Theater in Bewegung. Eine Befragung des „Architektonischen“ anhand mobiler und temporärer Aufführungsanordnungen
Verena Elisabet Eitel (Berlin)
Das Theater wird mobil und verlässt das Theater – in den letzten Jahren ist deutlich zu beobachten, dass Theater, vom Stadttheater bis zur freien Szene, immer häufiger Aufführungen jenseits ihrer hauseigenen Spielorte platzieren. Dauerhaft oder temporär eignet man sich Bauten, Räume oder Orte im öffentlichen Raum an, und häufig scheint der Reiz gerade darin zu liegen, dass diese selbst keine genuinen Aufführungsorte sind.[1] Die zahlreichen Sanierungsfälle von Theaterbauten, die deutschlandweit Theater veranlassen, für einen gewissen Zeitraum ihr Haus zu verlassen und in Interimsspielstätten ihr künstlerisches Programm neu aufzustellen, könnten hierbei nachvollziehbare Gründe liefern. Neben unerfreulichen Erschwernissen wie zeitliche Verzögerungen, Kostenanstieg und kulturpolitische Interessensdebatten kann eine solche Situation auch zum Katalysator für neue Raumexperimente und Aufführungserlebnisse werden.
Dennoch ist eine Zunahme und Vielfalt neuer, häufig temporärer Spielorte auch auf den Spielplänen von Theatern zu verfolgen, die sich nicht in einer Interimssituation befinden. Was treibt die Institutionen an, immer häufiger ihre festen Spielstätten zu verlassen? Bewusst an Orte zu gehen, die weder die architektonisch-räumlichen Bedingungen noch die Infrastruktur einer klassischen Bühne aufweisen und sich dafür auf mobile und temporäre Architekturen zu stützen? Sich einen Ort spielerisch zu erschließen, um ihn nach ein paar Wochen wieder zu verlassen? Spielen hier neue Erwartungen an Präsenz und Sichtbarkeit des Theaters eine Rolle? An ein Theater, das sich durch Bewegung öffnet, um der Frage nach Zugänglichkeit und Schwellen mit einer größeren Nähe zum und Teilhabe des Publikums innerhalb einer sich stark transformierenden (Stadt)Gesellschaft nachzukommen?
Das Phänomen soll beispielhaft in unterschiedlichen Ansätzen von Inszenierungen und künstlerischen Projekten betrachtet werden, um zu beschreiben, was die mobilen Strukturen kennzeichnet und wie sie sich zum Gegebenen einer festen Struktur in Beziehung setzen. Wo geht das Mobile im direkten und übertragenen Sinne vom „Architektonischen“ des Theaters aus? Das „Architektonische“ bezieht sich hier auf das Theatergebäude, das für die meisten Aufführungspraxen in seiner baulichen Anordnung, seiner Raumnutzung und nicht zuletzt seiner Ausformulierung von Handlungsanweisungen nach wie vor ein konstituierender Faktor ist.
Das Theater im allgemeinen Verständnis meint sowohl das Gebäude an seinem Standort als auch die Institution und die Art künstlerischer Präsentation. Jedoch hat sich die Deckungsgleichheit von städtischem Ort, historisch etablierter baulicher Anordnung und einer genre-spezifischen Form der Aufführung seit 1960 transformiert, hat sich ausdifferenziert, verschoben und erweitert. Das zeigt heute die Vielfalt der Spielstätten innerhalb der breit aufgestellten Theaterlandschaft sowie die Überlagerung verschiedener Genres und Präsentationsformen in deren Programmen.[2]
Traditionelle Stadttheaterbauten sind Orte des Produzierens und des Aufführens. Dementsprechend architektonisch konzipiert, sind sie räumlich in ein Vorder- und Hinterhaus für jeweils Publikum und Theater-Mitarbeiter_innen unterteilt und beherbergen im Zentrum den Aufführungssaal als Begegnungs- und Kommunikationsstätte. Ein Repertoire- und Ensembletheater, wie es die meisten Stadttheater sind, basiert auf einer erprobten Interaktion von Produktions- und Aufführungsstrukturen, was in sich einen komplexen „Bewegungsapparat“ erzeugt. Abteilungen verschiedenster Art – wie Werkstätten, Technik, Kostüm, Maske, Dramaturgie, Öffentlichkeitsarbeit und so weiter – und Räume unterschiedlichster Nutzung greifen innerhalb hausinterner Arbeitsabläufe ineinander, wozu physische Wegesysteme und Kommunikationswege gleichermaßen gehören.
Die aktuelle Praxis vieler Stadttheater umfasst die Konzeption und Bespielung mehrerer hauseigener Spielorte und eine experimentelle Offenheit im Umgang mit dem klassischen Bühnenraum.
Die ersten Spielstätten der freien Szene[3] entstanden erst ab Mitte der 1980er Jahre, als die Szene neue Konturen annahm. Aus einer mobilen Struktur von freien Gruppen und Künstler_innen ohne feste Aufführungsorte und festen organisatorischen Kontext heraus begann ein Institutionalisierungsprozess, an dessen Ende die ersten Produktionshäuser standen. Zumeist im Zuge von Umnutzungsprozessen eignete man sich damals – mit mehr oder weniger kulturpolitischer Unterstützung – andere, nicht theater-genuine Räume an.[4] Gerade die Umnutzung ehemaliger Fabrik- und Industriearchitekturen, die andere Präsentationsweisen oder künstlerische Praxen nahelegten oder (er)forderten, wurde zu einer ästhetischen Markierung dieser entstehenden Institutionen. Dieser Prozess war auch eine Suche nach Räumen, die dem Experimentieren mit disziplinübergreifenden künstlerischen Ansätzen und Arbeitsweisen sowie den Einflüssen aus der internationalen Performancekunst-Szene gerecht werden konnten. Von Beginn an entwickelten sich Raumpraxis und künstlerische Konzeption der Spielstätten der freien Szene im Austausch mit Kunstformen, die einen anderen Zugriff auf Raum haben als die traditionelle Theaterpraxis.
Die nun folgenden Beispiele zeigen ganz unterschiedliche Strukturen von mobilen und temporären Aufführungsweisen und -architekturen auf, die sich als Aufbrechen, Verschieben, Erweitern, Unterlaufen oder Kommentieren des „Architektonischen“ lesen lassen.
Theaterklassiker „zum Mitnehmen“? Das Düsseldorfer Schauspielhaus findet mit seinen „Theater to go“-Produktionen neue Spielorte in der Stadt
Zu Beginn seiner Intendanz 2016 am Düsseldorfer Schauspielhaus sah sich Wilfried Schulz und sein Team mit der Problematik konfrontiert, dass die Sanierungsarbeiten am Schauspielhaus am Gustaf-Gründgens-Platz nicht wie geplant fertiggestellt werden konnten.[5] Der Einzug und die Bespielung in vollständigem Umfang verzögerten sich immer wieder und können laut aktuellem Stand der Planung erst ab September 2019 verwirklicht werden. Aus der sich verlängernden Interimssituation ergab sich die Frage nach weiteren Spielorten neben dem zur Hauptaufführungsspielstätte umfunktionierten Probenzentrum Central in der Nähe des Hauptbahnhofes. Die Antwort war vielgestaltig und umfasste unter anderem ein Theaterzelt am Corneliusplatz, das Capitol Theater oder das Dreischeibenhaus in der Nähe des Schauspielhauses,[6] das auch im Zustand einer Baustelle seine Präsenz als Gebäude in der Innenstadt behielt. Das Theater als Spielpraxis musste sich jedoch auf anderen Wegen in den Fokus und das Bewusstsein seines Publikums rücken. In dieser Zeit entstanden unter dem Label „Theater to go“ die beiden Produktionen Faust (2017) und Nathan (2018), die weiterhin fester Bestandteil des Repertoires sind. Beide, inszeniert von Robert Lehniger, touren seit ihrer Premiere durch die Stadt und die Region, durch Kirchen, Synagogen, Freizeitstätten, Psychiatrien, Schulen, Gerichte, Künstlervereine, Industrieclubs und so weiter. Dass das Theater zum Publikum kommt, an einen ihm vertrauten Ort, und nicht wie gewohnt das Publikum sich zum Theater aufmacht, erinnert auch an die sogenannten Klassenzimmer-Stücke, die viele öffentliche Theater in ihrem Repertoire führen. Im Fall von Faust und Nathan standen Schulen als Spielorte aber nicht im Fokus. Im Vorbereitungsprozess waren die Spielorte noch nicht festgelegt. Die Inszenierungen sollten sich unter einfachen und flexiblen Bedingungen an verschiedenste Orte begeben können, ansonsten sollten sie sich hinsichtlich Stoff, Besetzung und Ausstattung nicht von Spielplanpositionen für „feste“ Spielorte unterscheiden.[7] So brauchte ein potentieller Spielort für Faust nicht mehr zur Verfügung zu stellen als einen ausreichend großen Raum, hundert Stühle und einen Starkstromanschluss. Im Fokus stand von Beginn an, zugängliche Inszenierungen zu schaffen, die erfahrene wie unerfahrene Theaterzuschauer_innen gleichermaßen ansprechen. Dazu gehörte auch eine schlanke Strichfassung beider umfangreicher Stücke, die eine Aufführungsdauer von jeweils circa zwei Stunden haben, sowie eine ästhetisch ansprechende Aktualisierung der Thematik.[8] Die Funktion der Gastgeberschaft der Institutionen und Einrichtungen, die Faust oder Nathan zu sich einladen, und im Übrigen auch den Kartenverkauf vorab übernehmen, ist ein Aspekt, der Nähe und Begegnung erleichtert, neben dem persönlichen Kontakt mit Team und Schauspieler_innen in Einführungen und Publikumsgesprächen.
Abb. 1/2: Faust (to go) © Sebastian Hoppe
Nathan (to go)
Lessings Toleranzplädoyer Nathan startete mit einer Premierenserie, die ganz im Sinne der Religionsverständigung von der Bunkerkirche in Heerdt (Gemeinde koptischer Christen) über den Leo-Baeck-Saal bei der Synagoge in Golzheim (Jüdische Gemeinde Düsseldorf) zum Eventcenter Benrath (Muslimische Gemeinden Düsseldorf) führte. Neben einer intensiven Pressearbeit konnte man sich bereits bei Faust auf vorhandene Multiplikatoren in der Stadt beziehen, die zusammen mit einer individuellen Akquise ein Netzwerk bildeten, auf das man sich auch für die Einladungen zu Nathan stützen konnte. Eine Besonderheit war, dass bereits während der Proben und auf der Suche nach Premierenspielorten der Austausch mit den Glaubensgemeinden ins Spiel gebracht werden konnte.
Abb. 3/4: Nathan (to go) © Thomas Rabsch
Das Bühnenbild von Irene Ip ist transportabel, schnell und leicht aufzubauen[9] und zeichnet sich durch Durchlässigkeit, Leichtigkeit und zugleich Funktionalität aus. Ein Gerüst aus schwarzen Metallstreben, das sechs quadratische, gleichgroße Parzellen bildet, ist an allen Seiten mit transparenten und teilweise nicht-transparenten Vorhängen bestückt. Dadurch können, je nachdem welche Vorhänge von den Schauspieler_innen geöffnet oder geschlossen werden, ein großer Raum oder bis zu sechs kleine, voneinander abgegrenzte Räume entstehen. Auf- und Abtritte sind an allen Seiten möglich. An der Rückseite entsteht durch blickdichte Vorhänge ein Off-Bereich, der nicht einsehbar ist. Die Vorhänge dienen zugleich als Projektionsfläche für eingespielte und live erzeugte Filmsequenzen und entsprechen so der Verbindung von Theater und Film, die Robert Lehnigers Arbeit, der selbst auch Videokünstler ist, generell auszeichnet. Zudem mit Leuchtstoffröhren an allen Streben ausgestattet, ist das Bühnenbild ein sich selbst beleuchtender Körper, der eine gewisse Unabhängigkeit von der Beleuchtungssituation vor Ort mit sich bringt.[10]
Durch die geringe Tiefe des Bühnenbildes entsteht automatisch eine Nähe zu den Zuschauer_innen. Die verschiedenen Schauplätze des Stücks sind durch einzelne Möbel oder Requisiten gekennzeichnet, in ihrer Zuweisung sind die Orte variabel und entstehen dadurch, dass Vorhänge geschlossen oder geöffnet werden. Diese Überlagerung verbindet sich mit einer starken Durchlässigkeit: Das Bühnenbild, das nach innen spielerisch und kommunikativ wirkt, erinnert an industrielle Konstruktionen von Leichtbauweisen oder flexible Provisorien. In der kurzzeitigen Transformation von stark konnotierten Orten wie Kirche, Psychiatrie oder Gericht überlagern sich Kennzeichen und Atmosphäre deren sonstiger Nutzung mit den fiktiven und diskursiven Räumen, die die Aufführung hervorruft.
Die beiden „to go“-Inszenierungen begeben sich als Agenten des Düsseldorfer Schauspielhauses in die Stadt und die Region, um die Präsenz des Theaters dort zu stärken, wo es nicht ohnehin schon sein Publikum sicher weiß. Das Theater erweitert seinen Zugang zu Stadt und Publikum, indem es seinem Repertoire zwei reisende Satelliten hinzufügt.[11]
Theaterwagen ziehen durch die Stadt – Bert Neumanns Rollende Road Schau an der Volksbühne Berlin
Eine herausragende Position in der Arbeit mit mobilen Aufführungsanordnungen nehmen die vielfältigen Projekte und Entwürfe Bert Neumanns während seiner Tätigkeit als Ausstattungsleiter an der Berliner Volksbühne ein. Die Volksbühne unter der Intendanz von Frank Castorf, mithin in Berlin, war ein Stadttheater außergewöhnlicher Art, ihrer institutionellen Struktur nach ein Ensembletheater mit Repertoirebetrieb, zudem in dem monumental anmutenden Theaterbau des Architekten Oskar Kaufmann am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte beheimatet. Neumann konzipierte zahlreiche Bühnenbilder beziehungsweise Raumkonzepte, die Darsteller_innen und Zuschauer_innen herausforderten, auch indem sie in einer produktiven, aber reibungsvollen Auseinandersetzung mit der etablierten Theaterarchitektur standen.[12]
Die Rollende Road Schau, ein Projekt, das sich angefangen von der Expo-Einladung der Volksbühne 2000 über mehrere Jahre konstant und gleichzeitig fortentwickelnd und immer wieder neu durch Berlin und bis in die brandenburgische Provinz bewegte, soll als Beispiel dafür dienen, wie die Volksbühne sich als eines der ersten (Stadt)Theater bewusst aus seinen festen Strukturen heraus in die Unberechenbarkeit städtischer Dynamik begeben hat. Die Rollende Road Schau ist ein programmatisches Experiment für die Idee eines Theaters, das sich unabhängig von einem festen Theaterbetrieb und für ein breites Publikum denken möchte und sich damit auch auf produktive Weise mit dem eigenen Selbstverständnis konfrontiert.
Der Einladung der Expo 2000 folgend schickte die Volksbühne keine neue oder Repertoire-Inszenierung nach Hannover. Bert Neumann konzipierte für den deutschen Pavillon ein räumliches Setting aus vier zu Containerbühnen[13] umgebauten LKW-Anhängern, die jeweils mit orangefarbenen LKW-Planen umfasst waren und Lichtwände mit Rummelplatzleuchten enthielten. Bereits bei der Gestaltung spielte es für Neumann eine wichtige Rolle, die Wagen auch über die Expo hinaus weiterverwenden zu können und dementsprechend achtete er bei der Konstruktion auch auf Mobilität und Transportfähigkeit. „Das Konzept ist einfach, und die Regeln sind klar festgelegt: Jeder Wagen ist mit einer Gruppe von Darstellern, einem autarken Ton- und Lichtsystem und einer fünfzehnminütigen Inszenierung ausgestattet. Alle vier Bühnen im Zusammenhang ergeben die Aufführung.“ [Geulen 2000] Konkret enthielt die ‚Erste Lieferung‘ für die Expo unter dem Titel Die Schausteller „Nachtgrauen und Aufklärung“ vier Kurz-Programme, die nacheinander jeweils in einem der vier Wagen gezeigt wurden.
Alle beteiligten Darsteller_innen, Regisseure und Künstler entstammten dem ästhetischen und diskursiven Volksbühnen-Kosmos. Begleitet wurde das Programm von einem Manifest, von der Dramaturgin Hannah Hurtzig mit auf den Weg gebracht, das den ideellen Hintergrund für die mobilen Containerbühnen lieferte: „Artisten als letzte Marktschreier der Aufklärung.“ Neumann erläuterte diese Idee in einem Interview: „Das ist gedacht wie auf den Marktplätzen des Mittelalters mit ihren Moritaten-Tafeln, wo immer etwas erklärt wurde. Wir wollen zu den ehrlichen Wurzeln der Schaustellung zurück, weil wir auch an einem anderen Publikum interessiert sind. An das kommen wir nur auf Umwegen heran.“ [Bethge 2000] Die im Manifest entworfene potentielle Zukunft, in der es keine festen Theaterbetriebe mehr gibt, erläuterte Neumann weiter: „Man sollte schon das Bewusstsein dafür entwickeln, dass man ersetzbar ist. Mit den Containern sind wir total billig und flexibel. Jetzt haben wir eine kleine Anfangsinfrastruktur, die man als Laboratorium weiter verwenden kann. Mal sehen, ob es ein Showprogramm bleibt oder ob es sich anders entwickelt. Möglich, dass sich dieser Zweig viel vitaler entwickelt als der Vorstellungszweig.“ [Bethge 2000]
Nicht nur der Titel ‚Erste Lieferung‘ auch die Art und Anordnung der Formate und die Nutzungsvielfalt, die die Containerbühnen hier zum erstem mal unter Beweis stellten, zielten auf eine Fortführung und Weiterentwicklung des Programms.
Im Winterhalbjahr 2000/2001 folgte im Kontext der Rollenden Road Schau eine Veranstaltungsreihe im Prater unter dem Titel Materialausgabe, die jeweils zu einem bestimmten Thema assoziative, viel-formatige Rechercheabende in Volksbühnenmanier gestaltete. Dies zum Beispiel weiterführend zum Thema Glühbirne mit Vorträgen, einem Handelsvertreter des Designvertriebs für die Lampenfirma Stiletto als Gast und dem Videokünstler Jürgen Kuttner, der inhaltlich anknüpfend Videodokumente aus dem Volksbühnen-Archiv präsentierte.[15]
Nach diesem kurzen Zwischenstopp im Pratergarten setzte sich die RRS auch vor dem Hintergrund notwendiger Sanierungsmaßnahmen[16] des Großen Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz, die eine Schließzeit von Juni bis Oktober mit sich brachten,[17] mit der ‚Zweiten Lieferung‘ im Sommer 2001 fort. Diesmal bewegten sich die Containerwagen in die Außenbezirke Berlins. In einer Pressemeldung vom Mai 2001 wird das Vorhaben wie folgt beschrieben: „Die Container fahren als forschende Vorhut für ein zukünftiges Projekt der Volksbühne in vier Stadtteile (Marzahn, Märkisches Viertel, Lichtenberg, Neukölln)[18]: eine internationale mobile Sommerakademie der darstellenden Künste, die in den nächsten Jahren entstehen soll. […] Die unterschiedlichen Klimata Berlins, seine überlappenden Peripherien und Zentren sind der Arbeitsansatz dieser Theaterakademie, die mit theatralischen Mitteln interventionistisch ins Stadtbild eingreifen wird.“ [19] Damit war das Vorhaben, in Referenz auf das historische Schaustellerwesen auch ein anderes Publikum als das hippe, ohnehin kulturaffine Volksbühnen-Publikum zu erreichen, zumindest auf den Weg gebracht.[20]
In die vier ausgewählten Bezirke begab sich erneut ein Team von Künstler_innen um Bert Neumann, Hannah Hurtzig und Jürgen Kuttner. Auch in dieser Ausgabe war jeder der vier Wagen mit einem eigenen Kurzprogramm „bestückt“, das an zwei Abenden auf freien Flächen, Wiesen oder Parkplätzen gezeigt wurde. Wie bei der ‚Ersten Lieferung‘ handelte es sich um voneinander unabhängige Inszenierungen, Vortrags- oder Tanzpräsentationen und Diskussionsformate, die den Gastort mal mehr und mal weniger thematisch spiegelten, und in ihrer Gesamtheit inklusive flankierender Getränke- und Essensversorgung die Aufführung ausmachten.
Der Wunsch der Akteur_innen „[…] der erlebnisorientierten Stadtinszenierung des ‚Themenparks Mitte‘ zu entkommen und urbane Motive und Perspektiven in anderen Berliner Stadtteilen kennen zu lernen“ [Informationsblatt der Volksbühne zur RRS][22] ließ sich mit den Aufführungen zwischen hochkarätiger HipHop-Puppenspiel-Show und To@ster-Performance des Kollektivs Gob Squad allerdings nicht reibungslos einlösen. Die erste Tour nach Marzahn hatte nur wenige Besucher_innen und nur wenige darunter waren selbst Marzahner_innen. Die Wahl des Standorts, die Werbemaßnahmen, die inhaltliche Verbindung mit dem Bezirk und die Ansprache des Publikums, das auf Ästhetik und Humor der Aktionen teilweise mit Unverständnis und Ignoranz reagierte, gestalteten sich schwieriger als gedacht. „Für so ein Projekt braucht man eindeutig mehr Zeit zur Vorrecherche“, so wird Hannah Hurtzig im Nachhinein zitiert. [Gröschner 2001: 46]
Das hochflexible Aufführungssetting, das ein potentielles Publikum gleich einer „schnellen Eingreiftruppe“[23] ereilt, erreichte sein reales Publikum an dieser Stelle noch nicht wie intendiert. Dennoch zeigte sich das Potenzial dieser offenen Anordnung. Unter dem starken Einbezug des Außen, des öffentlichen Umraums,[24] entstand in der Gesamtheit ein Aufführungssetting jenseits einer baulichen Anordnung, das nicht mehr Bedingung für, sondern Teil der Aufführung war. Die allein temporäre Transformation des Ortes konnte durchaus an eine Jahrmarkts-Situation mit Schaustellerbuden erinnern, adressierten die vielen einzelnen Formate die Besucher_innen doch auch zunächst auf eine unterhaltende Weise wie sie auch den Aufenthalt an sich, im Gegensatz zum Beiwohnen eines aufgeführten Inhalts, in den Vordergrund stellten.
Die RRS zog weiter in das Märkische Viertel und nach Lichtenberg und spätestens am Standort Rungiusstraße/Neukölln erwies sich das Modell schließlich als eines, das auf die erhoffte Neugier und den Zuspruch bei der Nachbarschaft vor Ort stieß.
Abb. 5: Rollende Road Schau, Aufbau Berlin Granitzstraße © Bert Neumann
Abb. 6: Rollende Road Schau, Berlin Alexanderplatz © Bert Neumann
Abb. 7: Rollende Road Schau, Berlin Marzahn © Bert Neumann
Abb. 8: Rollende Road Schau bei Nacht © Bert Neumann
Abb. 9/10: Rollende Road Schau, Berlin Marzahn © Lenore Blievernicht
Abb. 11: Rollende Road Schau, Berlin Marzahn, rechts im Bild Jürgen Kuttner
© Lenore Blievernicht
In der Ausgabe für den Sommer 2002, der nun ‚Dritten Lieferung‘, wurde das Modell weiterentwickelt. Erneut war der Standort die Rungiusstraße in Neukölln. Der Gedanke der RRS als Netzwerk, das konstant, aber mit wechselnden Akteur_innen die Idee des Mobilen im Verhältnis zum jährlichen Repertoirebetrieb an den üblichen Spielorten vorantreibt, stand nun mehr im Vordergrund. Außerdem wurden der Standort, seine Nachbarschaft und deren Bewohner_innen intensiver eingebunden, indem eine einwöchige Recherchephase vor Ort dem eigentlichen Ereignis voranging.
Zum ersten Mal waren nun auch drei Prater-Inszenierungen (die Prater-Trilogie Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels, SEX und Stadt als Beute) des Volksbühnen-Regisseurs René Pollesch im Kontext der RRS zu sehen; eine Interaktion mit dem Spielplan des Hauses, die sich in der nächsten Ausgabe der RRS im Sommer 2003, erneut am gleichen Standort in Neukölln, mit einer Outdoor-Version der Pollesch-Inszenierung 24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York und weiter bis zur letzten Ausgabe 2006 fortschrieb. Dazwischen lagen die Spielorte Wedding 2004, Alexanderplatz 2005 und schließlich 2006 Schwedt an der Oder.[26] Nun etablierten sich Formate wie Open-Air-Kino, Konzert und ein von Neumann initiierter Bügelservice. Protagonist_innen wie die PuppetMastaz, Jürgen Kuttner oder Gob Squad gestalteten das Programm über die kommenden Sommer weiterhin mit, während zahlreiche neue, zum Beispiel das Jugendtheater der Volksbühne P 14, dazu kamen. Eine Kontinuität der RRS-Ausgaben zeigte sich auch in der Arbeit der Choreografin Constanza Macras. Jugendliche und Kinder aus Neukölln, die in den Ausgaben 2002 und 2003 an Macras‘ Tanzworkshops teilgenommen hatten, performten schließlich 2004 im Wedding in der Breakdance Show Streetlife Neukölln Undercover Wedding. Im Wedding machte die RRS Station auf dem ehemaligen Firmengelände des Druckmaschinenherstellers Rotaprint. Den Containerbühnen wurde nun ein markantes orangefarbenes Zeltdach, mit einem sechseckigen Tresen in der Mitte hinzugefügt. Ausgehend von dieser zentralen Anordnung wurde das gesamte Gelände miteinbezogen – dort waren Kleinbetriebe, Künstler, Vereine und Projekte wie das Kommunale Forum Wedding angesiedelt –, ebenso hielten der Stadtteil Wedding und wichtige Teile seiner Geschichte wiederum Einzug in das Programm.[27]
2005 bespielte die RRS zum ersten Mal keine Freifläche, sondern mit dem Alexanderplatz, der ehemaligen Mitte Ost-Berlins, einen belebten, öffentlichen Platz, der sich wie kein anderer in ständiger Transformation befindet. Im Sommer 2006 schließlich bewegte sie sich aus der Hauptstadt ins brandenburgische Schwedt an der Oder. Als eine Begegnungsstätte und sozialer Ort wurde der temporäre Aufenthalt der Containerbühnen in der von Abwanderung und Verfall betroffenen Provinz beschrieben [vgl. Die Stütze 2006: 3–16]. Damit zeigte sich die besondere Qualität, die in der zugleich einfachen und hochflexiblen Konstruktion der vier Containerbühnen lag, dem jeweiligen Umfeld und seinen Themen tatsächlich eine „Bühne“ zu bieten.
Wenn Brachen zu Bühnen werden – Die Große Weltausstellung von HAU und raumlaborberlin auf dem Tempelhofer Feld
2012 verabschiedete sich Matthias Lilienthal nach neun Jahren als künstlerischer Leiter vom HAU Berlin mit zwei Groß-Projekten, die sich außerhalb der eigenen Spielorte durch die Stadt beziehungsweise auf dem Tempelhofer Feld bewegten: Unendlicher Spaß, eine Adaption des Romans von David Forster Wallace, und The World Is Not Fair – Die Große Weltausstellung 2012.
2003/2004 übernahmen Lilienthal und sein damaliges Team die drei sehr unterschiedlichen Spielstätten Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer und Theater am Ufer und führten sie in dem Theaterkombinat Hebbel am Ufer (HAU) zusammen, das seitdem zu einem der großen und wichtigen Häuser innerhalb Berlins und im Kontext der Produktionshäuser[28] deutschlandweit geworden ist.
Das 24-stündige Spektakel Unendlicher Spaß bewegte sich und sein Publikum mit Bussen zu verschiedensten Gebäuden und Architekturen, darunter die Abhörstation auf dem Teufelsberg und das Vivantes Klinikum in Neukölln. 13 Künstler_innen beziehungsweise Kollektive aus dem künstlerischen Umfeld des HAU hatten sich Fragmenten des Romans als Vorlage für kurze Inszenierungen und begehbare Raum-Installationen angenommen, darunter Constanza Macras, Chris Kondek, Richard Maxwell und Gob Squad [vgl. Behrendt 2012: 23–24]. Die Struktur des Stadterkundungsparcours war für das Ende der Ära Lilienthal insofern bezeichnend, da die Idee, die eigenen Räume zu verlassen und in der Realität der Stadt Aufführungsorte unterschiedlichster Art zu finden, einen roten Faden bildet, der schließlich auf dem Gelände des Tempelhofer Felds in der Zusammenarbeit mit raumlaborberlin einen würdigen Endpunkt erfuhr.[29]
Die Große Weltausstellung auf dem ehemaligen Flughafengelände Tempelhof installierte einen Ausstellungsparcours mit 15 verstreuten Pavillons auf dem weitläufigen Areal. Sie nahm in ironischer Weise Bezug auf die Tradition der Weltausstellungen und Expos, die seit mehr als 160 Jahren an weltweit wechselnden Schauplätzen ausgerichtet werden. Anstelle repräsentativer Selbstdarstellung von Nationalstaaten waren 15 Architekt_innen, Theatermacher_innen, Performer_innen und bildende Künstler_innen[30] eingeladen, einen subjektiven künstlerischen Standpunkt zu inszenieren. Jeder Pavillon hatte ein individuelles Erscheinungsbild, denn es wurde auf bereits vorhandenes Material und Bestandsbauten des ehemaligen Flughafens Tempelhof – unter anderem ein Hundezwinger und ein Bunker – sowie auf ausgediente Module eines ein Jahr zuvor stattgefundenen Festivals zurückgegriffen.[31] Fast alle 15 Teilnehmer_innen entstammten dem Umfeld des HAU im Verlauf seines damals neunjährigen Bestehens und ihre individuellen Arbeitsweisen und ästhetischen Handschriften fanden sich auch in den Pavillon-Arbeiten wieder. Manche Arbeiten beschäftigten sich konkret mit Themen aus dem historischen und diskursiven Kosmos des Tempelhofer Feldes oder bezogen sich direkt auf das Format der Weltausstellung.[32] Andere nahmen die Geografie der weitläufigen Brache zum Anlass oder adaptierten schlicht bekannte Formate ihrer Arbeitsweisen. Hans-Werner Kroesinger, der für seine dokumentarischen Theaterstücke bekannt ist, griff die militärische Vergangenheit des Ortes während der letzten Jahrhunderte auf und gestaltete aus Nachrichtenfragmenten der Militärgeschichte eine Soundinstallation. Für Dries Verhoevens Beitrag Fare thee well! kletterten die Besucher_innen im Süden des Geländes auf einen Aussichtsturm, um mit einem Fernglas eine mit bloßem Auge kaum wahrzunehmende Leuchtschrift auf dem Flughafengebäude lesen zu können. Die Weitläufigkeit des Geländes empfahl eine Erkundung mit dem Fahrrad, um die enormen Strecken von einem Pavillon zum nächsten zurückzulegen. Der Lageplan, der die Pavillons verzeichnete, machte keinerlei Vorgabe für einen geeigneten Ausstellungsrundgang. Die Pavillons sollten von Flaneuren zufällig entdeckt werden, beschreibt Martin Rick von raumlabor [Rick 2012: 161-162]. Durch die temporäre Bespielung trat der Spielort Tempelhofer Feld als städtischer Standort – seine historische Dimension, die kontroverse Diskussion um die Zukunft des Geländes – hervor. Das Architekturkollektiv raumlabor ist dafür bekannt, in seinen Projekten aktuelle Diskurse zum Thema Stadtentwicklung aufzugreifen. Die Große Weltausstellung fragte nach dem Umgang mit zunehmend verschwindenden, freien innerstädtischen Arealen und der Einbindung ihrer Geschichte in eine zukünftige Nutzung, indem sie temporär Spielort, Diskurs und Bespielungskonzept in eine individuelle Aufführungsanordnung brachte. Die Architektur der Pavillons selbst nahm in der Wiederverwendung vorhandener Bauten und Materialien ein Prinzip auf, das das in Stuttgart ansässige Kollektiv Studio umschichten in ihrer Gestaltung des Festivalzentrums finalisiert: „Fest steht, dass das eingesetzte Material nicht zerschnitten, zersägt, verklebt, oder in anderer Art und Weise verklumpt oder verletzt sein wird. Wir leihen uns aus, womit wir arbeiten. Hinterher wollen wir alles zurückbauen, es an die Leihgeber zurückzugeben und keinen einzigen Krümel von Abfall hinterlassen!“, so umschichten in der Programmankündigung. Mit einer modularen Bauweise konnten Flexibilität und Transformation als Bestandteil eines offenen Prozesses Einzug in das architektonische Ergebnis halten.[33]
Abb. 12: Tracy Rose The World Is Not Fair © raumlaborberlin
Abb. 13: Toshiki Okada Unable to See © raumlaborberlin
Abb. 14: Toshiki Okada Unable to See © raumlaborberlin
Abb. 15: andcompany&Co. World Freud Center © raumlaborberlin
Die jeweilige Präsentationsform eines Pavillons in Verbindung mit seiner baulichen Gestaltung ließ Adressierungen unterschiedlichster Art zu, die nicht nur für die Vielzahl verschiedener Kunstformen standen.[34] Im übertragenen Sinne bildeten sie Modelle für eine architektonische Nutzungsvariabilität, die mit der Praxis vieler Institutionen immer noch unvereinbar ist. Rabih Mroués Pavillon-Installation Double Shooting, ein Reenactment eines Videoclips, bestand aus 72 Plakatwänden mit vergrößerten Standbildern und wurde für die Betrachter_innen erst gehend entlang eines 45 Meter langen Tunnels sichtbar. Bei der Game-Inszenierung von Machina eX wurde man zum aktiven Mitspieler oder konnte an Lukas Feireiss‘ Institut für Imaginäre Inseln gemeinsam mit dem Künstler aus Holzklötzen eine Stadt der Zukunft bauen. Die Videokünstlerin und Performerin Tracy Rose inszenierte eine sich über die gesamte Laufzeit des Projekts erstreckende Seifenoper. [Abb. 12] Die überdimensionierte Nachbildung eines Schwarzweißfernsehers der Marke Blaupunkt ließ die Besucher_innen auf der Wiese stehend oder sitzend zu Live-Fernseh-Zuschauer_innen werden. Bei der Ausstellungseröffnung wurde eine Stunde Sendezeit „produziert“, die im weiteren Verlauf stetig erweitert wurde, bis schließlich ein kompletter Sendetag verfügbar war. Wer mehrmals kam, sah also immer neue Szenen. Toshiki Okada zeigte das Making-of eines Dokumentarfilms über die gefahrvolle und doch faszinierende Erkundung des Atomkraftwerks von Fukushima nach der Katastrophe. Die optisch herausstechende Konstruktion aus Metallstreben beherbergte eine offene Aufführungsbox mit klar definierter Darsteller-Zuschauer-Anordnung. [Abb. 13 & 14] Das Kollektiv andcompany&Co., das 2008 Artist in Residence am HAU war, gestaltete seinen Pavillon als eine bunte Werkstatt zwischen Bühne und Ausstellungsraum, das bis zum Dach weit sichtbar bespielt werden konnte.[35] [Abb. 15]
Die temporäre Erschließung des Tempelhof-Areals als Spielort unter Einbindung zahlreicher Künstler_innen und Wegbegleiter_innen der Lilienthal-Ära spiegelt auch insofern die ersten neun Jahre des HAU wider, als dieses als neu entstandene institutionelle Struktur Spiel-Räume für die freie Szene geschaffen – im Sinne der tatsächlichen Aufführungsräume wie finanzieller Kapazitäten – und gleichzeitig das Außen auf explizite Weise als Spielort erschlossen hatte. Matthias Lilienthal hatte noch während seiner Zeit am HAU einen der Hangars des Flughafengeländes als weitere Spielstätte für die Berliner Kulturszene und als ein für ihn persönlich zukunftsträchtiges Betätigungsfeld thematisiert.[36]
Gebaut, um wieder zu verschwinden – Das Projekt HOTEL shabbyshabby beim Festival Theater der Welt in Mannheim
HOTEL shabbyshabby war ein gemeinsames Projekt von Theater der Welt in Mannheim 2014, raumlaborberlin (Künstlerische Projektleitung Benjamin Foerster-Baldenius) und ARTE Creative unter Beteiligung des Studio umschichten.[37] Das vom Internationalen Theaterinstitut (ITI) ausgerichtete und alle drei Jahre in einer anderen Stadt und in Zusammenarbeit mit dem dortigen Theater – in diesem Fall dem Nationaltheater Mannheim – stattfindende Festival wurde 2014 bereits zum zweiten Mal von Matthias Lilienthal kuratiert.
Per Ausschreibung wurden international junge, angehende Architekt_innen eingeladen, das Hotelzimmer ihrer Träume für die Stadt Mannheim zu entwerfen. Eine Jury um den raumlabor-Architekten Foerster-Baldenius lud 22 Teams nach Mannheim ein, insgesamt 120 Menschen aus Deutschland und ganz Europa. In einer offenen Workshop-Phase von sechs Tagen Bauzeit und der Vorgabe, Fundstücke und wiederaufgearbeitetes Material aus der Stadt selbst zu verwenden, entstanden 22 „Hotelzimmer“ im öffentlichen Raum. Für die Laufzeit des Festivals waren nun also sofort identifizierbare oder gekonnt verborgene Schlafstätten in Parks, um das Mannheimer Schiller-Denkmal, entlang der Ufer von Neckar und Rhein, im Hafen, in der Fußgängerzone, auf Häuserdächern und so weiter zu finden.
Abb. 16: Karte Shabbyshabby Hotel © raumlaborberlin
Abb. 17/18: StattTheater, Team: Fabian Wolf, Luisa Rubisch, May Kukula,
Tal Engel, Marius Schilling, Anna Derricks © Arthur Bauer
Bereits im Vorfeld des Projekts wurden die Mannheimer um Vorschläge gebeten, an welchen Orten in der Stadt sie sich ein Hotelzimmer vorstellen könnten [vgl. Lilienthal 2014: 48]. Die Schlafstätte StattTheater zum Beispiel war ein Versteck hinter einem Bauzaun, verborgen von einer einseitig spiegelnden Folie, die die Sicht von der Matratze auf die vorbeigehenden Passanten erlaubte, die/den Schlafende/n jedoch vor den Blicken von außen schützte. [Abb. 17 & 18] Hotel Carl eines Schweizer Teams nutzte als Hotelzimmerausstattung schon existente Gegenstände vor Ort und kennzeichnete diese mit großen Schildern. Die Telefonzelle wurde zum Zimmerservice, die Litfaßsäule zum Balkon erklärt und die improvisierte Dusche erhielt ihr Wasser vom Kindergarten nebenan – man musste nur klingeln und die Kinder drehten den Wasserhahn auf. Das Bett, das sich im Kofferraum eines geparkten Kombis befand, stand auf dem Gehweg unmittelbar daneben. [Abb. 19] Auch für The Hedonist, eine rechteckige Hütte aus Holz-Palletten und gewellten PVC-Platten, war Transparenz ein wichtiges Thema. Gelegen an der Neckarspitze, wo Neckar und Rhein ineinanderfließen, hatte man einen weitstreifenden Blick bis zu den BASF Werken in Ludwigshafen. [Abb. 20 & 21] Tubheim, der Beitrag eines französisch-belgischen Kollektivs, bestach dadurch, dass er ausschließlich recyceltes Material und keine Schrauben verwendete.[38] [Abb. 22]
Abb. 19: Hotel Carl, Team: Derk Thijs, Vanessa Gutberlet, Vera Egli,
Marc Warrington, Fjolla Rizvanolli, Luana Paladino © Arthur Bauer
Abb. 20/21: The Hedonist, Team: Nuno Pimenta und Frederico Martins
mit Miguel C. Tavares, Ricardo Leal und Rui Manuel Vieira © Arthur Bauer
Abb. 22: Tubheim, Team: Benoit Gavard, Pierre Yves Baron, Glenn Desury,
Audrey Vongdara, Alexandre Andre © Arthur Bauer
HOTEL shabbyshabby bediente sich bewusst ausgedienter, recycelter Objekte und Materialien aus dem städtischen Alltag um die Entwürfe der Hotelzimmer baulich umzusetzen und agierte damit nicht nur ressourcenschonend, sondern „integrierte“ auch den Lebensraum Stadt in die einzelnen Schlafeinheiten.
Festival-Besucher_innen konnten diese besonderen Hotelzimmer nach Verfügbarkeit für 25 Euro inklusive Frühstück in der Festivalkantine am Nationaltheater, vor dem sich auch die Rezeption des HOTEL shabbyshabby befand, buchen. Für Matthias Lilienthal ergab dieses Projekt eine „ideelle Schnittstelle für das gesamte Festival“. „Auch durch die Arbeit an dem Projekt X Wohnungen hatte ich immer wieder festgestellt, dass die eigentlich unbekannte Welt immer die Welt der eigenen Umgebung ist, während die touristische Welt zur vertrauten geworden ist. Die Hotelzimmer haben den Mannheimern und den Festivalbesuchern die Möglichkeit gegeben, einen fremden Blick auf die eigene Realität zu werfen.“ [Lilienthal 2014: 48] HOTEL shabbyshabby spielte mit diesem herausgestellten Perspektivwechsel auf (die) Stadt. Das Schlafen im Hotel, bereits ein Zeichen für Mobilität, wird in den öffentlichen Raum ausgelagert und so werden Gebrauchsweisen und Funktionszuschreibungen im Umgang mit dem Städtischen befragt. Die temporären Schlafarchitekturen überbauen, verstecken, ver- und enthüllen oder belagern öffentliche Plätze, Baudenkmäler, Statuen, Brunnen, Uferpromenaden und Turnhallen. Sie verschaffen dem Hotelgast zugleich Zutritt zu Orten, die ansonsten nicht zugänglich sind.
Die flexible, improvisierte und auf Zeitlichkeit ausgerichtete Bauweise widersetzt sich gewollt den Maßgaben und Kriterien einer traditionellen Aufführungsarchitektur, wie sich bei diesem Projekt der Akt der Aufführung selbst einer üblichen Theater-Praxis entzieht. In der Nutzung der Hotelbetten als tatsächliche Schlafstätte treten unterschiedliche Zuordnungen zueinander in Beziehung – ist dies eine Aufführung oder eine Dienstleistung, Kunsterleben oder Schlaf, ist der Gast Darsteller_in oder Kunde/in?
HOTEL shabbyshabby steht auch für den Charakter eines Festivals im Sinne einer temporären Intervention. Eine Struktur also, die etwas für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung stellt, Impulse setzt, ohne dabei zwangsläufig eine langfristige Etablierung anzustreben. Dies lässt sich auch an den Architekturen der Schlafstätten nachvollziehen. In einer ARTDokumentation bezeichnete Lilienthal die in der Stadt zerstreuten Hotelbetteinheiten als „nicht ausformulierte Architektur“.[39] Zwar haben sie im Sinne eines traditionellen Architekturverständnisses Wände, Türen und Fenster, jedoch gestalten sich diese durchlässig, brüchig, einsehbar: mal fehlen die Fenster, mal eine Wand, mal besteht diese aus einer transparenten Plane, einem einseitigen Spiegel oder einer Anzahl aufgespannter Regenschirme. Transparenz, Leichtigkeit, Fragilität und eine unmittelbare Involvierung sind Eigenschaften, die die Qualität des Provisorischen als oft wenig beachteten Aspekt des Bauens in Städten hervorhebt.[40]
Architektur als Handlungsanweisung und die Verschiebung von Innen und Außen
In den Beispielen lassen sich verschiedene Tendenzen von Verschiebungsprozessen ausgehend von der architektonischen Konstitution des Theaters finden. Zum einen können mobile Strukturen Teil eines Prozesses der weiteren Ausdifferenzierung der Einheit von Institution, Gebäude und Aufführungstradition sein oder diese forcieren. Zum anderen zeichnet sich in der Linie der Beispiele eine Verschiebung von eher konventionellen Aufführungsweisen hin zu einem offenen Aufführungsbegriff, der Impulse aus anderen Disziplinen einbindet. Parallel transformieren sich die Aufführungsarchitekturen über die Nutzung einer alternativen, aber gebauten Architektur hin zu einer starken Einbindung des Außen, der Verwendung transformierter oder bereits vorhandener Bauelemente oder Bauten und Materialien eines leichtgewichtigen, reversiblen, provisorischen Bauens. Das „Architektonische“ im Sinne der permanenten, festgeschriebenen baulichen Anordnung weicht Anordnungen flexibler, modularer, durchlässiger Art. Dadurch werden auch die in der traditionellen Architektur implizierten Handlungsanweisungen an ihre Nutzer_innen verschoben. Diese Handlungsanweisung[41] traditioneller Aufführungsarchitektur generiert sich nicht nur aus der jeweiligen Anordnung von Zuschauerraum und Bühne, sondern aus weiteren Innenräumen wie Foyer, Aufenthaltsräumen, Garderoben, Probenräumen, Werkstätten und so weiter. All diese Räume in ihrer spezifischen Anordnung und unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Funktion, Nutzung und Codierung ergeben die räumlich-architektonische Konstitution eines Aufführungsgebäudes. Dem hinzu fügt sich das Außen – die äußere Gestaltung des Gebäudes, der Platz, der es umgibt, bis hin zum umliegenden Quartier oder Stadtviertel, das den Standort innerhalb des Stadtraums definiert. All dies in seiner Gesamtheit kennzeichnet einen „festen“ Aufführungsort und ist Bestandteil des Dispositivs Theater. Gerade auch die Zugänge, die Verbindungen von Außen- und Innenraum, sind Kennzeichen einer gebauten Aufführungsarchitektur und werden von ihr geformt. Architektur organisiert Wege und Bewegungen, indem sie Arbeitsabläufe, Richtung und Aufenthalt der Publikumsströme und die Auftrittswege der Darsteller_innen strukturiert. Nicht zuletzt bestimmt Architektur die Begegnung von Zuschauerraum und Spielfläche, begrenzt oder vervielfacht deren Anordnungskonstellationen, generiert Blickachsen sowie Handlungs- und Versuchsräume der künstlerischen Praxis. Der architektonische Raum wird zur Handlungsanweisung für Akteur_innen und Publikum, er kann Handlung produzieren oder reglementieren.
Diese Annahme fußt auf einem architektonischen Raumbegriff, dem ein relationaler, auf Bewegung und Handlung von Körpern basierender Raumbegriff gegenüber steht, wie ihn unter anderem die Soziologin Martina Löw prominent vertritt[42]. Beide Perspektiven schließen sich jedoch nicht aus, sondern lassen es zu, unterschiedliche Schwerpunkte zu fokussieren [vgl. Büscher / Eitel / von Pilgrim 2014: 6].
Ein architektonischer Raumbegriff, wie ihn der Soziologe Dirk Baecker vertritt, dient in diesem Fall dazu, aufzuzeigen, wo das Mobile am Architektonischen „ansetzt“. Baecker setzt mit seiner Definition von Architektur die Unterscheidung von Innen und Außen als zentrales Differenzmerkmal für Architektur. Diese Unterscheidung ist das Ergebnis einer Suche nach dem Leitgedanken für die Konstitution von und Kommunikation über Architektur, dem verschiedenste andere, aber nicht zufriedenstellende Zugänge der Architekturtheorie ausführlich vorangestellt werden [vgl. Baecker 1990: 67–82]. Die architektonische Wand selbst wird zum zentralen Element, denn mit ihr wird die Unterscheidung von Innen und Außen wieder zusammengeführt. Die Wand ist die Abschirmung, die gleichzeitig „das Innen von einem Außen ausgrenzt und gegen ein Außen schützt […].“ [Baecker 1990: 90]. Diese Abschirmung, die, so führt Baecker weiter aus, das Medium der Architektur ist, kann in unterschiedlichster Gestalt auftreten. „Das Medium der Architektur ist die Mannigfaltigkeit aller möglichen Abschirmungen: Wände, Dächer, Böden, Decken, Fenster, Türen, Brüstungen, Treppen, Lichtkegel und Schattierungen – und dies alles in beliebiger Kombination, Dimensionierung und Staffelung nach Innen und nach Außen, nach Oben und nach Unten.“ [Baecker 1990: 93] Damit rücken Schließung und Öffnung, das Betreten und Verlassen in dem Sinne, dass sich dadurch die wahrnehmbaren Verhältnisse verändern, in den Fokus [vgl. Baecker 1990: 90-91].[43] Das Passieren des Übergangs von innen nach außen oder umgekehrt ist immer das Passieren einer Schwelle. An ihrem Übertreten kann die hier herangezogene Definition einer baulich fest(geschrieben)en Architektur veranschaulicht werden. Setzt man an diesen Schwellen an, können die Übergänge von Innen und Außen ausgesetzt, verschoben oder umgestaltet werden. In Hinsicht auf die vorangegangenen Beispiele mobiler, temporärer Aufführungsarchitekturen kann ein solcher architektonischer Raumbegriff zeigen, dass das Potenzial mobiler Strukturen in der Verschiebung der architektonischen Schwellen von Innen und Außen und deren individueller Neudefinition liegt. Dabei geht es im übertragenen Sinne auch um eine Neugestaltung des Zugangs und der Zugänglichkeit zu Theater auf sozialer und künstlerischer Ebene, indem die handlungsstrukturierende und definitorische Kraft der Architektur produktiv befragt, unterlaufen oder aufgebrochen wird.