Homo ludens, BRD.
Zu Werner Ruhnaus Spielraumkonzeptionen
Jan Lazardzig (Berlin)
Die Spielraumkonzeptionen des Architekten Werner Ruhnau (1922-2015) sind eng mit der gesellschafts- und architekturpolitischen DNA der bundesrepublikanischen Nachkriegsmoderne verwoben.[1] Von den modernen Theaterbauten in Münster und Gelsenkirchen in den 1950er-Jahren, die programmatisch für Offenheit und Transparenz, Gemeinschaft und Mündigkeit stehen, über die variablen Spielraumentwürfe vermittels eines Podienklaviers bis hin zur Entwicklung der Spielstraße als Teil des Kulturprogramms der Olympischen Spiele 1972 in München, die auf kommunikationstheoretischer Grundlage Formen der Spektakelkritik spielerisch-partizipatorisch realisierte, lässt sich ein post-heroisches Verständnis von Architektur als Spielraum nachzeichnen, das unterschiedliche, moderneskeptische Identifikationsangebote für eine totalitaristisch geprägte Gesellschaft unterbreitete. Ruhnaus Spielraumkonzeptionen, die in der Regel aus kollaborativen, partizipativen Arbeitsformen entstanden, können als Befragung von Mensch und Architektur im Zeichen einer anti-totalitären Moderne verstanden werden. [vgl. Hesse 2002: 2-13] Ruhnau, der 1950 seine kriegsbedingt verzögerte Ausbildung zum Architekten abgeschlossen hatte, adressiert die Möglichkeit des architektonischen Neubeginns in Deutschland als Frage an die Humanität des Neuen Bauens, welches sich an menschlichem Maß und gemeinschaftlichem Zusammenleben zu orientieren habe. [vgl. Ferdinand-Ude 2002: 14-30]
Der Theaterbau nimmt in Ruhnaus Schaffen eine Zentralstelle ein. Als Ort der Gemeinschaftsbildung und des regelbasierten Handelns wird er zu einem Lehr- und Erprobungsraum für die demokratische Gesellschaft. Ruhnau bezieht sich später explizit auf den 1945 verstorbenen niederländischen Kulturphilosophen Johan Huizinga, der die anthropologische Kategorie des homo ludens, des spielenden Menschen in dem gleichnamigen Essayband von 1939 als kulturstiftend im Unterschied zum homo faber, dem schaffenden / arbeitenden Menschen, beschrieben hatte.[2] Im Spiel würden, so Huizinga, Gemeinschaftsverbände ins Leben gerufen, die regelbasiert seien, die aber zugleich kein materielles Ziel verfolgten, keinen unmittelbaren Nutzen hätten. [Huizinga 1956: 20] Freie Handlungen würden auf diese Weise im Spiel ermöglicht. Bei Ruhnau drückt sich die Freiheit der Handlung im Spiel in der Variabilität der Spielräume aus. Dabei wird im Wesentlichen eine Flexibilisierung des Aufführungsortes, weg vom Guckkastenprinzip, angestrebt. Hinzu tritt die Immaterialisierung der Architektur, die den exklusiven Spielraum ‚Theater’ potentiell in den Stadtraum ausstrahlen lässt. Architektur solle, so heißt es im Umfeld des Gelsenkirchener Theaters unter Rückbezug auf eine Vitruvianische Figur, allein als Hülle zur „Klimatisierung des Raumes“, als Schutz vor den Elementen dienen. [Lehmann-Kopp 2009: 15-23] Grundsätzlich ist eine Ambivalenz in den Spielraumkonzeptionen bei Ruhnau zu beobachten, die aus dem Umgang mit Regeln und dem räumlich-induzierten Spiel-Imperativ resultiert. So ist Spiel hier nicht in erster Linie als Möglichkeit der Partizipation zu verstehen, sondern als ein kognitiver Appell an die ludische Natur des Menschen, als Aufruf, sich selbst im Gesellschafts-Spiel als Mensch zu realisieren (im doppelten Sinn). Ruhnaus architektonische Kritik an einem klassischen Modell der Schaubühne greift also in der Spiel-Aufforderung zugleich auf einen zentralen Topos der Aufklärung zurück, nämlich qua Betrachtung zu Einsicht und Besserung zu gelangen.
Der homo ludens ist bei Ruhnau als eine Kritik an der Ausrichtung vieler Vertreter des Neuen Bauens am Formprinzip der Funktion zu verstehen. Ruhnau begegnet dem Prinzip „form follows function“ mit der Idee und Praxis des Spielraums – im Hegelschen Sinne ließe sich vielleicht sogar von einer Aufhebung des Funktionsraumes im Spielraum sprechen. Die Funktion des Spielraums, freie Handlung zu ermöglichen, schlägt sich bei Ruhnau im Leitbild des offenen, variablen Raumes nieder. Ausgehend von der Funktionsbestimmung des Theaters für die demokratisch verfasste Gemeinschaft (Münster und Gelsenkirchen) soll im Folgenden die sukzessive Aufhebung des Funktionsraumes im Spielraum über die variablen Bühnen (Entwürfe für Düsseldorf und Ulm) bis hin zur Entwicklung der Spielstraße für München 1972 nachgezeichnet werden.
I. Transparenz, Offenheit und Anti-Monumentalität
In ihrem Buch The Transparent State (2005) analysiert Deborah Barnstone die Ideologie der Transparenz im öffentlichen Bauen der jungen Bundesrepublik. Im Mittelpunkt des Buches steht die Auseinandersetzung mit Hans Schwipperts Bau des „Bundeshauses“ (1949), dem westdeutschen Parlamentsgebäude in Bonn. Transparenz, Offenheit und Anti-Monumentalität werden, so Barnstone, im kritischen Rückgriff auf die Traditionen des Neuen Bauens der 1920er-Jahre in der Nachkriegsmoderne zum Konstruktionsprinzip für den Parlamentarismus.
Auch im Theaterbau der jungen Bundesrepublik wird Transparenz zum Leitmotiv einer sich als modern und offen gebenden Gesellschaft. [vgl. Blümle / Lazardzig 2012: 9-37 und Lazardzig 2014: 29-42]. Der monumentale Musentempel, Theaterbautypus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wird zu Beginn der 1950er-Jahre, maßgeblich durch eine Generation junger Architekten bzw. solcher, die um den Anschluss an internationale Entwicklungen des Neuen Bauens, des International Style, des Konstruktivismus und Modernismus bemüht sind, zum Abstoßungspunkt. Wettbewerbsbeiträge für Mannheim, Kassel, Münster, Gelsenkirchen, Köln unterziehen das durch Opazität und grave Monumentalität charakterisierte Tempelmodell des Theaters einer mitunter radikalen Repräsentationskritik. [vgl. Storck 1971: 249-393] Im Stadttheater Münster wird zu Beginn der 1950er-Jahre durch das Architektenteam um Werner Ruhnau (Ruhnau, von Hausen, Rave, Deilmann) Transparenz – ganz ähnlich wie bei Schwippert – als Ausdruck von Offenheit, Egalität und Anti-Monumentalität realisiert (Abb. 1). Transparenz zielt hier auf die Regeln des Theaters und seiner Architektur in einer demokratischen Gesellschaft. Dies geschieht in einem überwiegend restaurativen, von dem Wiederaufbau des mittelalterlichen Stadtkerns bestimmten Umfeld.
Abb. 1: Stadttheater Münster, Postkartenmotiv aus den 1950er-Jahren.
Ruhnaus theaterkonzeptionelle Planungen gingen weit über das von den kommunalen Bauträgern Geforderte hinaus. So war der Bau zweigliedrig, d. h. mit einem angeschlossenen, multifunktionalen Blackbox-Theater konzeptioniert. Ein Modell aus den 1950er-Jahren zeigt das ursprüngliche Vorhaben. Dabei ist die Staffelung des Haupthauses im kleinen Haus wieder aufgegriffen. [vgl. G.K. 1956: 771] Erst sehr viel später (Anfang der 1970er-Jahre) sollte das kleine Haus nachträglich hinzugefügt werden. [Lorenz 1983: 18-20] Während der Hauptbau das Guckkasten-Prinzip nicht wesentlich außer Kraft setzte, basierte der projektierte Adjunktbau auf einem durch Heinrich Tessenows / Adolphe Appias Hellerauer Festspielhaus (1910/11) inspirierten Einraum-Prinzip, welches, angeregt durch Walter Gropius‘ Totaltheaterkonzeption (1927), eine Vielzahl von Spielsituationen ermöglichen sollte. Guckkasten-, Arena-, Raumtheater sollten hier gleichermaßen realisierbar sein. Erst der Nachfolgebau des Münsteraner Architektenteams für Gelsenkirchen (1956-1959) wurde dann von Beginn an als Doppelanlage realisiert.
II. Klimazonen: Immateriell und variabel
Der Wiederaufbau deutscher Innenstädte nach dem Krieg folgte den städtebaulichen Imperativen des automobilen Individualverkehrs.[4] In der BRD verband sich mit dem Leitbild der autogerechten Stadt nicht nur das Versprechen der individuellen Mobilität und der Freiheit, sondern auch ein Anreiz zum Erklimmen der Wohlstandsleiter. Im Freiheits- und Prosperitätsversprechen der Nachkriegszeit sind Individualität und Automobilität auf das engste miteinander verbunden.
Die Theaterbauten in Münster und Gelsenkirchen reflektieren nicht nur auf je eigene Weise den automobilen Stadtraum, sondern greifen auch in ihn ein. In Münster wird durch die Schrägstellung des Gebäudes zur rechtwinkligen Straßenführung ein kleiner, von Norbert Krickes Fassadenskulptur (im abstraktionsskeptischen Volksmund „Picassoblitz“ genannt) definierter Vorplatz geschaffen. Dieser Platz ist der Verkehrssituation regelrecht abgerungen. Von hier aus lässt sich, dies hat Claudia Blümle zeigen können, die Anti-Monumentalität des Gebäudes erleben. [vgl. Blümle / Lazardzig 2012: 25] Viel entschiedener ist die Situation aber noch in Gelsenkirchen, wo das Theater von der Peripherie das Zentrum in den Blick nimmt und – im Zeichen des Spielraumes – den Ausgangspunkt einer anti-automobilen Stadtraumgestaltung bilden sollte.
Abb. 2: Stadttheater Gelsenkirchen, Postkartenmotiv aus den 1950er-Jahren.
Im großen Haus öffnet eine durch den Industriebau bekannte Glasfassadengestaltung das Foyer zum Stadtraum (Abb. 2). Visuell geprägt wird der Foyerbereich durch insgesamt vier monumentale Arbeiten, die Yves Klein in Zusammenarbeit mit Werner Ruhnau anfertigte.[5] Die ultramarinblauen Bildtafeln und Schwammreliefs, direkt auf die Wand gebracht, sollten, laut Ruhnau, als Evokationen des unbegrenzten Raumes dessen Einheit zum Ausdruck bringen. Architektur, so will diese Setzung unterstreichen, wird dadurch allein als klimatisch notwendige Hülle, als klimatisierter Raum begriffen. Der Gedanke der Klimahülle, er findet sich bereits bei Vitruv (Libri Decem I.2), gehört zu den Anthropologika der Architektur. Die primäre Motivation der Architektur sei die Sicherung des Menschen vor den Naturgewalten bzw. klimatischen Einflüssen. Mit diesem für die Nachkriegssituation emblematischen Rekurs auf den Anfang der Architektur (und ihren „ersten“ Theoretiker) verbindet sich bei Ruhnau eine Idee der Erneuerung, die aus dem Spielraum in den Stadtraum ausstrahlt.
Unter den am Bau in Gelsenkirchen beteiligten Künstlern – sie bildeten gemeinsam mit den Architekten die Bauhütte – war es insbesondere Yves Klein, mit dem Ruhnau an der Idee eines in den Stadtraum hinausgreifenden Spielraumes arbeitete. Der von Ruhnau geforderte Ausbau des Vorplatzes des Theaters, darunter auch ein durch Ströme aus komprimierter Luft beschirmtes Theatercafé, war gemeinsam mit Yves Klein als ein Wahrnehmungsfeld zur Sensibilisierung der Sinne konzipiert (Abb. 3).[6]
Abb. 3: Entwurf Vorplatzgestaltung Gelsenkirchen, 1958/59 von Werner Ruhnau und Yves Klein und Modell des „Tempel der Elemente“. Aus: Archiv Baukunst 2009: 37.
Hier wurde mit den Elementen experimentiert. Installationen aus Luft, Wasser und Feuer griffen die Idee des immateriellen Bauens auf und adressierten und sensibilisierten zugleich die Passanten. Der Stadt zugewandt, ging es Ruhnau dabei um eine emphatische Entgrenzung des Spielraumes ‚Theater’ in den Stadtraum. Was in Münster als Einlassung des Theaters in den Bewegungsraum Stadt begann, findet hier eine konsequente Fortsetzung in dem Versuch, vor dem Theater eine Platzsituation zu schaffen, die als Klimazone in Richtung Stadtzentrum führt. Ruhnau experimentierte in dieser Zeit nicht nur mit Dächern aus komprimierter Luft, dem Einsatz der Elemente Feuer und Wasser, sondern auch mit der aus dem Antiken Theater übernommenen Idee des Sonnensegels (Abb. 4). Inspiriert durch Frei Ottos 1954 publizierte Abhandlung Das hängende Dach ging es hier um eine Verdichtung städtischen Lebens unter gemeinschaftlichen Klimahüllen (gegenüber der individuellen Klimakapsel Auto). Perspektivisch ist also eine Überwindung der Verkehrsgerichtetheit und damit der Funktionsgebundenheit des gestalteten öffentlichen Raumes angestrebt. Diese nimmt in der Variabilität, Multi-Perspektivität des Theaters ihren / einen Ausgangspunkt.
Abb. 4: Luftdachexperiment von Yves Klein und Werner Ruhnau bei der Fa. Küppersbusch in Gelsenkirchen. Aus: Stachelhaus 1976: 43.
In Ruhnaus Forderungen an den modernen Theaterbau (1960), die gleichsam eine Verdichtung und Weiterentwicklung seines in Münster und Gelsenkirchen erworbenen Theaterbauwissens darstellen, sind in nuce die Prämissen der Spielraumgestaltung zusammengefasst:
1. Beseitigung aller festen architekturbildenden Decken, Wände und Böden so weit als möglich, materiell wie optisch. Es muß angestrebt werden, daß der Theaterraum nun vom Theater selbst erzeugt wird. Dies ist die lebendige veränderliche Beziehung zwischen Akteur und Spektateur.
2. Baulich müssen Bühnenteil und Zuschauerteil ebenfalls bis zur Austauschbarkeit integriert werden. Nicht vom Architekten, sondern vom Theater wird jedesmal neu bestimmt, wo Bühne ist und wie sie aussieht. Bühne muß ein veränderlicher Ort sein und nicht der vom Architekten festgelegte Raum.
3. Die Zone des Theaters oder der Ort des Geschehens muß unter Aufgabe der introvertierten Exklusivität frei im städtischen Großraum stehen. [Ruhnau 1960: 309]
Eine Anwendung hatten diese Prinzipien in den Wettbewerbsbeiträgen für die Theater(neu)bauten in Bonn (1958) und Düsseldorf (1959) gefunden. Hier führt Ruhnau durch die sogenannten Podienklaviere Variabilität und Immaterialisierung im Theaterbau zusammen. Inspiriert war die durch Hubelemente veränderbare Raumanordnung durch Adolphe Appias Praktikable.[7] Der variable Aufführungsort – Guckkastentheater, Arena, Raumtheater sind mit den Hubelementen gleichermaßen realisierbar – ist lediglich durch einen Glasüberwurf von der Umwelt getrennt (Abb. 5).
Abb. 5: Podienklavier-Entwürfe für Bonn und Düsseldorf (1958/1959).
Aus: Ruhnau 1979: 30.
In seinem Wettbewerbsbeitrag für Düsseldorf schlug Ruhnau für das Große und Kleine Haus einen gemeinsamen „polymorphen Hallenbau“ vor, „dessen Innenvolumen zunächst unsepariert Foyer, Aufführungsorte und Nebenbühnen bzw. Abstellflächen vereinte“. [Koneffke 1999: 326] Über ein „Raumklavier“ war der gesamte Boden beweglich, so dass „überall Mulden, Hügel, Zuschauerarenen oder Spielpodien“ entstehen konnten. [Ruhnau 1960: 10] In den Folgejahren arbeitete Ruhnau – etwa zusammen mit Ferdinand Kriwet (1968) – an der Idee „klimakontrollierter Verkehrszonen“. Einer gemeinsamen Publikation ist ein Manifest vorangestellt, das die Grundannahmen der Ruhnauschen Theater- und Spielraumgestaltung in zeittypischer Apodiktizität wiedergibt:
III. Spielstraße München 1972
Die Olympischen Sommerspiele in München 1972 dienten der Bundesrepublik als ein Schaufenster für Demokratie und Modernität, Offenheit und Toleranz. Auf internationaler Bühne wollte die Bundesrepublik – in bewusster Juxtaposition zu den Nazi-Spielen von 1936 – ein anderes, ein gewandeltes Deutschland zeigen. Verstärkt wurde dies noch einmal durch die Kalte-Kriegs-Situation und den ideologisch motivierten Systemwettstreit zwischen BRD und DDR. [vgl. Schiller / Young 2010] Nicht nur die Stadionarchitektur, sondern auch das künstlerische Begleitprogramm sollten Demokratie und Modernität, Offenheit und Toleranz realisieren. Ruhnaus Entwicklung einer Spielstraße als Teil des Kulturprogramms der Olympischen Spiele 1972 in München, folgte den Entwürfen seines „Mobiltheaters“ als Möglichkeit einer variablen Versammlungsstätte, war aber im Gegensatz zu den Podienklavieren als temporäre Einrichtung allein für die Dauer der Spiele gedacht (Abb. 6). Das Konzept der Spielstraße war von Ruhnau aus Anlass der Spiele entwickelt worden, wies aber darüber hinaus. Als Anwendungsbereich sah Ruhnau die Einrichtung von „Zonen für freie, lebendige Kommunikation“, die der „Rückverflechtung ghettoisierter Lebensbereiche“ (Arbeits-, Einkaufs-, Wohn-, Bildungs- und Erholungsvierteln) dienen sollte.
Abb. 6: „1. Spielstrasse München 1972“. Aus: Spielstraßen 1972: o. P. [11].
Die Spielstraße, die Ruhnau unter Mitarbeit eines kuratorischen Teams realisierte,[8] war rund um den Olympiasee auf den zum Olympiapark umgestalteten Schuttbergen des kriegszerstörten München angelegt, in Sichtweite der ‚hängenden Dächer’ des Olympiastadions von Frei Otto. Zentrale Elemente waren ein nach griechischem Vorbild gestaltetes „Theatron“ unterhalb der Schwimmhalle, eine „Budenhalbinsel“, eine „Medienstraße“ und ein „Multivisionszentrum“.[9] Das medien- und künsteübergreifend angelegte Programm umfasste für die Dauer der Spiele (täglich von 10-22 Uhr) Theater und Performance (Straßentheater, Kinder- und Jugendtheater, Multimediatheater, Pantomime, Clowns, Artisten, Showeinlagen), Bildende Kunst (Interventionen, Performances, Ikebana), Musik (Free Music, Jazz / Jazzfilm, Folklore), Materialspiele (Klangobjekte, haptische Objekte, Duftereignisse), Film-, Dia-, Licht- und Klanginstallationen sowie sogenannte Multivisionen. Im Multivisionszentrum wurde nachts gesendet, was tagsüber auf der Spielstraße geschah, durchmischt mit vorbereiteten Programm- und Livesendungen aus den Fernsehanstalten.
Die Spielstraße war eine betont amateurhafte Gegenveranstaltung zum Hochleistungswettstreit der Athleten. Professionalität wurde gezielt unterlaufen. Improvisation, Partizipation und Provokation waren die wichtigsten Modi der Kritik an der kapitalistischen Leistungsideologie Olympias sowie an der Kommerzialisierung des Sports. Dies wurde etwa in der Performance von Le Grand Magic Circus (Paris) und der Mixed Media Company (Berlin) deutlich, die die Geschichte der Olympischen Spiele thematisierten. Oder etwa in der Installation des Künstlers Timm Ulrichs, der in einem gigantischen Hamsterrad mit dem Schriftzug „Li[f]e is competition“ jeden Tag eine Marathonstrecke zurücklegte (Abb. 7).
Abb. 7: Timm Ulrichs, Laufrad, Spielstraße München 1972.
Aus: Spielstraßen 1972: o. P. [33].
Ein Programmheft für die Spielstraße gab genaue Verhaltensregeln für die Besucher. Dem Publikum war die Partizipation nur nach Aufforderung durch die Künstler gestattet. Auch hier geht es nicht in erster Linie um Nachvollzug, sondern um ein Erkennen der ludischen Natur des Menschen, die durch die Leistungsimperative überformt ist. Am eindrucksvollsten erscheint dieses Thema in der Performance der japanischen Performance-Gruppe Tenjo Sajiki um Shuji Terayama (Abb. 8) [Ridgley 2010]
Abb. 8: Tenjo Sajiki, Shuji Terayama, Tokyo. Aus: Spielstraßen 1972: o. P. [29].
Nur wenige Stunden vor dem terroristischen Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft wird unter Einbeziehung der gesamten Landschaft, im See, auf den Hängen, auf Szenenpodesten und mitten im Publikum des Theatron der Umschlag von Spiel in Gewalt und Terror in Szene gesetzt. Die von einem lauten und eindringlichen, in der Tonalität fast invariablen Elektrosound begleitete Bilderfolge ist in einer (unveröffentlicht gebliebenen) Dokumentation des Theaterhistorikers Victor Glasstone für die BBC eingefangen.[10] Aufgrund der Terrorattacke sollten nur wenige Stunden später alle Aktivitäten der Spielstraße enden.
Die Koinzidenz von Spiel und Terror in München markiert einen Höhe- und Endpunkt der Spielraumentwicklung Werner Ruhnaus. Der Appell an die ludische Natur des Menschen als Antidot gegen Funktionalismus und Totalität, der zu diesem Zeitpunkt bereits nur noch im Modus radikaler Kritik überhaupt hörbar war, verlor in den Folgejahren zunehmend seinen Widerhall.