1969 – 1964 – 2004 ...: Mobile Spielräume und urbane Paläste. Modellierung beweglicher Aufführungs-Architekturen
Barbara Büscher (Leipzig / Köln)
An markanten historischen Einschnitten wiederholen sich diskursive Modellierungen und experimentelle Entwürfe zu Aufführungs-Architekturen, die einer Diversität von Spielweisen und Präsentationsformaten zwischen Kunst, Wissen und Entertainment Rechnung tragen wollen. Sie verbinden Zeigen, Handeln und Schauen verschiedener Akteur*innen mit Entwürfen zu variablen Räumen und temporär genutzten Orten, die sich den Bedürfnissen der Nutzer*innen anpassen, von ihnen angeeignet werden können. Die historischen Markierungen reihen sich nicht zu einer chronologischen Kette, sondern mäandern in wiederkehrenden Referenzen, geprägt von je zeitgenössischen Diskursen zum Stadtraum, zu Auffassungen von Spiel und Wissensgenerierung, zur Vielfalt künstlerischer Aufführungsformate, zur baulichen Improvisation und Zwischennutzung. Inwiefern die Entwürfe für mobile Spielräume (1969), die Konzeptionen des Fun Palace (1964) oder die Bespielung des und der Diskurs um den Volkspalast im Palast der Republik Berlin (2004) als Modelle verstanden werden können, ist eine der Fragen, die der Text diskutiert.
I. Modelle erarbeiten, modellieren?
Modelle sind – das können wir im in dieser Ausgabe von MAP veröffentlichten Text von Carolin Höfler nachlesen – eine Methode, um über noch Unausgegorenes, nicht Geplantes, noch nicht als Plan Vorstellbares, spielerisch Zukünftiges und insofern Experimentelles nachzudenken, es haptisch anzueignen und erfahrbar zu machen, im Kleinen fürs Größere. Zu Beginn ihres Textes wirft Carolin Höfler eine Reihe von Fragen an und mit Modell(bildung)en auf, die auch solche an die Bedingungen für das Nachdenken über bewegliche Aufführungs-Architekturen sind.
So verstanden stellt sich u. a. die Frage, wie modellbildende Szenarien und methodische Verfahren aussehen könnten, in und mit denen man aktuell über Häuser, Gebäude und deren Platzierung nachdenken könnte, die nicht nur die traditionellen Schau-Anordnungen reproduzieren, sondern anderen, erweiterten und veränderten Formen des (Zu)Schauens, Handelns und Zeigens Rechnung tragen. Schaut man auf die notwendigen, aber doch nicht stattfindenden Auseinandersetzungen um Veränderung, Erweiterung oder Neubau von Theatern und Opernhäusern, ist dies genau die grundlegende Frage: Wo kann und mit welchen Akteur*innen ein solcher Prozess der Modellbildung initiiert werden und was wären seine Ausgangsparameter?
Wenn ich im Folgenden drei Projekte aus der Geschichte von Entwürfen, die Orte und Gebäude für neue Aufführungspraktiken schaffen wollten, vorstelle, so wird sich zeigen, dass Modellbildungsprozesse nicht ohne den diskursiven Kontext der Zeit zu verstehen sind. Die Ideen und Konzeptionen der 1960er Jahre z. B. von Stadt / Urbanität, von Bauen als offenem Prozess, von der Transdisziplinariät künstlerischer Aktivitäten, von Spiel und Wissensgenerierung und der Rolle avancierter Technik finden sich in den Entwürfen dieser Zeit wieder. Aus diesem Grund habe ich die Darstellung der Beispiele durch entsprechende Reflexionen in längeren Zitaten ergänzt.
II. 1960 – 1965 – 1969: „Mobile Spielräume" und andere Entwürfe zum Theater für Morgen
Die 1960 gegründete, westdeutsche Zeitschrift Theater heute verfolgt von Beginn an die Frage nach dem Verhältnis von Theaterbau und zukünftigen Spielweisen. Bereits im Dezember 1960 bringt sie einen Schwerpunkt zum Thema Theaterarchitektur – Konjunktur oder Krise?[1] In der Reflexion der zahlreichen Theater-Neubauten, Rekonstruktionen und Wiederaufbauten der Nachkriegszeit wird auch die Frage bewegt, inwiefern deren Monument-Charakter und gesellschaftliche Repräsentationsfunktion im Widerspruch zu zurückhaltenden, abstrahierenden, wenig ornamentalen Inszenierungs- und Spielweisen des zeitgenössischen Theaters stehen [Melchinger 1960]. Mit den konzeptionellen Ideen des Architekten Werner Ruhnaus wird bereits hier eine Position veröffentlicht, die dafür plädiert, nicht mehr der Trennung von Bühne und Zuschauerraum zu folgen, sondern ein variables System beweglicher Podien zu installieren, um unterschiedliche Spiel- und Inszenierungsweisen zu ermöglichen.
1965 – Theater für morgen: Eine Entwurfsaufgabe
Ende 1964 veröffentlichte die Zeitschrift dann eine Ausschreibung, die sich unter dem Titel Theater für morgen an junge Architekt*innen und Architekturstudent*innen richtet. Im Zentrum steht u. a. die „Verwandelbarkeit der aktiven Bühnenzone" und „Bühnen-Zuschauerraum, ihre Verschmelzung oder Trennung oder Flexibilität" [Theater heute 1964: 1]. Von welchen neuen und anderen Spielweisen diese Ausschreibung motiviert wurde und welche neuartigen Anforderungen die Entwürfe aufgreifen könnten, davon war nicht die Rede. Vermuten lässt sich, dass neue performative Kunstformate zu den Überlegungen beigetragen haben.[2]
Neben der zitierten Forderung, über die Veränderbarkeit des Bühne-Zuschauer-Verhältnisses nachzudenken, sind es zwei Aspekte des Verfahrens, die unter dem Gesichtspunkt einer Modellbildung interessant sind: zum einen, dass es um einen Ideen-Entwurf ohne konkretes Bauprogramm geht (allerdings unter Berücksichtigung von Normen der Sicherheit und des Brandschutzes) und zum anderen, dass die Zusammenarbeit zwischen Architekt*innen und Theaterleuten die Basis des Entwurfsprozesses bilden soll.
Eine ausführliche, konstruktive und zugleich kritische Auseinandersetzung mit der Entwurfsaufgabe führte 1965 eine Gruppe von Studentinnen und Studenten der TU Stuttgart, die sich unter der Leitung von Roland Ostertag am Lehrstuhl von Rolf Gutbrod am Wettbewerb beteiligte und ihre Ergebnisse – sowohl die der reflexiven Beschäftigung wie die Entwürfe – eigenständig veröffentlichte[3]. Das Vorgehen der Seminargruppe beschreibt ihr Leiter: „Wir begannen unsere Arbeit mit einer grundsätzlichen Problemanalyse, aus der sich über kritische und systematische Untersuchungen und Diskussionen alternative Aktionsprogramme entwickelten. Zusammenhänge zwischen Theater und Gesellschaft, Theater und Stadt und andere wesentliche Teilprobleme wurden untersucht, neue Ansätze, Tendenzen im modernen Theaterleben wurden aufgespürt, analysiert und in Teilmodelle und Aktionsprogramme zerlegt. Intensive Gespräche mit allen am Theater Beteiligten (Intendanten, Autoren und Schauspielern) wurden geführt und die Ergebnisse in die weitere Bearbeitung übernommen.“ [Ostertag 1970: 7]
Abb. 1: Georg Renken: Entwurf zu Theater für Morgen (1965)
Von den sechs Stuttgarter Entwürfen seien exemplarisch die Entwürfe von Pannitschka [Job / Ostertag: 43-48] und Renken [ebenda: 48-52] genannt, die Räume für Spiel, Theater und Aufführungen aller Art in neu strukturierte, auf verschiedenen Ebenen urbanen Raumes ineinander geschobene und mit einander vernetzte, durch Gerüste verbundene Gebäude einlassen. Sie wollen den Besucher/Bewohner der Innenstadt nicht mehr auf eine Rolle festlegen, sondern fließende Übergänge zwischen verschiedenen Kunstorten, Spielräumen und Kommunikationsanlässen bieten. [siehe auch Büscher 2014]
Die Auflösung des Theaterbaus in ein innerstädtisches Raumgebilde, das unterschiedlichen kulturellen und auch kommerziellen Facetten städtischen Lebens dienen soll, verweist darauf, dass und wie die Diskussion um die Unwirtlichkeit der Städte [Mitscherlich 1965] und deren Auflösung in neue Formen von variabler und offener Ordnung ein zeitgenössisch hochaktuelles Thema war, das sich in den Entwürfen wiederfinden lässt.
Damit aber thematisieren und bearbeiten die jungen Architekt*innen nicht nur die isolierte Bauaufgabe Theater, die einer städtebaulich eindeutig und einseitig festgelegten Funktion zugeordnet ist, sondern umreißen eine grundlegendere Aufgabenstellung. Sie bildet einen Baustein zur modellbildenden Funktion dieser Entwürfe und ist geprägt von den zeitgenössischen Diskursen um Kultur, Stadt und Mobilität.
Theoretische Kontexte zu diesen Ansätzen lassen sich z. B. in der Zeitschrift Der Architekt in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur dortigen Veröffentlichung des Protokolls des ersten Kolloquiums[4] ausmachen, das die Ausschreibung begleitete. 1965 z. B. erschien ein Schwerpunkt zum Thema Mobiler Städtebau[5], in dem das Manifest L’Architecture Mobile des ungarisch-französischen Architekten Yona Friedman auszugsweise abgedruckt ist.
Diese Spiele, der Daseinsgrund der Städte, befinden sich zur Zeit in vollständiger Umwandlung. Die Teilnahme der großen Massen an diesen Spielen (Demokratisierung) ändert ihren Charakter. Das Theater z. B. weicht dem Kino, dem Reisen oder dem Fernsehen. Die Technisierung vermehrt die Freizeit, die Automation wird dies noch mehr tun. Die Gestaltung der Freizeit ist der freien Wahl überlassen. Die, welche darüber verfügen, haben selbst noch nicht die genaue Form für ihre Zerstreuungen gefunden. Die Städtebauer müssen sich danach fragen. (...)
Dies ist nur zu verwirklichen durch das Prinzip der Beweglichkeit im Städtebau. Dies Prinzip ist nur möglich, wenn es nicht kostspielige periodische Zerstörungen mit sich bringt, sondern leicht durchführbare Umwandlungen.
Aus: Yona Friedman, Mobiler Städtebau. Erklärung des räumlichen Städtebaus [Friedman 1965: 184]
Improvisation seems, at first sight, a term incompatible with architecture. Indeed, architecture, as taught in schools, implies long duration, eternity, in a way. All historically famous buildings did not disappear, at least not without leaving traces.
Mobile architecture is, by definition, ephemeral; its disposition, volumes, forms, and elements change according to changing contexts, architecture continously getting adapted to users' needs.
(...)
Improvisation can be done only on site, at real scale. This becomes possible through constituting parts that are easy to assemble, easy to handle, without special equipment and without specialists' expertise. It means parts can be pushed around, stacked on top of each other and similar commonplace procedures, all rather inexpensive.
Aus: Yona Friedman, Architecture as Improvisation [2013, abgedr. in: Friedman / Orazi 2015: 29]
1969: Mobiler Spielraum – Theater der Zukunft. Eine Planungsaufgabe
Die Begrifflichkeiten vom Stadtraum als Spielraum und von Mobilität und Variabilität der räumlichen An-Ordnung strukturieren sehr viel offensiver ein zweites – aus dem Hochschulkontext entstandenes – Entwurfs-Projekt, von dem ich hier einige Aspekte darlegen möchte. Es handelt sich dabei um eine Seminaraufgabe an Architekturstudent*innen der TH Darmstadt, die am Lehrstuhl Entwerfen, Baugeschichte und Kirchenbau (Prof. Rolf Romero) unter der Leitung von Jochem Jourdan durchgeführt wurde. Jourdan schrieb zum konkreten Kontext dieser Seminaraufgabe und der Präsentation der Ergebnisse:
Die Ergebnisse wurden in einer Ausstellung in Darmstadt gezeigt, zu der ein kleiner Katalog erschien [Mobiler Spielraum 1973] und sie wurden in der Zeitschrift Bauwelt 1969 vorgestellt[6]. Auch hier tritt der Zusammenhang zur umfassenderen zeitgenössischen Diskussion um Raumgestaltung und Stadtplanung hervor, wenn auf dem Cover des Heftes vom „Entwerfen von ‚offenen Räumen’, die die Funktionen vermischen, umdeuten oder erst nachträglich entstehen lassen“ [Bauwelt 45/1969] die Rede ist. Eine zeitgenössische, aktuell wieder rezipierte Position zur „offenen Form" ist die des polnischen Architekten, Stadtplaners und Künstlers Oskar Hansen.[7]
Aus: Oskar Hansen, Open Form in Architecture – The Art of the Great Number [O: 1961, abgedr. in: Wieder / Zeyfang 2014: 44]
Die offene Form beruhte also auf einer Analyse der existierenden Produktionsverhältnisse in Kunst und Architektur, wo die Methoden und theoretischen Grundlagen vom realen Leben abgetrennt waren. (...) Wie Hansen 1959 schrieb, war die Theorie weniger eine 'spekulative Erfindung unserer Zeit', sondern vielmehr 'eine Schlussfolgerung, die sich aus der Betrachtung existierender Systeme ergab. Als er sein Konzept der Offenen Form erstmals 1959 auf dem CIAM-Kongreß in Otterlo vorstellte, fand es bei anderen jungen Architekt/innen viel Aufmerksamkeit. (...) Hier die wichtigsten Punkte:
Vielfalt: Menschen werden individuell behandelt; ihre Unterschiedlichkeit anerkannt; Opposition gegen das modernistische Streben nach Standardisierung und Schematisierung;
Wandelbarkeit, Flexibilität, Prozesshaftigkeit: die Umgebung der Menschen sollte, abhängig von ihrer Tätigkeit und ihren sich entwickelnden Bedürfnissen und Präferenzen, veränderbar sein;
Partizipation: die Nutzer/innen der räumlichen Anordnungen sollten diese als 'Koautor/innen' mitgestalten und ihren wechselnden Bedürfnissen anpassen können;
Kommunikation: räumliche Gestaltung als Hintergrund zwischenmenschlicher Beziehungen und als Instrument visueller Beeinflussung;
Skalierbarkeit: diese Methode und ihre einzelnen Elemente können ebenso auf ein Modell der Wirklichkeit, etwa ein Blatt Papier, wie auf einen physischen Raum angewendet werden, in dem die Probleme der 'Großen Zahl' auftreten; (...)
Integration: von räumlichen Elementen, künstlerischen Disziplinen, Kunst und Wissenschaft, Menschen, aber auch die Integration von Menschen in die Natur durch Wissenschaft und neue Technologien.
Aus: Michal Wolinski, Aktivität aufbauen, Kommunikation formen [2014, abgedr. in: Wieder / Zeyfang 2014: 183]
Schließlich erschien 1970 in der Reihe Theater im S. Fischer Verlag ein Band, der neben den Entwürfen der Darmstädter Architekturstudent*innen begleitende Aufsätze von Jochem Jourdan, Karlheinz Braun, Texte von Mauricio Kagel und Charles Marowitz sowie ein Gespräch mit dem Bühnenbildner Wilfried Minks enthielt [Braun u.a. 1970]. Jochem Jourdan zieht in seinem Einleitungsbeitrag einen großen historischen Bogen, der noch einmal Theater- und Kunst-Projekte der historischen Avantgarden als Referenz nennt. Aber auch Happenings und solche Szenografen / Architekten wie Jacques Polieri, Projekte der Londoner Archigram-Gruppe, Cedric Price und der Fun Palace, sowie Oskar Hansens Konzeption der „Offenen Form“ werden erwähnt. Sein Text beginnt mit einem Statement zum Fehlen von für aktuelle künstlerische Entwicklungen angemessenen Räumen und verweist implizit auf den Austausch mit den in Darmstadt vertretenen Positionen neuer, szenischer Musik.
Abb. 2: Gernot Assum: Multi Media Spielraum als offene Struktur (1969)
Offene Spiellandschaft
Jourdan rekurriert auch auf die durch die zeitgenössischen gesellschaftlichen Bewegungen reaktivierten Ideen der Partizipation von Besucher*in/Zuschauer*in und der Verbindung von Alltag und Kunst:
Als weitere bau-konzeptionelle Stichworte nennt er: modulare Bauweise, Kombinatorik, temporärer Bau, Mobilität, Variabilität und Cluster. Gerade der letztgenannte Begriff und seine Bedeutung für die Konzeption urbaner Strukturen[8] verweist auf ein spezifisches Verständnis von Raum/nutzung: „Die Räume dienen auf diese Weise als vorstrukturierte Aktionsfelder für Ereignisse von beliebigem Mediencharakter (von einfachen alltäglichen Ereignissen bis zu komplizierten Multi-Media-Prozessen), bei denen jeder Teil in einem neuen Beziehungssystem eine neue funktionelle und assoziative Rolle spielen kann.“ [ebenda: 22]
Das Interesse hat die Spezifika einzelner Aufführungskünste überschritten und sich dem zugewendet, was um den Begriff des Spiels zentriert ist und ganz unterschiedliche kulturelle und künstlerische Aktionen / Ereignisse umfassen soll. Die Integration von Radio oder Film gehört ebenso dazu wie die Hinwendung zum Multimedialen und zu Mixed Media als Formen, die die traditionellen Künste durch zeitgenössische mediale Entwicklungen ergänzen und sie gleichberechtigt nebeneinander präsentieren. Bemerkenswert ist, dass weder zum verwendeten Spiel-Begriff noch zu dem Aspekt der Multimedialität[9] spezifische Referenzen genannt oder Überlegungen angestellt werden. Der Spielbegriff – der ja auch im Theaterspiel enthalten ist – annonciert vor allem eine Erweiterung des Zeigens, Schauens und Handelns über die Bereiche der einzelnen Künste hinweg, in dem Sinne wie später der Begriff der Performance (Kunst) benutzt werden wird.
Abb. 3/4: Rassem Badran: Mobiler Multi-Media-Cluster (1969)
Temporäre, modulare Architekturen
Die meisten Projekte, die hier in Entwurfszeichnungen, Modellen und Texten präsentiert werden, operieren im Titel sowohl mit dem Begriff des Cluster wie mit dem des Spiels, andere ergänzen das Multimediale (Badran, Boedeker)[10]. Sie folgen den Prinzipien der Variabilität, Flexibilität und Mobilität und stellen Raumgefüge oder mobile Spielanlagen zur Verfügung, die zerlegbar und transportabel, sowie je nach den spezifischen örtlichen Erfordernissen in Größe, Anzahl der Räume und Komplexität der Strukturen veränderbar sind. Sie sind für zentrale Plätze entworfen (Assum, Boedecker)[11], wollen aber auch den Anforderungen der Peripherie genügen (Heilmann)[12] und damit die Exklusivität des Zugangs zu Kunst / Aufführungen aufheben. Dieser grundlegende Zug der Entwürfe zu temporären Architekturen wirft die Frage nach Verbindungen zu den in den 2000er Jahren entstandenen Projekten temporärer Bauten an der Schnittstelle von Architektur, Stadtplanung, Kunst und Intervention (z. B. von raumlaborberlin oder OSA – office for subversive architecture)[13] auf.
Die Idee des Baukastens, der Grundelemente zur Verfügung stellt, die für die unterschiedlichsten Aufführungen und Präsentationen jeweils neu zusammengestellt werden können, setzt aber voraus, dass die Raum- und Aktions-Varianten systematisch beschrieben werden.[14] Seine Handhabung impliziert – u. a. im Entwurf von Badran – die computergesteuerte Auswahl der Elemente je nach Standort und szenografischen Anforderungen[15]. Dieser Einsatz zeitgenössisch avancierter Techniken zur variablen Zusammensetzung ermöglicht erst die Verbindung von architektonischer und szenografischer Planung.
Die konstruktiven Gerüste der entworfenen Raumgebilde beruhen auf zerleg- oder ausziehbaren Fachwerken (z. B. aus Stahlrohr), die pneumatischen Raumhüllen haben des Öfteren Kugelformen und sind aus (semi)transparentem Kunststoff. Auf den ersten Blick schon gibt es Referenzen – auch wenn sie nicht explizit erwähnt sind – zu Buckminster Fullers geodesic domes und seinem in gänzlich anderer Größenordnung realisierten Pavillon für die Expo 1967 in Montréal[16]. Auch an die zahlreichen Arbeiten mit inflatables – aufblasbaren Raumhüllen – im Bereich des Expanded Cinema[17] fühlt man sich erinnert, also an temporäre und mit neuen Materialien operierende Gebäudekonstruktionen.
Und nicht zuletzt gibt es eine deutliche Verbindung zu den Ideen, Konzeptionen und Entwürfen Werner Ruhnaus [Deutsche Bauzeitschrift 1969].[18]
Abb. 5: Eberhard Heilmann: Infomobil. Mobiles Aktions- und Informationsfeld (1969)
Schaut man zusammenfassend auf die Ergebnisse dieser beiden Entwurfsprojekte und versteht sie als Formen der Modellbildung für zukünftige Orte und Räume der (Aufführungs)Künste, fallen diese Aspekte auf:
Die Räume und Orte werden nicht nur kunstsparten-übergreifend gedacht, sondern integrieren auch Formen der medialen Kommunikation / Präsentation jenseits des Kunstraums, gelegentlich auch des Konsums. Sie verstehen sich als offene Spiellandschaft. Diese Kopplung von ‚Offenheit der Architektur' und ‚Spiel' ist auffallend.
Die Entwürfe denken Architektur temporär, modular, variabel und verbinden sie mit entsprechenden Materialien und Konstruktionsweisen, die ebenfalls im zeitgenössischen Diskurs zum Bauen und zum Charakter von Architektur eine gewichtige Rolle spielen.
Die Entwürfe denken architektonische und szenografische Aspekte zusammen, allerdings ohne konkrete Ideen zur Programmierung bzw. zu den Aufführungen / Ereignissen, die dort stattfinden sollen, zu nennen.
Die Recherchen und Überlegungen, die den Entwürfen vorausgingen, greifen auch die Kunst-Diskurse um aktuelle Formen der Aktion, des Mitspiels, des Happenings auf. Soweit aus den zugänglichen Materialien zu schließen ist, gab es allerdings keine direkte Kooperation mit Künstler*innen und Kurator*innen aus verschiedenen Bereichen im Prozess der Entwurfserarbeitung, obwohl in der Recherchephase der Austausch mit Theater (Stuttgart) und Musik (Darmstadt) gesucht wurde.
Die Entwürfe entstehen unabhängig von institutionellen Realisierungsbedingungen und (kultur)politischen Rahmenbedingungen als studentische Ideen-Entwürfe.
III. 1964 – 1961 – 1974 – Fun Palace: ein komplexes Gebilde zur kulturellen Nutzung aller Art für das Londoner East End
Eines der denkwürdigsten Beispiele neu konzipierter Bauten für die Aufführungskünste ist der vom britischen Architekten Cedric Price in der ersten Hälfte der 1960er Jahre für die Londoner Theaterregisseurin Joan Littlewood entworfene Fun Palace, der letztlich unrealisiert blieb, obwohl sich die Planung in einem Stadium befand, der die Realisierung erlaubt hätte.
Littlewood, Jahrgang 1914, hatte schon Ende der 1930er Jahre begonnen, gemeinsam mit verschiedenen Ensembles sozial engagiertes, linkes Theater zu machen, sich mit Brecht und Meyerhold auseinanderzusetzen. In den 1950er Jahre setzt sie ihre Arbeit als Regisseurin und Produzentin in dieser Ausrichtung fort und etablierte mit dem Theatre Workshop eine auch international durch verschiedene Tourneen renommierte Gruppe, für die sie u. a. Themen und Texte aussuchte, die „represent the theatricality of working-class life and experience in extreme and closed environments" [Holdsworth 2011: 22].
Ihr wohl bekanntester Erfolg war das satirische Musical Oh What a Lovely War, das 1963 Premiere hatte[19], zu einer Zeit als sie schon seit einer Weile nicht mehr von der gesellschaftlichen Relevanz der Theaterarbeit überzeugt war.
„By the early 1960s, Littlewood had become increasingly frustrated by the restrictions of building-based theatre (...). Mainly she directed her energies towards localised projects that emphasised cultural democracy and the animation of community-based activities and values. In particular, she worked tirelessly to raise awareness of, interest in and financial support for her plans for Fun Palace, a large-scale community arts complex dedicated to education, entertainment, technological experimentation and social enrichment." [Holdsworth 2011: 27]
Littlewood hatte die Konzeption dieses ‚Kulturzentrums' aus der Beschränktheit und den Beschränkungen entwickelt, die sie im institutionalisierten Theater ausmachte. Der Wunsch, den Fun Palace im Arbeiterviertel East End zu platzieren, zeugte von ihrer Idee, den Besucher*innen und Nutzer*innen einen Ort zur Verfügung zu stellen, der in neuer Weise eine aktive Aneignung von Kunst und Kultur, von Bildung und Wissen, von „High Art" und „Popular Culture", ermöglichen sollte.
„Littlewood saw the Fun Palace as a 24hour, large-scale community centre that could foster mass participation and communal identification. Importantly, she wanted the Fun Palace to be responsive to the needs of the local community and to function in collaboration with pre-existing activities." [Holdsworth 2011: 211]
Programmatische Verbindung: Spiel – Wissen – Technik
Ein ganz wesentlicher Aspekt des Programms war – neben der Verbindung von Zeigen, Schauen und Agieren in den verschiedensten Medien und Künsten – die Wissensaneignung und der Umgang mit / Zugang zu den neuesten Techniken der Kommunikation und Information, z. B. zu Computern[20]. Von verschiedenen Forscher*innen ist darauf hingewiesen worden, dass diese Konzeption auch im Zusammenhang mit den medialen, technischen und gesellschaftlichen Umbrüchen der Zeit zu sehen ist und mit dem Diskurs über den sinnvollen Umgang mit prognostizierter zunehmender Freizeit verstanden werden muss [Lobsinger 2000; Mathews 2006; Rufford 2011]. 'Fun' war aber ebenso sehr Unterhaltung / Entertainment, die Popkultur der Zeit eingeschlossen. „A multi-faceted concept of 'fun' encompassed enjoyment (...) and evoked the hedonistic delights of the nineteenth-century pleasure garden. It captured pop art's optimism about consumer choice, the expendability of objects and the infinite flow of thought through media and technology." [Rufford 2011: 316]. Mathews weist ausdrücklich darauf hin, dass die Orte und Gebäude historischer Vergnügungsstätten ein Referenzpunkt des Projektes war [Mathews 2006: 72].[21] Holdsworth zitiert die exemplarische Liste der möglichen Aktivitäten aus einer Broschüre, die zum Fundraising erstellt worden war: „For your delight: Juke Box Information, Adult Toys, Star Gazing, (...) Hide Aways, Dance Floors, Drinks, (...) Battles of Flowers, Concerts, Learning Machines, (...) Theatre Clownery ... Laboratories, Food, Ateliers." [Holdsworth 2011: 213] Die Programmgestaltung sollte durch die Nutzer*innen entstehen, die Initiator*innen würden nur Angebote und Vorschläge machen.
Man findet hier, quasi vorbildhaft, Vieles, was in den im vorigen Abschnitt diskutierten Entwürfen implizit aufgegriffen wurde: Spiel war ein zentrales Thema und zwar nicht nur als Theater-Spiel oder in anderen Formen von Kunst-Spielen, sondern auch als eine technologisch fundierte Form neuen Lernens. Dabei verband sich die offene, kreative Idee vom zweckfreien Spielen mit der Konzeption von regelgeleiteten Spielstrategien, die sich aus mathematischer Modellierung von Entscheidungsverhalten ableiten lassen [siehe Herdt 2017: 57f], was u. a. aus der Zusammenarbeit mit einem der führenden Kybernetiker der Zeit, Gordon Pask, resultierte.
As both mirror and prism of contemporary culture, London’s ICA, founded in 1947, reflected and refracted shifts in the signification of play through its programme. From the artist Nigel Henderson’s photographs of children playing hopscotch, through to the curator Jasia Reichardt’s 1969 exhibition Play Orbit, an interest in childhood, games and the rituals of everyday life permeated the Institute. However, it was not just the explicit appearance of representations of childhood, toys and games that linked the early ICA to developing ideas of a homo ludens. Its programme also shared with Huizinga’s formulation of play a particular interest in mediating an anthropological and evolutionary biological approach to culture with a historical study of representational form.
(...)
While it is possible to view Play Orbit as reflective of the ICA’s initial and enduring concerns, it can also be understood, when considered alongside other exhibitions at the ICA in the late 1960s, such as Reichardt’s 1968 show Cybernetic Serendipity, to presage future uses of play in art institutions. Both Play Orbit and Cybernetic Serendipity, with its creation of a user-orientated exhibition environment, are demonstrative of an interest in audience engagement and non-didactic forms of display, functionalities that Reichardt called ‘play-participation’, but that might be more widely encompassed under the term ‘interactivity’.
Aus: Ben Cranfield: All Play and No Work? A 'Ludistory' of the Curatorial as Transitional Object at the Early ICA, in: Tate Papers No. 22 / Autumn 2014.[22]
Littlewood entwickelte die Konzeption gemeinsam mit dem Architekten Cedric Price – den sie, als Auftraggeberin, für dieses Projekt engagierte – bis zum Stadium der Realisierung, für das beide bis 1964/65[23] einen passenden Ort bzw. Gelände zu finden und zugesprochen zu bekommen versuchten.
Sie fand in Cedric Price einen gleichgesinnten Partner, der den temporären Bau – als solcher von Anfang an angelegt[24] -- im Sinne ihres Kunst-, Kultur- und Bildungsverständnisses entwarf. Sowohl das Konzept der Programmierung bzw. der Bespielung wie das der Nutzung des Gebäudes wollte sich der neuesten Technologien von Steuerung und Konstruktion bedienen, um Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Nutzer*innen zu gewährleisten. Transparent nach außen und variabel in der inneren Zusammensetzung sollte das Gebäude die verschiedensten Konstellationen von räumlichen Aufteilungen, von Abschirmungen und Wegen, von Licht- und anderen Bewegungen ermöglichen.
Abb. 6: Cedric Price, Typical plan of Fun Palace complex, ca. 1964
Abb. 7: Cedric Price, Interior perspective for Fun Palace, ca. 1964
Temporär, transparent und variabel: das Gebäude
Die Architekturhistorikerin Tanja Herdt [Herdt 2017] beschreibt ausführlich die Grundzüge von Price' Entwurf:
Die vorgesehene Programmierung der räumlichen Anordnungen inklusive Licht, Ton, Projektion etc. entsprechend den Nutzungsanforderungen provozierte die Frage nach deren Steuerung und führte zur Zusammenarbeit mit einem eigens gegründeten ‚Cybernetic Committee', das aus 26 Wissenschaftlern und Künstlern bestand und in dem Gordon Pask eine wichtige Rolle spielte. [Herdt 2017: 38f.; Mathews 2006: 73-75; Lobsinger 2000]
(...)
Cybernetic theory is more than an extension of 'pure' architecture. (...) Cybernetic theory has an appreciable predictive power. For example, urban development can be modelled as self-organizing system (...) and in these terms it is possible to predict the extent to which the growth of a city will be chaotic or ordered by differentiation. Even if the necessary data for prediction is unavailable we can, at least, pose and teste rational hypotheses.
(...)
Gaudi (intentionally or not) achieved a dialogue between his environment and its inhabitants. He did so using physically static structures (...). The dialogue can be refined and extended with the aid of modern techniques which allow us to weave the same pattern in terms of a reactive environment. If, in addition, the environment is malleable and adaptive the results can be very potent indeed.
Auszüge aus: Gordon Pask: The Architectural Relevance of Cybernetics (1969)
Die Anwendung automatisierter Steuerungssysteme, die die variablen und immer wieder neu zu arrangierenden, räumlichen Ordnungen organisieren sollten und damit erst die immer wieder andere Bespielung des Gebäudes ermöglichten, basierte auf der zeitgenössischen Emphase für die Kybernetik als einer Form systemischen Denkens und Konstruierens. Auch auf dem Papier und in den Zeichnungen erweckt der Fun Palace den Eindruck eines gigantischen, nun beweglich verstandenen Monuments einer technikbegeisterten Moderne, die den Raum (oder das Gefüge von Räumen) programmierbar denkt, als kybernetisches Modell. Lobsinger hat das Projekt als „a giant learning machine" [Lobsinger 2000: 126] bezeichnet und wie verschiedene andere Forscher*innen in jüngster Zeit auf das Ineinander von Ermöglichung / Empowerment, Entscheidungsfreiheiten für die Nutzer*innen und Kontrolle sowie behavioristischen Vorstellungen über die Vorhersagbarkeit ihrer Verhaltensweisen hingewiesen. Die Erfindung des performed space [Dell 2007: 138] ist mit der Frage nach dem Charakter und den Verfahren seiner Programmierung - als Steuerung der räumlichen Ordnung und als Zusammenstellung von Aktionen und Ereignissen - eng verbunden.[25]
Das Projekt Fun Palace hatte – aufgrund seiner Unterstützung durch Intellektuelle und Künstler*innen und der verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Kampagnen – eine ganz andere Reichweite als die studentischen Entwürfe, die im ersten Abschnitt vorgestellt wurden. Sein Einfluss auf Ideen und Entwürfe neuartiger kultureller Häuser und Orte war international bemerkenswert. Das von Richard Rogers und Renzo Piano gebaute Centre Pompidou in Paris (1972-1977) ist das vielleicht bekannteste Gebäude, das vom Fun Palace inspiriert worden sein soll.[26]
Bis heute wird der Fun Palace immer wieder als Versuch zitiert, Kunst und Kultur von den traditionellen (Re)Präsentationsformen zu lösen. Darauf nimmt auch das Beispiel im folgenden Abschnitt Bezug.
In diesem Sinne kann man als modellbildend verstehen:
- dass kulturelle Aktivitäten und Nutzungen aller Art an einem Ort / in einem Gebäude zusammengebracht werden;
- dass die variable und offene Programmierung in Verbindung von Kunst, Unterhaltung und Wissen / Lernen mit einer beweglichen Architektur kombiniert wird;
- dass die Anlage grundsätzlich temporär gedacht wird (auf 10 Jahre in etwa beschränkt), um den sich verändernden Bedürfnissen der Nutzer*innen Rechnung tragen zu können;
- dass die angestrebte Platzierung im Londoner East End auf ein explizit sozial adressiertes Programm zielte, für das der Community-Gedanke eine Basis bildete.
In diesem Zusammenhang muss man aber auch feststellen, dass das Konzept nicht aus einer spezifischen ‚community' entstanden ist und dass es an einigen der avisierten Standorte Widerstand der ‚local residents' gab [Holdsworth 2011: 228-231].
Ungelöst blieb zudem, wie – jenseits der technisch fundierten Steuerung – die Programmierung im doppelten Sinne gelingen könnte: mit wem und auf der Basis welcher Nutzer*innen-Bedürfnisse und -Interessen. Schließlich taucht die Frage nach der Finanzierung des Programms[27] in der Literatur zum Thema an keiner Stelle auf.
IV. 2004 – Fun Palace 200X und das Programm Volkspalast im Skelett des Palast der Republik, Berlin
Eine prominent besetzte, internationale Tagung im Rahmen des Programms Volkspalast im rückgebauten Rohbau des Palast der Republik 2004 knüpfte schon im Titel explizit an das historische Projekt an. Sie versuchte nicht nur die politische Relevanz der Zwischennutzung zusammenzufassen und konzeptionell zu fundieren, sondern eben auch das Denkmodell und den Realisierungskontext des historischen Projektes für die aktuelle Situation zu überprüfen. Die Zwischennutzung des Palast der Republik wurde so als eine mögliche Aktualisierung des Fun Palace diskutiert. Aufgeworfen war die Frage: welche neuen Kommunikationsräume braucht unsere Gesellschaft? Die Zwischennutzung sollte ein erster Test alternativer Szenarien zu dem vom Bundestag 2002 beschlossenen Abriss des Skeletts mit anschließendem Neubau und Nachbau der Stadtschloss-Fassade als Humboldt-Forum werden.[28]
Der Palast der Republik, 1976 als repräsentativer Kulturbau unter Erich Honecker in Berlins Mitte eröffnet, war 1990 – bis dahin u. a. Sitz der Volkskammer – wegen Asbestverseuchung geräumt und gesperrt worden. Erst nach einer vollständigen Entkernung wurde das verbliebene Gebäudeskelett 2003 wieder zugänglich.[29] 2002 stellte eine Initiative aus Berliner Akteur*innen unterschiedlicher kultureller Felder[30] erste Ideen für eine Zwischennutzung vor.[31] Im Sommer 2003 formulierte die Initiative ZwischenPalastNutzung ein Konzept für 1000 Tage – also eine dreijährige Zeit der Zwischennutzung – analog zur dreijährigen (1000 Tage) Bauzeit des Palastes. Parallel dazu gab es Führungen durch den skelettierten Bau und eine Konzertreihe unter dem Titel Wagnerkomplex im Gebäude[32].
Für die repräsentationspolitische Debatte um die Zukunft des Palast der Republik war sowohl der Standort / die Platzierung wie auch Geschichte und Funktion des Gebäudes in der DDR von hoher symbolischer Bedeutung.[33] Gleichzeitig war dieser Standort auch für die Kunstszene, nicht nur lokal, sondern bundesweit und international, ausgesprochen attraktiv, denn mit diesem Projekt rückten, zumindest temporär, die interdisziplinär, experimentell wie popkulturell agierenden Künstler*innen ins Zentrum der Sichtbarkeit.
Vom rückgebauten Gebäude-Skelett gibt es zahlreiche Fotos, auch in Bespielung während der Zwischennutzung; einen Plan zur genutzten Fläche habe ich allerdings in den Veröffentlichungen nicht gefunden. In der Pressemitteilung zur Eröffnung der dreimonatigen Bespielung unter dem Titel Volkspalast heißt es zu ‚Baumaßnahmen':
„Von den drei Bauteilen des Palastes – Volkskammersaal, Foyer, Großer Saal – wird nur das zentrale transparente Foyer auf zwei Ebenen für Veranstaltungen bis zu 1000 Personen umgebaut und gesichert. Die Umbaumaßnahmen werden so ausgeführt, dass die Transparenz und momentane Rohheit des Gebäudes erhalten bleiben. Es ist nicht geplant, Tribünen einzubauen. Das Publikum wird stehen oder gemeinsam durch den Raum geführt."[34] Die technische Einrichtung für diese Nutzung war gegenüber der zunächst in der Machbarkeitsstudie von Studio Urban Catalyst vorgeschlagenen Nutzung und deren Einrichtungskosten stark reduziert worden[35]. Studio Urban Catalyst hatte in dieser ersten Studie, die in einer Ausstellung im November 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, noch die Nutzung des Volkskammersaals „als aufgrund seiner Geschichte und Symbolik, sowie seiner räumlichen Beschaffenheit (Höhe von ca. 14 m) als die interessanteste und attraktivste Option"[36] vorgeschlagen.
Zur Bespielung blieb also mit dem Foyer ein großer, offener und transparenter Raum mit verschiedenen Zonen und Durchblicken, der erst durch temporäre Einbauten ge- und unterteilt werden musste und der das Provisorische und Improvisatorische als Gestus und Atmosphäre mitlieferte. Vor allem aber prägte den Raum / Ort eine durch die Rohheit und die Dimension des Hauses hervorgebrachte spezifische Monumentalität sowie ein durch die vergangene Nutzung eingeschriebenes ‚Eigenleben'. Dies sind Elemente, die die Faszination von Künstler*innen für solcherart found spaces[37], die zu eigenständigen Akteuren werden, ausmachen können. Eine mögliche Dominanz und Ästhetisierung des Gebäude-Skeletts, die seine Nutzung übertrumpfen könnte, wurde u. a. auf dem Symposium Fun Palace 200X thematisiert[38].
(...)
Der soziale Hintergrund vieler Zwischennutzer ist prototypisch für die sich wandelnden gesellschaftlichen Prozesse in den einst fordistisch geprägten Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre. Zwischennutzer sind Pioniere anderer Raumnutzungen und zunehmend instabiler, entinstitutionalisierter Lebensweisen. Die Entwicklung schlägt sich etwa in den immer schneller wechselnden Beschäftigungsverhältnissen sowie in der Fülle an Freiberuflern, Kleinunternehmern, Teilzeitbeschäftigten nieder. (...) Die gezielte Vernetzung und der Aufbau möglichst breit gefächerter Wissensmilieus gewinnen für den Einzelnen, aber auch für Städte insgesamt an Bedeutung.
(...)
Im Politischen und Kulturellen zeichnen sich heutige temporäre Nutzungen durch eine große Permissivität aus. Die Bedeutung der entstehenden Räume und Programme liegt in ihrem zumeist öffentlichen Charakter, der für das jeweilige städtische Leben und damit auch für Identität und Image der jeweiligen Stadt eine wesentliche Rolle spielt.
Aus: Einführung, in: Philipp Oswalt, Klaus Overmeyer und Philipp Misselwitz (Hg.): Urban Catalyst. Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln. Berlin 2014: 7-15.
Im November 2003 legte die Initiative ZwischenPalastNutzung in Kooperation mit drei international renommierten Kurator*innen (Hannah Hurtzig, Hans-Ulrich Obrist und Boris Ondreicka) unter dem Titel Chance der Republik: 1000 Tage ein Konzept für die Programmierung und Bespielung vor. Es beschrieb interessanterweise nicht nur die drei Bereiche Politik (Haus der Rede), Kommunikation (Haus des Tausches) und Unterhaltung (Haus der Freude) als Basics des Programms, sondern definierte unter dem Stichwort ‚Spielregeln‘ auch ein ausgefeiltes Verfahren der Auswahl, Finanzierung und Nutzungszeiträume, das eine Mischung aus kuratorischem Agieren und Selbstverwaltung verfolgte.[39] Die programmatisch benannten drei Bereiche knüpfen einerseits an die drei auch im Palast der Republik vertretenen, gesellschaftlichen Felder an, lassen sich aber auch als eine Fortschreibung von Ideen zur Programmierung des historischen Fun Palace lesen. Und sie machen deutlich, dass dieser Ort ein breites Spektrum kultureller Aktivitäten zeigen und initiieren wird, das die getrennten Präsentationen klassischer Kunstinstitutionen und die der Pop- bzw. der Klubkultur durchstreichen wird.
Die Mischung aus Selbstorganisation der eingeladenen Projekte mit gleicher Grundfinanzierung pro Tag für alle, die natürlich durch weitere Mittelakquirierung der Projekte ergänzt werden konnte, und zeitlich limitierter Kurator*innentätigkeit entsprach einer Entwicklung der zeitgenössischen Kunstszene – auch der der szenischen oder performativen Künste –, in denen Kurator*innen eine wesentliche Funktion für die Profilierung von Programmen und deren diskursiver Kontextualisierung übernommen hatten.[40] Die Formulierung der ‚Spielregeln‘ schlug jedoch eine neuartige Verbindung von Selbstorganisation und Kuration vor.
Realisiert werden konnte dann nur eine gut dreimonatige Bespielung, von August bis Anfang November 2004, unter dem Titel Volkspalast, für deren Programm vor allem Amelie Deulfhard als künstlerische Leiterin der Berliner sophiensaele und Matthias Lilienthal als künstlerischer Leiter des HAU Berlin verantwortlich waren[41] -– zwei profilierte Kurator*innen der Berliner Theater-/Performance- und Tanzszene. Im Programm sind neben bekannten Akteur*innen dieser Szenen auch Veranstaltungen, wie Sportification[42] vertreten, die mit Street-Art, Skateboarding u. a. eine andere, junge städtische Szene involvierte, übrigens von Adidas unterstützt. Markant für das Programm sind zudem die Projekte von raumlaborberlin, wie etwa Fassadenrepublik[43] oder das 2005 als Abschluss installierte raumgreifende Projekt Der Berg[44], zu dem es heißt: „Der Berg bricht den Palast auf und macht ihn zum urbanen Abenteuer: vollständig durchdringbar, begehbar und bespielbar."[45] Hier tritt der performative Umgang mit dem Raum als künstlerische Intervention in eine Reihe mit anderen Formen der Tanz/Theater/Musik-Performance.
Ein Aspekt, der im Programm kaum beachtet und bearbeitet worden war, so lassen die zugänglichen Dokumentationen rückschließen, ist die Vernetzung und Verbindung von Ost/West-Szenen – obwohl gerade dieser Punkt in der repräsentationspolitischen Diskussion um die zukünftige Gestaltung des Ortes eine wesentliche Rolle spielte.
Unterschiede zu den Entwürfen der 1960er Jahre
Im Unterschied zum Fun Palace-Projekt und den Entwürfen zu mobilen Spielräumen der 1960er Jahre gab es in diesem Fall einen, wenn auch sehr kurzen, Praxistest und eine zumindest für temporäres Agieren institutionenübergreifende Initiative zur Bespielung. Es konnte beides, sowohl die Programmierung des Ortes / Gebäudes wie die der künstlerischen Veranstaltungen, erprobt werden. Interessant und wichtig für Fragen der Modellbildung wäre allerdings die Möglichkeit gewesen, dass die besonderen ‚Spielregeln' für die Auswahl und die Realisierung der Bespielung hätten ausprobiert werden können. Geprägt sowohl von Erfahrungen aus der Besetzungsbewegung der 1980er Jahre wie auch durch die Institutionalisierung der sgn. freien Szene in spartenübergreifend kuratierten Häusern hätten diese Spielregeln ihre Praxistauglichkeit erweisen können und damit zur Untersuchung einer Frage beitragen können, die auch in den Debatten auf dem Kongress Fun Palace 200X eine wichtige Rolle spielte: Wie findet man Entscheidungsverfahren zwischen Regulierung / Kontrolle und Offenheit / Zugänglichkeit?
Ein weiterer entscheidender Unterschied zu den vorgestellten Beispielen aus den 1960er Jahren ist die Um- oder in diesem Fall Zwischennutzung von Gebäuden, die ihrer ursprünglichen Funktionen enthoben worden sind. Dieser Aspekt – der aus der Veränderung der ökonomischen Strukturen hervorgegangen ist, die zu einer Stilllegung zahlreicher Industrieanlagen geführt haben – ist ein Merkmal der Orte und Häuser, die seit den 1980er Jahren in Deutschland für die sgn. freie Theater- und Kunstszene entstanden. In den Debatten des o. g. Kongresses spielt die Zwischen/Um- und Nachnutzung sowohl als Teil eines nachhaltigen Umgangs mit städtischen Ressourcen eine Rolle, aber auch als anderes Verständnis von Architektur, zu deren Zentrum „Transformation als kollektives Experiment" (Herreros)[46] werden soll. Obrist ordnete dieses Verständnis in den Kontext einer Kritik an zeitgenössischer Architektur ein, die nur noch die skulpturalen Eigenheiten des Gebäudes zu feiern weiß: „Die gesamte Diskussion über Kultureinrichtungen war bisher nur durch ihr Äußeres bestimmt, wobei das Guggenheim-Museum in Bilbao ein extremes Beispiel für diese Fassadenbesessenheit ist. Es ist interessant, sich sehr dichte Innenräume anzusehen. Zum Beispiel im ICA der späten 1950er Jahre."[47]
Die Idee der Nachhaltigkeit sowie der architektonischen Transformation und Erhaltung stößt sich allerdings an der Temporalität der hier praktizierten Nutzungspraxis, die ja bei Price / Littlewood sogar zum Programm geworden war. In welcher Form diese beiden Aspekte für zukünftige Nutzungen und Gebäudearten zusammengedacht und weiterentwickelt werden könnten, war eine in den Diskussionen angesprochene Aufgabe.[48] Verschiedene Teilnehmer*innen sprachen von einem völlig neuen Typ von öffentlichen Gebäuden, deren Sinn und Form weiter auszuarbeiten sei (Regina Bittner), und binden dies – wie z. B. Arnold Reijndorp – an die auch schon für den historischen Fun Palace deutlich gewordene Frage nach einer Konzeption zwischen Regulierung und Offenheit zurück:
„In den nächsten zwei Jahren, in denen das Palastgebäude noch für die Öffentlichkeit zugänglich ist, sollte man nicht mit Programmen, sondern mit der Beherrschbarkeit und Lenkung dieses Projektes experimentieren, ganz im Sinne von Cedric Price. (...) Diese neue Typologie von Gebäuden für die Öffentlichkeit basiert auf unkontrollierter Kontrolle, oder – vielleicht besser – auf kontrollierter Nichtkontrolle."[49] Mark Wigley hat sich in einem Vortrag / Text zum historischen Fun Palace mit genau diesem Aspekt auseinandergesetzt und Cedric Prices Arbeit als Architektur-Forschung zu dieser Frage interpretiert [Wigley 2005: 89-103].
Variabilität, Temporalität und transdisziplinäre Programmierung zwischen Kunst, Unterhaltung, Politik und Wissensgenerierung, die bereits für die Beispiele der 1960er Jahre charakteristisch waren, werden nun ergänzt durch:
- Formen der Aneignung und Überschreibung solch historischer Gebäude (found spaces), die aufgrund der Raumdimensionen Variabilität und Vielfalt von Formaten ermöglichen, entwickelt werden;
- konzeptionelle Verfahren der Entscheidung über die Programmierung, die „kontrollierte Nichtkontrolle" (Reijndorp) ermöglichen sollen.
Abb. 8: Cedric Price, Perspective sketch for Fun Palace, ca. 1963
V. Bewegliche Architekturen – Aspekte modellbildender Szenarien
Die Untersuchung der drei Beispiele hat deutlich gemacht, dass Aspekte der Modellbildung, verstanden als solche, die in die weitere Arbeit an zukünftigen Orten und Häusern für die Aufführungskünste (und anderen kulturellen Aktivitäten) eingehen, von beiden Seiten gedacht und experimentell erprobt werden müssen: von der Beweglichkeit der Programmierung und Bespielung her und von der Beweglichkeit der Architektur.
Beweglichkeit der Programmierung heißt in all diesen Fällen, dass nicht mehr die auf eine Kunstform gerichtete Präsentation den Ort / das Gebäude bestimmt, sondern dass eine vielfältige kulturelle und künstlerische Nutzung für einen beweglichen Zugang und die Verschränkung unterschiedlicher Nutzer*innengruppen und Interessen sorgt. Für die Entwurfsbeispiele der 1960er Jahre, der zugrundeliegenden Konzeption von Programmierung – explizit im Fun Palace-Projekt – und deren theoretischer Kontextualisierung, z. B. bei den zitierten Autoren Friedman und Hansen, findet man eine radikale Nutzer*innen-Perspektive, die sowohl die Künstler*innen, die die Häuser zur Vorführung und Produktion nutzen, wie deren Zuschauer*innen und Akteur*innen anderer Formate einbeziehen möchte.
Im 1000 Tage-Konzept zur Bespielung des Palast der Republik-Skeletts findet sich eine interessante Idee zur Verbindung von Formen der selbstverwalteten Bespielung und der kuratorischen Programmierung. Dies ist ein Anstoß, über weitere Formen von „nichtkontrollierter Kontrolle" nachzudenken.
Bewegliche Architekturen heißt in all diesen Beispielen: dass Häuser, Gebäude, Orte entstehen, die nicht mehr nur einer kulturellen Nutzung zur Verfügung stehen und normativ entsprechen, sondern dass eine Gebäudehülle entsteht, die variabel, modular etc. zu einem ‚performative space' wird. Die ‚found spaces' der Zwischen- und Umnutzung mit den ihnen eingeschriebenen historischen Spuren werden nicht allein unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit von Bauen und Nutzen, sondern auch als ästhetische und atmosphärische Eigenheiten, wichtiger Teil von beweglichen Architekturen.
Modellierungen für zukünftige Orte / Häuser der (Aufführungs)Künste können an solchen Aspekten ansetzen und versuchen, Antworten darauf zu finden, wie Veränderungen in den Prozessen der Programmierung (von künstlerischen Produktionsweisen und kultureller Nutzung) mit einem prozesshaften Umgang von Architektur und Gebäuden verschränkt werden kann. Oder wie es das Londoner Forschungsprojekt Making Cultural Infrastructure in einem Papier formulierte:
„How do we create in the design of a new building itself the opportunity to revisit, to change mind, admit that things are not right?" [Bingham-Hall / Kaasa 2016: 10]
To be continued.
Literatur