergänzen, deren Produktionshaus brut eine bemerkenswert andere Form von Interim praktiziert/praktizieren musste.
Abb. 1: Foto © Djamak Homayoun / Schauspiel Dortmund
Abb. 2: Halle vor dem Um/Einbau, Foto © Kay Voges / Schauspiel Dortmund
Megatheater im Megastore – Schauspiel Dortmund 2016-2017
Das Schauspiel Dortmund musste zu Beginn des Jahres 2016 sein Theater aufgrund des anstehenden Abrisses und Neubaus des Magazins für ca. zwei Jahre verlassen und fand nach einer längeren Phase des Suchens den Megastore, eine aufgelassene Fanartikel-Halle des BVB, im Stadtteil Hörde als Interimsspielstätte. 4.280 qm ist die Halle insgesamt groß, der Nachhall ist immens und die technische Ausstattung musste improvisiert bzw. mit reduziertem Anspruch erst auf- und eingebaut werden.
Im Verlauf des Umbaus wurden drei Hallen eingezogen: die große Halle ist über 2.000 qm; Megastore 1, die kleine Halle, umfasst immerhin noch 1.500 qm; und Megastore 3 als dritter und kleinerer Spielort wurde mit mobilen Tribünen ausgestattet. Allerdings durften sich aus Brandschutzgründen nie mehr als 200 Zuschauer*innen gleichzeitig aufhalten und wegen der fehlenden akustischen Trennung können die Hallen nicht parallel bespielt werden. Trotz dieser Beschwerlichkeiten – so zitiert und beschreibt Baumann die Haltung der Theatermacher – wird der Raum, die Räume als eine große Chance gesehen:
Zentral also ist die Faszination, die die leere, auch unwirtlich aussehende, aber riesig dimensionierte Halle ausübt, die dazu einlädt, Aufführungen in anderen als den üblichen räumlichen Dimensionen und Zuordnungen zu denken. Die erste Inszenierung im Megastore – Das schweigende Mädchen nach einem Text von Elfriede Jelinek zu den NSU-Morden und dem Münchener Prozess – von Michael Simon, Regisseur und Bühnenbildner, verbindet eine installative Anordnung, in der sich das Publikum bewegen kann, mit einem Wechsel zur Tribüne und festen Plätzen ebenso wie eine Öffnung des Bühnenraums in die Weite der Halle. Baumann hat in seinem Text eine Liste von weiteren Inszenierungen beschrieben bzw. benannt, die jeweils neue räumliche Anordnungen versuchen, aber ebenso auch mit dem Guckkasten arbeiten, z. B. so:
Im April 2016 findet in der großen Halle die Uraufführung von Borderline Prozession. Ein Loop um das, was uns trennt von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin statt, eine Arbeit, die nur in den Dimensionen dieser Halle realisierbar war (Bühnenbild: Michael Sieberock-Serafimowitsch).
Abb. 3: Szenenfoto „Borderline Prozession“,
Foto © Birgit Hupfeld / Schauspiel Dortmund
Als Einblick sei hier der Anfang der Rezension von Dorothea Marcus zitiert, der die Raumanordnung und die situative Zuordnung der Zuschauer*innen deutlich macht:
Der Dortmunder Intendant Kay Voges versucht, ihr in seiner neuen Arbeit Die Borderline Prozession in einer Art Gesamtkunstwerk, einer gewaltigen Musik-, Kunst-, Theater- und Filminstallation beizukommen. Zunächst darf der Zuschauer in der großen Megastore-Halle, [...] noch selbst herumgehen und die Bühne bewundern: eine detailreich ausgestattete Villa mit zehn Zimmern in gediegenem Mittelstands-Retro-Schick. Auf der einen Zuschauerseite liegen die Innenräume: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, Dachterrasse, Garten, Fitnesskeller. Auf der anderen Seite sind die grauen, einsamen Außenräume: Bushaltestelle, Parkplatz, Kiosk. Man kann selbst entscheiden, welchen Ausschnitt man mit eigenen Augen sieht, darf die Perspektive jederzeit frei wechseln. Und dann beginnt eine Prozession mit 23 Darstellern ums Haus, als wollten sie die irre gewordenen Weltgeister bannen.“ [Marcus 2016]
Mit dieser Produktion wurde Schauspiel Dortmund zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen. Auch das kann man als Ausweis für eine erfolgreiche künstlerische Aneignung der anderen Räume und Dimensionen ansehen, wie sie Preußer konstatierte. Die Arbeitsbedingungen waren für alle Beteiligten ausgesprochen schwierig, auch darüber schreibt Dirk Baumann im zitierten Text, und von der Tatsache, dass „irgendwann die infrastrukturellen Nachteile die Attraktivität der künstlerischen Möglichkeiten überwiegen“ [Baumann 2020: 232]. Aber es bleibt nach seiner Auffassung die Erfahrung, dass räumliche Flexibilität, offene und variable Architekturen andere künstlerische Anordnungen ermöglichen, die die zentralperspektivische Ausrichtung der meisten Theater durch Multiperspektiven, Parcours, Installationen und weitere Formate ergänzen. Keine Rolle spielte für die künstlerische Arbeit im Megastore die Lage und die Nachbarschaft der Halle. Preußer hält dazu fest:
Auf meine Nachfrage hat mir Dirk Baumann erläutert, dass die Aspekte von Lage und Nachbarschaft für die Auswahl des Interims keine Rolle spielen konnten, da die Suche nach einer Spielstätte unter Zeitdruck stattfand. Zudem befand sich der Megastore in einem Gewerbegebiet, zwar unweit des Phoenix West-Geländes mit seinem charakteristischen Hochofen und umliegendem Entwicklungsgebiet, die unmittelbaren Nachbar*innen waren aber Autohäuser, Kleingärten und WILO, ein Pumpenhersteller aus Dortmund. [Baumann, Email an die Autorin vom 11.12.20]
„Die Stadt von der anderen Seite sehen“ – ein Projekt im Kontext des Interims von Schauspiel Köln
Auf der produktiven künstlerischen Auseinandersetzung mit anderen Teilen der Stadt(gesellschaft) und einer veränderten Nachbarschaft, die für das Dortmunder Interim keine Rolle spielte, lag der Fokus in einem Kooperationsprojekt von Eva-Maria Baumeister und Isabel Finkenberger, Künstlerin die eine und Stadtplanerin die andere, mit Schauspiel Köln.
Die Geschichte der Sanierung der Städtischen Bühnen Köln – Opernhaus und Schauspielhaus – beginnt 2006, sagt die offizielle Darstellung[5]. 2010 gab es eine Wende in der Planung, als ein Bürgerbegehren gegen den Abriss und Neubau des Schauspielhauses schließlich erfolgreich war, indem der Rat der Stadt dem Erhalt zustimmte. 2012 begann die Sanierung und das Schauspiel bezog als Interim bis zum Ende der Spielzeit 2012/13 eine innenstadtnahe Spielstätte. Danach und seitdem bespielt das Schauspiel als Interim Depot 1 (600 Plätze) und Depot 2 (etwa 250 Plätze) auf dem Gelände des ehemaligen Carlswerks in Köln-Mülheim, in einer freistehenden Produktionshalle des ehemaligen Kabelherstellers Felten & Guilleaume. Die beiden Hallen können parallel bespielt werden und sind durch ein Foyer miteinander verbunden. Zur Spielzeit 2013/14 übernahm Stefan Bachmann die Intendanz des Schauspiels. Aktuell ist die Rückkehr in das sanierte Haus für 2023 geplant.
Im Spielzeitheft 2013/14 des Schauspiel Köln wird das Interim und seine Nachbarschaft vorgestellt, die Rückkehr ins sanierte Haus im Zentrum erwartete man damals für 2015.
Neben das ‚gewohnt große Theater im Repertoirebetrieb‘, das in der Selbstdarstellung und Positionierung zum Interim als erstes erwähnt wird, stellt die neue Leitung, wie hier als Anspruch formuliert, explizit die Auseinandersetzung mit dem anderen Teil der Stadt in den Fokus ihrer künstlerisch-kuratorischen Konzeption. In der Planung für 2014 finden sich zwei Projekte, die sich mit der Nachbarschaft und der neuen Spielstätte beschäftigen: eine Stückentwicklung, in der sich Autor Jan Neumann mit der Geschichte des Unternehmens, dessen Produktionsstätte man nun bespielt, in zwei Teilen auseinandersetzt (Carls Werk) und ein Recherche-Projekt des Regisseurs Nuran David Calis zum 10. Jahrestag des NSU-Nagelbombenattentats in der Keupstrasse (Die Lücke. Ein Stück Keupstrasse).
Abb. 4/5: Foto © Ana Lukenda/ Schauspiel Köln
In und für den Interims-Kontext entwerfen die beiden Künstlerinnen / Planerinnen Eva-Maria Baumeister und Isabel Finkenberger dann ein Kooperationsprojekt mit dem Schauspiel Köln, das im Rahmen des Projektaufrufs „Zusammenleben in der Stadt“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) für zwei Jahre, von 2015 bis 2017, gefördert wurde. „Die Stadt von der anderen Seite sehen“ war Pilotprojekt der Nationalen Stadtentwicklungspolitik des Bundes.[6]
So beschreibt Finkenberger den Ansatz des Projektes aus der Rückschau. An anderer Stelle fasst sie den Prozess zusammen:
Bestandteil dieses Prozesses waren drei theatrale Konferenzen unter den Titeln „Aufbruch in die Zukunft“ (März 2016), „Im Blick zurück entstehen die Dinge“ (Oktober 2016) und „Stadt und Theater Denken“ (November 2016) sowie das abschließende oben erwähnte Festival und Grande Finale (9.6.-2.7.2017). Insbesondere in den zwei als Dokumentationen dieses Prozesses veröffentlichten Publikationen lassen sich zentrale Fragen finden, die das Projekt aufgeworfen und im Gespräch mit Bewohner*innen des Stadtteils und eingeladenen Künstler*innen ausgearbeitet hat. Der eine Pool von Fragen und Beobachtungen richtet sich auf das neue Zusammenspiel von Theater und Stadtplanung, auf die im doppelten Wortsinn verstandene Verortung des Theaters als Institution, die durch das Interim explizit zum Thema geworden ist. In der Publikation zur Konferenz „Stadt und Theater Denken“ heißt es u.a. in These 6:
Zu dieser Konferenz waren u.a. Theaterprojekte und Kulturinitiativen aus Wales, Brüssel, Hamburg und Wuppertal eingeladen, um die das Lokale überschreitende Arbeit an solchen Fragen sichtbar zu machen.[7]
Die zweite Publikation, die in Zusammenhang mit Abschlussfestival und Debatte „Die Stadt von Morgen“ erschien, eröffnet unter dem Titel Eine AGORA für Mülheim. Ein konkret-utopisches Manifest eine konkrete stadtplanerische Perspektive für einen ‚anderen öffentlichen‘ Ort im Stadtteil Mülheim, der in besonderer Weise eine Schwelle markiert und als solche durch die Stadtgesellschaft angeeignet werden könnte – so zumindest die konkrete Utopie, die der Titel annonciert. Es handelt sich um das Areal rund um die Mülheimer Brücke, die die beiden durch den Rhein getrennten Stadtseiten verbindet.
Das Brückenareal und das Rheinufer waren von Beginn des Projektes an ein Ort des Zusammentreffens und des Beziehungen-Stiftens, Aufführungsort während des Festivals und Ausgangspunkt einer nächtlichen Expedition auf die andere Seite. Nicht zuletzt, aber dann doch mit der Zeit auf der Strecke geblieben, war bereits 2009 auch in den Planungen der Stadt von einer ‚Kulturbrücke‘ die Rede (ebenda, 18).
Ohne dass ich hier im Einzelnen die Projektstrategien untersuchen kann, scheint mir wesentlich und bemerkenswert an dieser Verbindung von theatraler, künstlerischer Aktion und Recherche mit konzeptionellen Überlegungen zur Stadtplanung und der Moderation von Debatten vor Ort,
- wie sehr das Interim des Theaters den Blick für neue Nachbarschaften, für die Überschreitung der traditionellen Lokalisierung von Kunstinstitutionen allein im Stadtzentrum öffnen kann;
- dass in diesem Zusammenhang Prozesse von Kommunikation, Austausch und Aushandlung mit den Bewohner*innen initiiert werden, die Fragen nach öffentlichen Orten für kulturelles Zusammentreffen aufgreifen;
- dass in der Bespielung des Brückenareals die Idee des ‚Schwellenreitens‘ in einer ganz konkreten Dimension Gestalt annehmen konnte.
Leider mussten die Projektinitiatorinnen letztlich doch feststellen, dass die angestoßenen Prozesse nicht in der bisherigen Kooperation weitergeführt und die zahlreichen Ideen zur Verbindung von Aufführungsorten und stadtplanerischen Perspektiven nicht weiter ausgearbeitet werden konnten. 2019 schrieben sie resümierend u.a.:
Temporär und beweglich – das Interim zwischen Nomadisieren und ‚Schwellenreiten‘[8]
Auch die freie Theater/Tanz/Performance-Szene und ihre Produktionsorte sind gelegentlich mit Interimssituationen konfrontiert, wie es die Wiener Spielstätte brut Wien erfahren musste. 2015 übernahm Kira Kirsch die Leitung des Hauses und musste zugleich die angestammte Spielstätte im Künstlerhaus am Karlsplatz wegen Renovierungsarbeiten verlassen. Seit 2016 arbeitet das brut nomadisierend an immer wieder neuen Orten und hat es in sechs Jahren unter dem Motto „brut all over Vienna“ auf 90 Spielstätten gebracht, die auf der Website in einer interaktiven Karte dargestellt werden[9]. Diese besondere und besonders umfängliche Bewegung durch die Stadt ist zunächst den sich ständig verändernden Parametern des Aus- und Umzugs geschuldet, wie Kirsch in einem Interview mit c/o vienna erläuterte[10].
Abb. 9: Ingri Fiksdal „Diorama“ in der Seestadt Aspern, Foto © Lorenz Seidler
Abb. 10: Thomas Jelinek/ Jorge Sánchez-Chiong, „WASCHSALON – ENTROPY“ im Waschsalon im Matteottihof, Foto © Erli Grünzweil
Zu meinen Fragen bezüglich des kuratorischen Aspektes der Entscheidungen hat Kira Kirsch mir geantwortet:
Als gelungene Beispiele für verschiedene Aspekte von site specific Arbeiten nannte sie mir u.a.:
Oder eben als eine kontinuierliche Form der Arbeit am anderen Ort:
Als wesentliche Fragen für weiterführende Diskurse und Recherchen bleiben: Wie sehr machen ortsspezifische Projekte, die sich künstlerisch mit räumlichen, sozialen und Gebrauchsaspekten von anderen Orten auseinandersetzen, ein Andocken an neue Nachbarschaften möglich? Kann dies ihr Ziel sein, wenn sie nur für eine relativ kurze Zeit vor Ort arbeiten und präsentieren, vielleicht auch das Publikum ‚mitbringen‘? Oder: bedarf es nicht einer gewissen Kontinuität, Kooperation und unmittelbaren Adressierung vor Ort, um Prozesse zu initiieren und um interdisziplinär – dann nicht nur verschiedene Künste, sondern auch verschiedene Wissensfelder des (stadt)gesellschaftlichen Lebens betreffend – zu arbeiten?
Abb. 11: Irreality.tv, „Der Ring des Nibelungenviertels“,
Foto © irreality.tv
Die Positionen dazu, wie man in und durch eine Interimssituation agieren kann, reichen von der künstlerischen Aneignung bestimmter Qualitäten und Gebrauchsspuren der nicht für die Künste / Theater gebauten Häuser und Orte, deren Integration in ein Inszenierungs- oder Aufführungskonzept bis hin zu programmatischen Erweiterung von Themen, Orten, Adressierungen in Hinblick auf neue Nachbarschaften sowie der Befragung der städtischen kulturellen Infrastruktur. Schwellen / Räume können dabei eine zentrale Bedeutung gewinnen, in dem Sinne, wie sie z. B. Sophie Wolfrum oder Stavros Stavrides verstehen:
Schwellen werden als Orte der Aushandlung und Beweglichkeit gesehen, die nicht nur abgrenzen, sondern auch verbinden. Und sie könnten als Raum eingerichtet werden, in dem Gemeinsamkeiten (common grounds[14]) verschiedener Sphären zu- und miteinander ebenso wie deren Differenzen artikuliert werden. Welche Bedeutung diese Idee und Haltung für die Zugänglichkeit kultureller Orte und von Räumen für die Kunst in und durch die nicht nur städtische Gesellschaft hat, wo welche Praktiken im Kontext von Aufführungen erprobt werden – das wird Gegenstand weiterer Untersuchungen im Rahmen unserer Forschungen zu (beweglichen) Architekturen der Aufführungskünste sein.
https://kultur-frankfurt.de/download/4453/Bericht_der_Stabsstelle_Zukunft_der_St%C3%A4dtischen_B%C3%BChnen_Februar_2020.pdf.aspx, 26.12.20