Homo ludens, BRD.

Zu Werner Ruhnaus Spielraumkonzeptionen

Jan Lazardzig (Berlin)

 

 

 

Die Spielraumkonzeptionen des Architekten Werner Ruhnau (1922-2015) sind eng mit der gesellschafts- und architekturpolitischen DNA der bundesrepublikanischen Nachkriegsmoderne verwoben.[1] Von den modernen Theaterbauten in Münster und Gelsenkirchen in den 1950er-Jahren, die programmatisch für Offenheit und Transparenz, Gemeinschaft und Mündigkeit stehen, über die variablen Spielraumentwürfe vermittels eines Podienklaviers bis hin zur Entwicklung der Spielstraße als Teil des Kulturprogramms der Olympischen Spiele 1972 in München, die auf kommunikationstheoretischer Grundlage Formen der Spektakelkritik spielerisch-partizipatorisch realisierte, lässt sich ein post-heroisches Verständnis von Architektur als Spielraum nachzeichnen, das unterschiedliche, moderneskeptische Identifikationsangebote für eine totalitaristisch geprägte Gesellschaft unterbreitete. Ruhnaus Spielraumkonzeptionen, die in der Regel aus kollaborativen, partizipativen Arbeitsformen entstanden, können als Befragung von Mensch und Architektur im Zeichen einer anti-totalitären Moderne verstanden werden. [vgl. Hesse 2002: 2-13] Ruhnau, der 1950 seine kriegsbedingt verzögerte Ausbildung zum Architekten abgeschlossen hatte, adressiert die Möglichkeit des architektonischen Neubeginns in Deutschland als Frage an die Humanität des Neuen Bauens, welches sich an menschlichem Maß und gemeinschaftlichem Zusammenleben zu orientieren habe. [vgl. Ferdinand-Ude 2002: 14-30]

Der Theaterbau nimmt in Ruhnaus Schaffen eine Zentralstelle ein. Als Ort der Gemeinschaftsbildung und des regelbasierten Handelns wird er zu einem Lehr- und Erprobungsraum für die demokratische Gesellschaft. Ruhnau bezieht sich später explizit auf den 1945 verstorbenen niederländischen Kulturphilosophen Johan Huizinga, der die anthropologische Kategorie des homo ludens, des spielenden Menschen in dem gleichnamigen Essayband von 1939 als kulturstiftend im Unterschied zum homo faber, dem schaffenden / arbeitenden Menschen, beschrieben hatte.[2] Im Spiel würden, so Huizinga, Gemeinschaftsverbände ins Leben gerufen, die regelbasiert seien, die aber zugleich kein materielles Ziel verfolgten, keinen unmittelbaren Nutzen hätten. [Huizinga 1956: 20] Freie Handlungen würden auf diese Weise im Spiel ermöglicht. Bei Ruhnau drückt sich die Freiheit der Handlung im Spiel in der Variabilität der Spielräume aus. Dabei wird im Wesentlichen eine Flexibilisierung des Aufführungsortes, weg vom Guckkastenprinzip, angestrebt. Hinzu tritt die Immaterialisierung der Architektur, die den exklusiven Spielraum ‚Theater’ potentiell in den Stadtraum ausstrahlen lässt. Architektur solle, so heißt es im Umfeld des Gelsenkirchener Theaters unter Rückbezug auf eine Vitruvianische Figur, allein als Hülle zur „Klimatisierung des Raumes“, als Schutz vor den Elementen dienen. [Lehmann-Kopp 2009: 15-23] Grundsätzlich ist eine Ambivalenz in den Spielraumkonzeptionen bei Ruhnau zu beobachten, die aus dem Umgang mit Regeln und dem räumlich-induzierten Spiel-Imperativ resultiert. So ist Spiel hier nicht in erster Linie als Möglichkeit der Partizipation zu verstehen, sondern als ein kognitiver Appell an die ludische Natur des Menschen, als Aufruf, sich selbst im Gesellschafts-Spiel als Mensch zu realisieren (im doppelten Sinn). Ruhnaus architektonische Kritik an einem klassischen Modell der Schaubühne greift also in der Spiel-Aufforderung zugleich auf einen zentralen Topos der Aufklärung zurück, nämlich qua Betrachtung zu Einsicht und Besserung zu gelangen.

Der homo ludens ist bei Ruhnau als eine Kritik an der Ausrichtung vieler Vertreter des Neuen Bauens am Formprinzip der Funktion zu verstehen. Ruhnau begegnet dem Prinzip „form follows function“ mit der Idee und Praxis des Spielraums – im Hegelschen Sinne ließe sich vielleicht sogar von einer Aufhebung des Funktionsraumes im Spielraum sprechen. Die Funktion des Spielraums, freie Handlung zu ermöglichen, schlägt sich bei Ruhnau im Leitbild des offenen, variablen Raumes nieder. Ausgehend von der Funktionsbestimmung des Theaters für die demokratisch verfasste Gemeinschaft (Münster und Gelsenkirchen) soll im Folgenden die sukzessive Aufhebung des Funktionsraumes im Spielraum über die variablen Bühnen (Entwürfe für Düsseldorf und Ulm) bis hin zur Entwicklung der Spielstraße für München 1972 nachgezeichnet werden.

 

I. Transparenz, Offenheit und Anti-Monumentalität

In ihrem Buch The Transparent State (2005) analysiert Deborah Barnstone die Ideologie der Transparenz im öffentlichen Bauen der jungen Bundesrepublik. Im Mittelpunkt des Buches steht die Auseinandersetzung mit Hans Schwipperts Bau des „Bundeshauses“ (1949), dem westdeutschen Parlamentsgebäude in Bonn. Transparenz, Offenheit und Anti-Monumentalität werden, so Barnstone, im kritischen Rückgriff auf die Traditionen des Neuen Bauens der 1920er-Jahre in der Nachkriegsmoderne zum Konstruktionsprinzip für den Parlamentarismus.

Schwippert's interpretation of openness to mean ‘transparency’ has several nuances, some of which relate directly to material, spatial, and formal transparency. He was committed to an unpretentious, anti-monumental architecture that would seem common, and everyday, rather than grand, and pompous. Anti-monumentality was attractive because it was the natural opposite to the traditional monumental scale of state architecture and for Schwippert's generation, the scale of many of the National Socialist projects. […] Taken together, the elements of Schwippert's state architecture begin to define a new national image – one of pluralistic, open, delicate, and fragile modern democracy. To realize his vision, Schwippert adopted the ideology of transparency as the guiding concept for his design.[3] [Barnstone 2005: 120/122]

Auch im Theaterbau der jungen Bundesrepublik wird Transparenz zum Leitmotiv einer sich als modern und offen gebenden Gesellschaft. [vgl. Blümle / Lazardzig 2012: 9-37 und Lazardzig 2014: 29-42]. Der monumentale Musentempel, Theaterbautypus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wird zu Beginn der 1950er-Jahre, maßgeblich durch eine Generation junger Architekten bzw. solcher, die um den Anschluss an internationale Entwicklungen des Neuen Bauens, des International Style, des Konstruktivismus und Modernismus bemüht sind, zum Abstoßungspunkt. Wettbewerbsbeiträge für Mannheim, Kassel, Münster, Gelsenkirchen, Köln unterziehen das durch Opazität und grave Monumentalität charakterisierte Tempelmodell des Theaters einer mitunter radikalen Repräsentationskritik. [vgl. Storck 1971: 249-393] Im Stadttheater Münster wird zu Beginn der 1950er-Jahre durch das Architektenteam um Werner Ruhnau (Ruhnau, von Hausen, Rave, Deilmann) Transparenz – ganz ähnlich wie bei Schwippert – als Ausdruck von Offenheit, Egalität und Anti-Monumentalität realisiert (Abb. 1). Transparenz zielt hier auf die Regeln des Theaters und seiner Architektur in einer demokratischen Gesellschaft. Dies geschieht in einem überwiegend restaurativen, von dem Wiederaufbau des mittelalterlichen Stadtkerns bestimmten Umfeld.

 

Abb1

Abb. 1: Stadttheater Münster, Postkartenmotiv aus den 1950er-Jahren.


Ruhnaus theaterkonzeptionelle Planungen gingen weit über das von den kommunalen Bauträgern Geforderte hinaus. So war der Bau zweigliedrig, d. h. mit einem angeschlossenen, multifunktionalen Blackbox-Theater konzeptioniert. Ein Modell aus den 1950er-Jahren zeigt das ursprüngliche Vorhaben. Dabei ist die Staffelung des Haupthauses im kleinen Haus wieder aufgegriffen. [vgl. G.K. 1956: 771] Erst sehr viel später (Anfang der 1970er-Jahre) sollte das kleine Haus nachträglich hinzugefügt werden. [Lorenz 1983: 18-20] Während der Hauptbau das Guckkasten-Prinzip nicht wesentlich außer Kraft setzte, basierte der projektierte Adjunktbau auf einem durch Heinrich Tessenows / Adolphe Appias Hellerauer Festspielhaus (1910/11) inspirierten Einraum-Prinzip, welches, angeregt durch Walter Gropius‘ Totaltheaterkonzeption (1927), eine Vielzahl von Spielsituationen ermöglichen sollte. Guckkasten-, Arena-, Raumtheater sollten hier gleichermaßen realisierbar sein. Erst der Nachfolgebau des Münsteraner Architektenteams für Gelsenkirchen (1956-1959) wurde dann von Beginn an als Doppelanlage realisiert.

 

II. Klimazonen: Immateriell und variabel

Der Wiederaufbau deutscher Innenstädte nach dem Krieg folgte den städtebaulichen Imperativen des automobilen Individualverkehrs.[4] In der BRD verband sich mit dem Leitbild der autogerechten Stadt nicht nur das Versprechen der individuellen Mobilität und der Freiheit, sondern auch ein Anreiz zum Erklimmen der Wohlstandsleiter. Im Freiheits- und Prosperitätsversprechen der Nachkriegszeit sind Individualität und Automobilität auf das engste miteinander verbunden.

Die Theaterbauten in Münster und Gelsenkirchen reflektieren nicht nur auf je eigene Weise den automobilen Stadtraum, sondern greifen auch in ihn ein. In Münster wird durch die Schrägstellung des Gebäudes zur rechtwinkligen Straßenführung ein kleiner, von Norbert Krickes Fassadenskulptur (im abstraktionsskeptischen Volksmund „Picassoblitz“ genannt) definierter Vorplatz geschaffen. Dieser Platz ist der Verkehrssituation regelrecht abgerungen. Von hier aus lässt sich, dies hat Claudia Blümle zeigen können, die Anti-Monumentalität des Gebäudes erleben. [vgl. Blümle / Lazardzig 2012: 25] Viel entschiedener ist die Situation aber noch in Gelsenkirchen, wo das Theater von der Peripherie das Zentrum in den Blick nimmt und – im Zeichen des Spielraumes – den Ausgangspunkt einer anti-automobilen Stadtraumgestaltung bilden sollte.

 

Abb2

Abb. 2: Stadttheater Gelsenkirchen, Postkartenmotiv aus den 1950er-Jahren.

 

Im großen Haus öffnet eine durch den Industriebau bekannte Glasfassadengestaltung das Foyer zum Stadtraum (Abb. 2). Visuell geprägt wird der Foyerbereich durch insgesamt vier monumentale Arbeiten, die Yves Klein in Zusammenarbeit mit Werner Ruhnau anfertigte.[5] Die ultramarinblauen Bildtafeln und Schwammreliefs, direkt auf die Wand gebracht, sollten, laut Ruhnau, als Evokationen des unbegrenzten Raumes dessen Einheit zum Ausdruck bringen. Architektur, so will diese Setzung unterstreichen, wird dadurch allein als klimatisch notwendige Hülle, als klimatisierter Raum begriffen. Der Gedanke der Klimahülle, er findet sich bereits bei Vitruv (Libri Decem I.2), gehört zu den Anthropologika der Architektur. Die primäre Motivation der Architektur sei die Sicherung des Menschen vor den Naturgewalten bzw. klimatischen Einflüssen. Mit diesem für die Nachkriegssituation emblematischen Rekurs auf den Anfang der Architektur (und ihren „ersten“ Theoretiker) verbindet sich bei Ruhnau eine Idee der Erneuerung, die aus dem Spielraum in den Stadtraum ausstrahlt.

Unter den am Bau in Gelsenkirchen beteiligten Künstlern – sie bildeten gemeinsam mit den Architekten die Bauhütte – war es insbesondere Yves Klein, mit dem Ruhnau an der Idee eines in den Stadtraum hinausgreifenden Spielraumes arbeitete. Der von Ruhnau geforderte Ausbau des Vorplatzes des Theaters, darunter auch ein durch Ströme aus komprimierter Luft beschirmtes Theatercafé, war gemeinsam mit Yves Klein als ein Wahrnehmungsfeld zur Sensibilisierung der Sinne konzipiert (Abb. 3).[6]

 

Abb3

Abb. 3: Entwurf Vorplatzgestaltung Gelsenkirchen, 1958/59 von Werner Ruhnau und Yves Klein und Modell des „Tempel der Elemente“. Aus: Archiv Baukunst 2009: 37.

 

Hier wurde mit den Elementen experimentiert. Installationen aus Luft, Wasser und Feuer griffen die Idee des immateriellen Bauens auf und adressierten und sensibilisierten zugleich die Passanten. Der Stadt zugewandt, ging es Ruhnau dabei um eine emphatische Entgrenzung des Spielraumes ‚Theater’ in den Stadtraum. Was in Münster als Einlassung des Theaters in den Bewegungsraum Stadt begann, findet hier eine konsequente Fortsetzung in dem Versuch, vor dem Theater eine Platzsituation zu schaffen, die als Klimazone in Richtung Stadtzentrum führt. Ruhnau experimentierte in dieser Zeit nicht nur mit Dächern aus komprimierter Luft, dem Einsatz der Elemente Feuer und Wasser, sondern auch mit der aus dem Antiken Theater übernommenen Idee des Sonnensegels (Abb. 4). Inspiriert durch Frei Ottos 1954 publizierte Abhandlung Das hängende Dach ging es hier um eine Verdichtung städtischen Lebens unter gemeinschaftlichen Klimahüllen (gegenüber der individuellen Klimakapsel Auto). Perspektivisch ist also eine Überwindung der Verkehrsgerichtetheit und damit der Funktionsgebundenheit des gestalteten öffentlichen Raumes angestrebt. Diese nimmt in der Variabilität, Multi-Perspektivität des Theaters ihren / einen Ausgangspunkt.

Abb4

Abb. 4: Luftdachexperiment von Yves Klein und Werner Ruhnau bei der Fa. Küppersbusch in Gelsenkirchen. Aus: Stachelhaus 1976: 43.

 

In Ruhnaus Forderungen an den modernen Theaterbau (1960), die gleichsam eine Verdichtung und Weiterentwicklung seines in Münster und Gelsenkirchen erworbenen Theaterbauwissens darstellen, sind in nuce die Prämissen der Spielraumgestaltung zusammengefasst:

1. Beseitigung aller festen architekturbildenden Decken, Wände und Böden so weit als möglich, materiell wie optisch. Es muß angestrebt werden, daß der Theaterraum nun vom Theater selbst erzeugt wird. Dies ist die lebendige veränderliche Beziehung zwischen Akteur und Spektateur.

2. Baulich müssen Bühnenteil und Zuschauerteil ebenfalls bis zur Austauschbarkeit integriert werden. Nicht vom Architekten, sondern vom Theater wird jedesmal neu bestimmt, wo Bühne ist und wie sie aussieht. Bühne muß ein veränderlicher Ort sein und nicht der vom Architekten festgelegte Raum.

3. Die Zone des Theaters oder der Ort des Geschehens muß unter Aufgabe der introvertierten Exklusivität frei im städtischen Großraum stehen. [Ruhnau 1960: 309]

Eine Anwendung hatten diese Prinzipien in den Wettbewerbsbeiträgen für die Theater(neu)bauten in Bonn (1958) und Düsseldorf (1959) gefunden. Hier führt Ruhnau durch die sogenannten Podienklaviere Variabilität und Immaterialisierung im Theaterbau zusammen. Inspiriert war die durch Hubelemente veränderbare Raumanordnung durch Adolphe Appias Praktikable.[7] Der variable Aufführungsort – Guckkastentheater, Arena, Raumtheater sind mit den Hubelementen gleichermaßen realisierbar – ist lediglich durch einen Glasüberwurf von der Umwelt getrennt (Abb. 5).

 

Abb5

Abb. 5: Podienklavier-Entwürfe für Bonn und Düsseldorf (1958/1959).
Aus: Ruhnau 1979: 30.

 

In seinem Wettbewerbsbeitrag für Düsseldorf schlug Ruhnau für das Große und Kleine Haus einen gemeinsamen „polymorphen Hallenbau“ vor, „dessen Innenvolumen zunächst unsepariert Foyer, Aufführungsorte und Nebenbühnen bzw. Abstellflächen vereinte“. [Koneffke 1999: 326] Über ein „Raumklavier“ war der gesamte Boden beweglich, so dass „überall Mulden, Hügel, Zuschauerarenen oder Spielpodien“ entstehen konnten. [Ruhnau 1960: 10] In den Folgejahren arbeitete Ruhnau – etwa zusammen mit Ferdinand Kriwet (1968) – an der Idee „klimakontrollierter Verkehrszonen“. Einer gemeinsamen Publikation ist ein Manifest vorangestellt, das die Grundannahmen der Ruhnauschen Theater- und Spielraumgestaltung in zeittypischer Apodiktizität wiedergibt:

Einer offenen Gesellschaftsform entsprechen offene Theaterspielformen. Offene Theaterspielformen verlangen offene Theaterbauformen. Offene Theaterbauformen schließen alle vergangenen und gegenwärtig gewünschten Theaterspielformen ein. Der Guckkastenbau des Hoftheaters dagegen schließt alle Theaterspielformen außer denen des Guckkastens aus. Offene Theaterspielformen animieren das Publikum zur Auswahl zwischen einzelnen und unterschiedlichen Formteilen. Der Mitspieler kann das Stück innerhalb seiner Regeln verändern. Das Ritual der Gläubigen in der Kirche während der Messe ist hingegen ein Nachvollziehen festgelegter Verhaltensweisen. Offene Formen aktivieren das Publikum. Das Prinzip offener Formen ist die Variabilität. Offene Theaterformen verlangen daher veränderbare Theaterarchitekturen. Variabilität statt Monumentalität. Eine offene Gesellschaft statt einer geschlossenen Gesellschaft. [Freunde Neuer Kunst Dortmund u. a. 1968: o. P. (3)]

 

III. Spielstraße München 1972

Die Olympischen Sommerspiele in München 1972 dienten der Bundesrepublik als ein Schaufenster für Demokratie und Modernität, Offenheit und Toleranz. Auf internationaler Bühne wollte die Bundesrepublik – in bewusster Juxtaposition zu den Nazi-Spielen von 1936 – ein anderes, ein gewandeltes Deutschland zeigen. Verstärkt wurde dies noch einmal durch die Kalte-Kriegs-Situation und den ideologisch motivierten Systemwettstreit zwischen BRD und DDR. [vgl. Schiller / Young 2010] Nicht nur die Stadionarchitektur, sondern auch das künstlerische Begleitprogramm sollten Demokratie und Modernität, Offenheit und Toleranz realisieren. Ruhnaus Entwicklung einer Spielstraße als Teil des Kulturprogramms der Olympischen Spiele 1972 in München, folgte den Entwürfen seines „Mobiltheaters“ als Möglichkeit einer variablen Versammlungsstätte, war aber im Gegensatz zu den Podienklavieren als temporäre Einrichtung allein für die Dauer der Spiele gedacht (Abb. 6). Das Konzept der Spielstraße war von Ruhnau aus Anlass der Spiele entwickelt worden, wies aber darüber hinaus. Als Anwendungsbereich sah Ruhnau die Einrichtung von „Zonen für freie, lebendige Kommunikation“, die der „Rückverflechtung ghettoisierter Lebensbereiche“ (Arbeits-, Einkaufs-, Wohn-, Bildungs- und Erholungsvierteln) dienen sollte.

 

Abb6

Abb. 6: „1. Spielstrasse München 1972“. Aus: Spielstraßen 1972: o. P. [11].

 

Die Spielstraße, die Ruhnau unter Mitarbeit eines kuratorischen Teams realisierte,[8] war rund um den Olympiasee auf den zum Olympiapark umgestalteten Schuttbergen des kriegszerstörten München angelegt, in Sichtweite der ‚hängenden Dächer’ des Olympiastadions von Frei Otto. Zentrale Elemente waren ein nach griechischem Vorbild gestaltetes „Theatron“ unterhalb der Schwimmhalle, eine „Budenhalbinsel“, eine „Medienstraße“ und ein „Multivisionszentrum“.[9] Das medien- und künsteübergreifend angelegte Programm umfasste für die Dauer der Spiele (täglich von 10-22 Uhr) Theater und Performance (Straßentheater, Kinder- und Jugendtheater, Multimediatheater, Pantomime, Clowns, Artisten, Showeinlagen), Bildende Kunst (Interventionen, Performances, Ikebana), Musik (Free Music, Jazz / Jazzfilm, Folklore), Materialspiele (Klangobjekte, haptische Objekte, Duftereignisse), Film-, Dia-, Licht- und Klanginstallationen sowie sogenannte Multivisionen. Im Multivisionszentrum wurde nachts gesendet, was tagsüber auf der Spielstraße geschah, durchmischt mit vorbereiteten Programm- und Livesendungen aus den Fernsehanstalten.

Die Spielstraße war eine betont amateurhafte Gegenveranstaltung zum Hochleistungswettstreit der Athleten. Professionalität wurde gezielt unterlaufen. Improvisation, Partizipation und Provokation waren die wichtigsten Modi der Kritik an der kapitalistischen Leistungsideologie Olympias sowie an der Kommerzialisierung des Sports. Dies wurde etwa in der Performance von Le Grand Magic Circus (Paris) und der Mixed Media Company (Berlin) deutlich, die die Geschichte der Olympischen Spiele thematisierten. Oder etwa in der Installation des Künstlers Timm Ulrichs, der in einem gigantischen Hamsterrad mit dem Schriftzug „Li[f]e is competition“ jeden Tag eine Marathonstrecke zurücklegte (Abb. 7).

 

Abb7

Abb. 7: Timm Ulrichs, Laufrad, Spielstraße München 1972.
Aus: Spielstraßen 1972: o. P. [33].

 

Ein Programmheft für die Spielstraße gab genaue Verhaltensregeln für die Besucher. Dem Publikum war die Partizipation nur nach Aufforderung durch die Künstler gestattet. Auch hier geht es nicht in erster Linie um Nachvollzug, sondern um ein Erkennen der ludischen Natur des Menschen, die durch die Leistungsimperative überformt ist. Am eindrucksvollsten erscheint dieses Thema in der Performance der japanischen Performance-Gruppe Tenjo Sajiki um Shuji Terayama (Abb. 8) [Ridgley 2010]

Abb8

Abb. 8: Tenjo Sajiki, Shuji Terayama, Tokyo. Aus: Spielstraßen 1972: o. P. [29].

 

Nur wenige Stunden vor dem terroristischen Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft wird unter Einbeziehung der gesamten Landschaft, im See, auf den Hängen, auf Szenenpodesten und mitten im Publikum des Theatron der Umschlag von Spiel in Gewalt und Terror in Szene gesetzt. Die von einem lauten und eindringlichen, in der Tonalität fast invariablen Elektrosound begleitete Bilderfolge ist in einer (unveröffentlicht gebliebenen) Dokumentation des Theaterhistorikers Victor Glasstone für die BBC eingefangen.[10] Aufgrund der Terrorattacke sollten nur wenige Stunden später alle Aktivitäten der Spielstraße enden.

Die Koinzidenz von Spiel und Terror in München markiert einen Höhe- und Endpunkt der Spielraumentwicklung Werner Ruhnaus. Der Appell an die ludische Natur des Menschen als Antidot gegen Funktionalismus und Totalität, der zu diesem Zeitpunkt bereits nur noch im Modus radikaler Kritik überhaupt hörbar war, verlor in den Folgejahren zunehmend seinen Widerhall.

 

 



[1] Siehe grundsätzlich zu den variablen Theaterentwürfen Ruhnaus: Koneffke 1999: 326-346.
[2] 2011 fand im Grillo-Theater in Essen eine Ausstellung unter dem Titel Werner Ruhnau – Spielräume des Homo ludens statt. Der gleichnamige Katalog stellt den Bezug zu Johan Huizinga her [vgl. Archiv Baukunst / Anita und Werner Ruhnau 2011: 14]. Ohne direkten Verweis auf Huizinga, aber erkennbar von ihm beeinflusst: Werner Ruhnau: Mut zum Mitspiel, in: Kost / Schartau 1989.
[3] In der Nachwendezeit schließt Norman Fosters Reichstagskuppel an die Bautradition des ‚transparenten Staates’ an.
[4] Siehe Jeffry M. Diefendorf 1989: 131-158; ders. 2014: 35-56.
[5] Zur Zusammenarbeit von Yves Klein und Werner Ruhnau vgl. Rattemeyer 2004; Stachelhaus 1976.
[6] Vgl. Archiv Baukunst / Kunstmuseum Gelsenkirchen / Galerie Hans Mayer / Stiftung Deutscher Architekten 2009: 37.
[7] Vgl. Sonntag 2011: 15-24; Appia et. al. 2017.
[8] Neben Werner Ruhnau (Idee, Gesamtplanung und Intendanz) gehörten zum kuratorischen Team Frank Burckner (Straßentheater), Josef Anton Riedl (Musik, Medienstraße), Anita Ruhnau (Bildende Kunst), Mircea Krishan (Artisten).
[9] Siehe das Programmheft: Spielstraße, Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972. Siehe ferner: Spielstraßen, Workshop Spielstraße 1972.
[10] Victor Glasstone: Spielstraße. Dokumentation für die BBC. Eingesehen im Archiv Baukunst – Anita und Werner Ruhnau in Essen-Kettwig 2011.

 

Literaturverzeichnis
Adolphe Appia et. al. (Hg.). Rekonstruktion der Zukunft: Raum – Licht – Bewegung – Utopie. Leipzig 2017.
Archiv Baukunst und Anita und Werner Ruhnau (Hg.). Werner Ruhnau – Spielräume des Homo ludens [Ausstellungskatalog]. Essen 2011.
Archiv Baukunst / Kunstmuseum Gelsenkirchen / Galerie Hans Mayer / Stiftung Deutscher Architekten (Hg.). 50 Jahre Theaterbau Gelsenkirchen 1959-2009. Werner Ruhnau – Konzeptionen und ihre Geschichte [Ausstellungskatalog]. Essen 2009.
Barnstone, Deborah Asher. The Transparent State: Architecture and Politics in Post-War Germany. London 2005.
Blümle, Claudia und Jan Lazardzig. „Öffentlichkeit in Ruinen – Zum Verhältnis von Theater, Architektur und Kunst in den 1950er Jahren“. In: dies. (Hg.). Ruinierte Öffentlichkeit. Zur Politik von Theater, Architektur und Kunst in den 1950er Jahren. Berlin / Zürich 2012: 9-37.
Diefendorf, Jeffry M. „Urban Transportation Planning, Influences and Legacies: Kurt Leibbrand, Germany's Acclaimed Postwar Traffic Planner“. In: Journal of Transport History. 35.1 / 2014: 35-56.
Diefendorf, Jeffry M. „Artery. Urban Reconstruction and Traffic Planning in Postwar Germany“. In: Journal of Urban History. 15.2 / 1989: 131-158.
Ferdinand-Ude, Patricia. „Interview mit Werner Ruhnau, März 2002“. In: Baumeister im Ruhrgebiet. Bd. 1: Werner Ruhnau. Düsseldorf 2002: 14-30.
Freunde Neuer Kunst Dortmund und Museum am Ostwall (Hg.). Gesellschaftsform – Theaterform, Theaterform – Gesellschaftsform. Werner Ruhnau, Multiperspektivisches Theater. Ferdinand Kriwet, Mixed Media. Düsseldorf 1968.
G.K. „Das neue Stadttheater in Münster“. In: Bauwelt 33 (1956), 771.
Hesse, Michael. „Werner Ruhnau – Theater Gelsenkirchen“. In: Baumeister im Ruhrgebiet. Bd. 1: Werner Ruhnau. Düsseldorf 2002: 2-13.
Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung von Kultur und Spiel. Hamburg 1956.
Koneffke, Silke. Theater-Raum. Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten. Frankfurt 1999.
Lazardzig, Jan. „Aporie der Transparenz. Theaterneubauten der 1950er Jahre“. In: Barbara Büscher / Verena Elisabet Eitel / Beatrix von Pilgrim (Hg.). Raumverschiebung. Black Box – White Cube. Hildesheim / Zürich / New York 2014: 29-42.
Lehmann-Kopp, Dorothee. „Werner Ruhnau, das Gelsenkirchener Blau und der Foyer-Sessel. Rede zur Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie open art, Borken, am 14. Dezember 2008“. In: Archiv Baukunst / Kunstmuseum Gelsenkirchen / Galerie Hans Mayer / Stiftung Deutscher Architekten (Hg.). 50 Jahre Theaterbau Gelsenkirchen 1959-2009. Werner Ruhnau – Konzeptionen und ihre Geschichte [Ausstellungskatalog]. Essen 2009: 15-23.
Lorenz, Frieder. „Das Kleine Haus Münster“. In: Bühnentechnische Rundschau. „Offene Spielräume. Aufbrechen traditioneller Theaterformen in der Bundesrepublik seit 1945“. Sonderheft / 1983: 18-20.
Rattemeyer, Volker. Wie das Gelsenkirchener Blau auf Yves Klein kam. Zur Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Yves Klein und Werner Ruhnau. Wiesbaden 2004.
Ridgley, Steven C. Japanese Counterculture: The Antiestablishment Art of Terayama Shūji. Minneapolis 2010.
Ruhnau, Werner. „Mut zum Mitspiel“. In: Klaus Kost und Harald Schartau (Hg.). Wir im Revier. Schritte in die andere Zukunft an Rhein und Ruhr. Marburg 1989.
Ruhnau, Werner. „Aus Sicht des Architekten“. In: Das Werk 9 (1960): 309.
Ruhnau, Werner. „Innen und Außen im Theaterbau“. In: Bühnentechnische Rundschau. 4 / 1960: 10.
Schiller, Kay und Christopher Young. The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany. Berkeley / Los Angeles / London 2010.
Sonntag, Nina (Hg.). Raumtheater: Adolphe Appias theaterästhetische Konzeption in Hellerau. Essen 2011.
Spielstraße. Hg. v. Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972. Abteilung Kultur. Workshop Spielstraße. München 1972.
Spielstraßen. Hg. v. Workshop Spielstraße. Essen 1972.
Stachelhaus, Heiner (Hg.). Yves Klein und Werner Ruhnau – Dokumentation der Zusammenarbeit in den Jahren 1957-1960. Recklinghausen 1976.
Storck, Gerhard. Probleme des modernen Bauens und die Theaterarchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Diss. Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1971.

 

 

Abbildungsverzeichnis / Bildunterschriften
Abb. 1: Stadttheater Münster, Postkartenmotiv aus den 1950er-Jahren. Privatbesitz JL.
Abb. 2: Stadttheater Gelsenkirchen, Postkartenmotiv aus den 1950er-Jahren. Privatbesitz JL.
Abb. 3: Entwurf Vorplatzgestaltung Gelsenkirchen, 1958/59 von Werner Ruhnau und Yves Klein und Modell des „Tempel der Elemente“.Aus: Archiv Baukunst / Kunstmuseum Gelsenkirchen / Galerie Hans Mayer / Stiftung Deutscher Architekten (Hg.). 50 Jahre Theaterbau Gelsenkirchen 1959-2009. Werner Ruhnau – Konzeptionen und ihre Geschichte [Ausstellungskatalog]. Essen 2009: 37.
Abb 4: Luftdachexperiment von Yves Klein und Werner Ruhnau bei der Fa. Küppersbusch in Gelsenkirchen. Der im Hintergrund erkennbare Ventilator drückt Luft durch die über dem Kopf von Klein liegende Düse. Die auf dem Stuhl stehende Person sprüht Wasser auf die Luftdecke, die Klein und Ruhnau schützt. Das Wasser wird vom Luftstrom fortgetragen. Aus: Heiner Stachelhaus (Hg.). Yves Klein / Werner Ruhnau. Dokumentation der Zusammenarbeit in den Jahren 1957-1960. Recklinghausen 1976, 43.
Abb. 5: Podienklavier-Entwürfe für Bonn und Düsseldorf (1958/1959). Aus: Werner Ruhnau: „Auf der Suche nach neuen Spielräumen. Vom Vor- zum Mehrperspektivischen Theaterbau“ (Vortrag, gehalten am 29. Oktober 1977 im Staatstheater Darmstadt). In: Schriften der Dramaturgischen Gesellschaft. 11 / 1979: 21-32, hier: 30.
Abb. 6: „1. Spielstrasse München 1972“. Aus: Spielstraßen. Hg. v. Workshop Spielstraße. Essen 1972: o. P. [11].
Abb. 7: Timm Ulrichs, Laufrad, Spielstraße München 1972. Aus: Spielstraßen. Hg. v. Workshop Spielstraße. Essen 1972: o. P. [33].
Abb. 8: Tenjo Sajiki, Shuji Terayama, Tokyo. Aus: Spielstraßen. Hg. v. Workshop Spielstraße. Essen 1972: o. P. [29].

 

 

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