Entwerfen – produzieren – transformieren

Vom Freiraum zum Zukunftsraum

 

Amelie Deuflhard (Hamburg)

 

 

„1970, im schwersten Krisenjahr seiner Geschichte, richtete der Kopiergerätehersteller Xerox mit dem Palo Alto Research Center ein Forschungslabor ein, in dem jede*r junge Wissenschaftler*in die eigenen Ideen frei und ohne jede Vorgaben entwickeln konnte – in einer Atmosphäre des Austauschs und der Kollaboration: ‚Die Atmosphäre war wie elektrisiert, es herrschte totale Freiheit. Es gab keinen gesunden Menschenverstand, fast jede Idee wurde als Herausforderung angesehen und regelmäßig hinterfragt‘ (John Warnock). In diesem Labor wurden ‚Jahrhundertideen‘ entwickelt wie das Konzept für Laptops, die Idee der Maus, Videobearbeitungssoftware, Prototypen für grafische Benutzeroberflächen. Allerdings gelang es Xerox nur, Ideen anzuwenden, die für Kopierer entwickelt worden waren. Die anderen Ideen wurden von Konzernen wie Apple und Microsoft oder von Ausgründungen von Startups aufgegriffen und zum Erfolg geführt.“ (Danke an Anschlaege.de für das Beispiel.)

 

Im Folgenden werde ich versuchen, exemplarisch Raumaneignungen, Öffnung von Räumen, deren Transformation und inhaltliche Neubesetzung, aber auch Schaffung von neuen performativen Räumen zu beschreiben. Temporäre Räume, Frei- und Zwischenräume sind aus meiner Sicht ideale Ausgangspunkte für das Schaffen von künstlerischer Innovation, ihre kontinuierliche Nutzung in den letzten beiden Jahrzehnten ist ein wichtiger Teil meiner künstlerischen Biografie. Dafür möchte ich mich auf eine Reise begeben ins Nachwende-Berlin seit den 1990iger Jahren und ins Hamburg des 21. Jahrhunderts. In Berlin werde ich mich vor allem der frühen Erschließung des Stadtteils Mitte durch künstlerische Zwischennutzungen zuwenden, von denen sich einige, wie die Kunst-Werke und die Sophiensæle, etabliert haben und aus der Stadt nicht mehr wegzudenkende Institutionen geworden sind. Andere sind wieder verschwunden. Dabei werde ich beispielhaft nachweisen, wie wichtig diese Zeit der Zwischenräume für das Entstehen der heutigen Kunstszene in Berlin ist, die auch international eine der führenden ist. Weiterhin betrachte ich die künstlerische Zwischennutzung des dekonstruierten Palastes der Republik als Volkspalast 2004-2005, in dem vor allem freischaffende Künstler*innen einen Anspruch auf dieses riesige politisch kontaminierte Areal im Zentrum von Berlin erhoben. Dadurch intervenierten sie in die wichtigste städtebauliche Diskussion der Hauptstadt, in die Frage nach der Nutzung des zentralen Platzes in Berlin – nämlich des Schlossplatzes – und gleichzeitig des wichtigsten Kulturtempels der DDR. Anschließend geht meine Reise nach Hamburg zu Kampnagel, wo ich zeigen werde, wie Ideen und Strategien von Zwischennutzungen, also temporären Nutzungen, auf eine Institution angewendet werden können – und wie man auf diese Weise eine Institution partiell deinstitutionalisieren, durchlässig machen und damit neu justieren kann. Schließlich werde ich anhand der Projekte EcoFavela Lampedusa Nord und Migrantpolitan, einem transnationalen Begegnungs- und Aktionsraum auf dem Kampnagelgelände, darstellen, wie innerhalb einer Institution selbstorganisierte Räume geschaffen werden können.

Für meine Ausführungen werde ich im Schnelldurchlauf die Entwicklung der freien Szene der letzten zwanzig Jahre mit einem Fokus auf die Eroberung von Räumen beschreiben. Diese Geschichte der freien Szene ist auch eine Geschichte von Aneignungen. Leerstände wurden zu Freiräumen, Freiräume zu Kunsträumen, heterotopen Orten. Diese zunächst relativ unregulierten Orte sind zu den neuen Tempeln der Kunstproduktion geworden – zu Zukunftsorten. Zu Orten der Verausgabung und Verschwendung in Zeiten von Ökonomisierung, zu Schutzräumen für gesellschaftliche und künstlerische Experimente und zu Orten der gemeinschaftlichen Erfahrung und des Austausches mit unterschiedlichen Publika.

 

Die räumliche Situation im Berlin der 1990er Jahre glich in Teilen dem Beispiel von Palo Alto. Das Labor war Berlin Mitte mit seinen überbordenden Leerständen von Fabriken, Läden, Schulräumen, Gebäuden: ein durch die Wiedervereinigung entstandener riesiger Möglichkeitsraum. Viele dieser Immobilien wurden in jahrelangen komplizierten Verfahren an ihre ursprünglichen Eigentümer*innen zurückgeführt. Um Leerstand zu vermeiden, wurden sie bis zum Abschluss der Rückführung an Kreative vermietet. Die Verträge waren immer befristet, häufig nur auf ein Jahr, die Mieten günstig. Raum wurde relativ ungesteuert zur Nutzung freigegeben. Es war Jutta Weitz von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, die sich dieses Verfahren nicht nur ausgedacht, sondern es auch durch- und umgesetzt hat. Diese Räume wurden als Spielfläche / Spielraum / Freiraum angenommen und von Künstler*innen, Galerist*innen, Kreativen, Projektemacher*innen benutzt. Selbstbeauftragt hatten sie sich alle. Die neuen Akteur*innen eigneten sich das benötigte Wissen überwiegend im Learning-by-Doing-Verfahren an. Die begrenzte Zeitdauer der Zwischennutzungen war kein Hinderungsgrund für die Bespielung. Räume erschienen zu Beginn der Nachwendezeit austauschbar – es war ja genug Platz da. Und vielleicht setzte die Temporalität auch Energien frei und nahm Druck. Der Wagemut war groß, die Risiken, die eingegangen wurden, ebenfalls. Mögliches Scheitern war in jeden Fall systemimmanent.

 

Beispiel 1: Tacheles Berlin

1990 bis 2012 wurde das ehemalige Kaufhaus Friedrichstraßen-Passage als Kunsthaus Tacheles kulturell zwischengenutzt. Die Besetzung des Gebäudes durch Künstler*innen aus Berlin erfolgte 1990 kurz vor der geplanten Sprengung. Das Tacheles wurde rasch zum angesagten Kunst-, Aktions- und Veranstaltungszentrum in Berlin. Es umfasste dreißig Künstlerateliers sowie Veranstaltungsräume und Ausstellungsflächen. Innerhalb nur weniger Monate wurde es zum Hotspot der Berliner Offszene und zu einem Touristenmagneten. Das Gesicht des als Verein basisdemokratisch geleiteten Tacheles wurde rasch Jochen Sandig, einer der visionären Kulturpioniere im Berlin der Nachwendezeit.

Tags: anarchisch, dirty, wild, gefährlich, autonom

 

Beispiel 2: Kunst-Werke Berlin

Die Kunst-Werke Berlin – KW Institute for Contemporary Art wurden von Klaus Biesenbach in einer baufälligen ehemaligen Margarinefabrik in Berlin Mitte gegründet. Sie zeigten vor allem in der Anfangszeit überwiegend Bildende Kunst aus Berlin und wurden schnell zum Anziehungspunkt auch für internationale Galeristen. Die erste große Ausstellung 37 Räume im Jahr 1992 ist legendär: Sie bot eine räumliche Eroberung des Scheunenviertels und Einblicke in leerstehende Räume wie Privatwohnungen, Läden, Klassenzimmer, die jeweils von unterschiedlichen Kurator*innen bespielt wurden. Bei der ersten Berlin Biennale 1998 zeigten mehr als siebzig internationale, in Berlin lebende oder sich temporär dort aufhaltende Künstler*innen für die Ausstellung neu entstandene Arbeiten. Die Auswahl der Ausstellungsorte wie die KW Institute for Contemporary Art in der Auguststraße, die Ruine der Akademie der Künste am Pariser Platz und das ehemalige Postfuhramt in der Oranienburger Straße sollte den Umbruch und die Vielfalt der Stadt widerspiegeln. Ziel war es, den sich permanent wandelnden Charakter der Metropole hervorzuheben und Kollaborationen zwischen den einzelnen Disziplinen und Künstler*innen über den Ausstellungszeitraum hinaus zu ermöglichen. Die Ausstellung legte den Grundstein für die Kunststadt Berlin und lockte Fachleute und Kurator*innen aus der ganzen Welt an. Künstler*innen wie John Bock, Monica Bonvicini, Thomas Demand, Olafur Eliasson, Elmgreen & Dragset, Thomas Hirschhorn, Jonathan Meese, Pipilotti Rist, Wolfgang Tillmans, aber auch performativ arbeitende Künstler wie Jan Liesegang von raumlaborberlin, Xavier le Roy oder Christoph Schlingensief waren auf der Biennale vertreten.

Tags: exklusiv, high art, edel, Politik nah, hier gab es das neue Berliner Bürgertum schon bevor es den Begriff gab

 

Beispiel 3: Sophiensæle Berlin

Die Sophiensæle wurden 1996 im ehemaligen Handwerkervereinshaus von Jochen Sandig und Sasha Waltz gegründet als Produktionshaus für Performing Arts, Theater und Tanz. Sie waren langjähriger Produktionsort für Sasha Waltz und Künstler*innen aus Berlin. Das Programm wurde frühzeitig ergänzt durch internationale Produktionen. Eröffnet wurden die Sæle im Herbst 1996 mit Sasha Waltz’ Produktion Allee der Kosmonauten, die 1997 zum Theatertreffen eingeladen wurde und anschließend auf Welttournee ging. Dies brachte die Sophiensæle mit einem Schlag als künstlerischen Hotspot auf die Landkarte Berlins und rasch auch auf die internationale. Künstler*innen wie Sasha Waltz, Constanza Macras, Torsten Lensing, Nico and the Navigators, Uli Rasche, Jérôme Bel, Xavier le Roy, Milo Rau, Bernadette la Hengst, Monstertruck, Christian von Borries oder Rimini Protokoll nutzten die Räume über Jahre als ihren Produktions- und Aufführungsort. Das Konzept der Sophiensæle zeigte im Vergleich zu anderen Orten deutliche Alleinstellungsmerkmale auf: Es wurden fast ausschließlich Neuproduktionen erarbeitet. Dafür wurden lange Probezeiten ermöglicht und Aufführungsserien von oft zehn Vorstellungen zugesagt. Dazu gab es ein Angebot an Dienstleistungen wie die Übernahme von Produktionsleitungen und der Produzentenrolle für Künstler*innen-Gruppen. Künstlerische Auseinandersetzung mit den charismatischen und historisch aufgeladenen Räumen war erwünscht. [Abb. 1-2]

 

Abb. 1: Das Blau des Himmels von Ivan Stanev, Sophiensaele,
Berlin (2000) Foto: David Balzer

 

Abb. 2: 231, East 47th Street von Ulrich Rasche, Sophiensaele,
Berlin (2004) Foto: David Balzer

 

Ab den 2000er Jahren wurde das Konzept ausgeweitet auf die Zusammenarbeit mit Raumpionieren und die Bespielung unterschiedlichster Orte in Berlin, unter anderen dem Kaufhaus Jahndorf, dem Potsdamer Platz, der Museumsinsel, Läden und Wohnungen, der Cargolifterhalle in Brandenburg, dem Staatsratsgebäude oder dem Palast der Republik. Für Adrienne Goehler, Kultursenatorin a. D. und langjährige Chefin des Hauptstadtkulturfonds, waren die Sophiensæle 2006 „ein Kraftwerk im Laboratorium Berlin, das versteht, sich mit andern Energiefeldern, derer es viele in der Hauptstadt gibt, zu verbinden. [...] ein gerettetes und selbstbewusst behauptetes Stück jenes Goldgräber-Berlins, das diese Stadt für eine internationale Kunstszene so aufregend gemacht hat. Ein kleiner handlungsfähiger Ort, der sich einmischt in die Belange der Stadt, [...] durch Experimentierfreude [...], durch schnelle interventionistische künstlerische Zugriffe auf Themensetzungen“ besticht. [Goehler 2006: 101]

Tags: Homebase für Künstler*innen, Szeneort, Produktionsort, offen, kreativ, rough, hipp, Hotspot

 

Beispiel 4: 2002–05 ZwischenPalastNutzung / Volkspalast Berlin

Der Verein ZwischenPalastNutzung wurde 2002 unter der Federführung von Philipp Oswalt und Amelie Deuflhard gegründet mit der Zielsetzung, den asbestsanierten und dekonstruierten Palast der Republik zu bespielen. Das kuratorische Konzept wurde gemeinsam mit Hans Ulrich Obrist, Hannah Hurtzig und Boris Ondreika entwickelt und schloss alle wichtigen Akteur*innen der Zwischennutzung der Nachwendezeit ein. „1000 Tage heißt: Der Palast wurde in eben dieser Zeit gebaut (1973–76), genauso lang wollen wir uns von ihm verabschieden. 1000 Personen initiieren 1000 Projekte. [...] Es soll eine Plattform geschaffen werden, die – ähnlich dem Internet – möglichst offen zugänglich ist. Monolithisches, hierarchisches Denken soll durch Vielfalt ersetzt werden. Der Palast der Republik kann so zu einer neuartigen temporären Institution des 21. Jahrhunderts werden.“ [Zwischen Palast Nutzung 2003: 5]

Das Konzept bestand darin, einen Staffellauf der Ideen und Kurator*innen zu produzieren: Keiner sollte dauerhaft den Ort bespielen dürfen. Es sollte kleine und monumentale Veranstaltungen geben. Das Ende war vorgegeben. Temporalität – tausend Tage – war dem Projekt eingeschrieben. Die historische Aufladung des Ortes sollte überschrieben und transformiert werden. Aus dem transitorischen Ort sollten Ideen für die Zukunft des Geländes generiert und auch ein Modell für eine kulturelle Vision des 21. Jahrhunderts geschaffen werden. Im Volkspalast 2004-2005 gab es Programme von Hochkultur bis Sub- und Clubkultur, Sportveranstaltungen, Kongresse, Konzerte und Partys. [Abb. 3-6]

 

Abb. 3: Eröffnung ZwischenPalastNutzung / Volkspalast Berlin,
Berlin (2005) Foto: David Balzer

 

Abb. 4: Fassadenrepublik ZwischenPalastNutzung / Volkspalast Berlin,
Berlin (2004) Foto: David Balzer

 

Abb. 5: Fun Palace ZwischenPalastNutzung / Volkspalast Berlin,
Berlin (2004) Foto: David Balzer

 

Abb. 6: Zweifel ZwischenPalastNutzung / Volkspalast Berlin,
Berlin (2005) Foto: Gorm Gaare

 

Der Volkspalast war eine offene Plattform, in der multiple Stimmen zugelassen wurden – ein Labor für eine neuartige Polyphonie. Ein hergestelltes, produziertes, geplantes Labor, das die Berliner Zwischennutzer*innen einbezog und gleichzeitig die Forschungen von Philipp Oswalt zum Potential von Zwischennutzungen für die Stadtentwicklung in das Konzept einfließen ließ. Somit war dieses Projekt wesentlich stärker gesteuert als die eher spontanen Zwischennutzungen der 1990er. Die Hauptakteur*innen des Projekts waren Philipp Oswalt mit Studio Urban Catalyst, die Sophiensæle unter Amelie Deuflhard, die Staatsoper Berlin beziehungsweise das HAU Hebbel am Ufer (nachdem die Staatsoper ausgestiegen war) und raumlaborberlin. Das Projekt ist zwar in seinem Anspruch gescheitert, ein zeitgenössisches Kunstzentrum im Herzen Berlins zu errichten und den Palast der Republik zu erhalten beziehungsweise den Wiederaufbau des Stadtschlosses zu verhindern, hat aber dennoch tiefe Spuren in Berlin hinterlassen.

Tags: interventionistisch, widerständig, glamurös, aufsehenerregend,, nachhaltig

 

Beispiel 5: Kampnagel Hamburg

Kampnagel ist eine stillgelegte Kranfabrik, die 1982 nach sogenannten Besetzungsproben durch freischaffende Künstler*innen Hamburgs in ein Kunstzentrum umgewandelt wurde. Ab 2007 wurde das etwas in die Jahre gekommene Zentrum neu justiert: Die Grundidee war, die Visionen der Pioniere und Zwischennutzer*innen aus der Nachwendezeit mit denen einer Institution zusammenzuführen in einer spielerischen Anknüpfung an die Besetzungsgeschichte und ihrer Transformation. Die Öffnung des Geländes und der Hallen für unterschiedliche Disziplinen und Nutzungen sowie die Bespielung des Außengeländes und unterschiedlicher Stadträume sind seit 2007 Teil der kuratorischen Strategie. [Abb. 7-9]

 

Abb. 7: Eingang mit Vorplatz, Kampnagel Hamburg, Foto: Anja Beutler

 

Abb. 8: Emergenz Uraufführung von Jose Vidal,
Kampnagel Hamburg (2019). Foto: Öncü E. Gültekin

 

Abb. 9: Die Untoten von Hannah Hurtzig,
Kampnagel Hamburg (2011). Foto: Conny Winter

 

Das Kampnagel-Gelände wird nicht als Umgebung passiv hingenommen, sondern als Raum aktiv genutzt, um Austausch zwischen den Künstler*innen und dem Publikum zu provozieren. Hierfür werden Formate entwickelt wie der Sommer- bzw. Kunstgarten Avant Garten, eine Sauna oder ein Pool, ein künstlerisch bespielter Hamam, lange Tafeln zum Festmahl für das Publikum, Installationen für Kongresse oder Schlafinstallationen u.v.m. Auch Interventionen im öffentlichen oder halb-öffentlichen Raum gehören selbstverständlich zum Kampnagel-Programm.

Die Hallen selbst werden als Theaterbühne, Konzerthaus, Tanzsaal, Vorlesungssaal, Kongresshalle, Lounge, Club, Casino oder Festsaal divers und international bespielt. In thematischen Schwerpunkten zu lokalen und globalen Themen werden über dialogische Kunstproduktion Verbindungslinien zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen gezogen, in die oft auch das Publikum und andere Institutionen der Stadt miteinbezogen sind. Beispielhaft genannt seien: Beschäftigung mit Migrationsbewegungen, Flucht und Postkolonialismus, Klimawandel, queer-feministischen Diskurse oder Inklusion von Menschen mit Behinderung. Formate der Partizipation führen zu einer aktiven Einbindung von Communities und Publika. Dafür werden regelmäßig Großprojekte unter Beteiligung von Laien oder andere künstlerische Partizipationsformate produziert wie Schwarzmärkte von Hannah Hurtzig, Beschwerdechöre oder unterschiedliche Karaoke-Formate, aber auch große diskursiv-politische Ereignisse wie die International Conference of Refugees and Migrants. Dabei geht es nicht vordergründig um die Akquise von Publikum, sondern darum, als öffentlicher Ort Angebote an unterschiedliche Communities zu machen.

Tags: international, interdisziplinär, divers, politisch widerständig, gastlich, postkolonial, subversiv, etabliert

 

Beispiel 6: Die neue Avantgarde. Zukunftsräume von Geflüchteten - EcoFavela Lampedusa Nord und Migrantpolitan Hamburg

Die EcoFavela Lampedusa Nord sowie das Migrantpolitan, das sich aus ihr entwickelt hat, waren beziehungsweise sind offene, autonome Projekte auf dem Kampnagel-Gelände. Die EcoFavela wurde im Winter 2014 von Baltic Raw hergestellt als Winterquartier für Geflüchtete und über sechs Monate von Baltic Raw und Kampnagel betrieben. Es war Werkstatt, Probenraum, Küche, Communityraum zugleich und brachte es – nicht nur wegen einer Strafanzeige der AfD – zu einiger Berühmtheit. Nach dem Projektzeitraum von sechs Monaten wurde die EcoFavela in das Migrantpolitan transformiert, einen autonomen Kunstraum, der von und mit Geflüchteten, Teilen der Kampnagel-Dramaturgie, Neu- und Althamburger*innen, Migrant*innen und der Hamburger Künstler*innen-Szene als offener und ganztägig zugänglicher Raum unabhängig betrieben wird. [Abb. 10-11]

 

Abb. 10/11: Migrantpolitan, Kampnagel Hamburg (2015). Foto: Anja Beutler

 

Stereotypisierende Labels und Kategorisierungen werden abgelegt und neue Modelle des Zusammenlebens, des gemeinsamen Feierns und Diskutierens erprobt. Maßgebliche Akteur*innen in der Bedarfsanalyse, der Gestaltung und der Bespielung dieses Raumes waren unter anderem Kampnagel-Kuratorin Nadine Jessen und der nigerianische Journalist Larry Macaulay. Kurz nach der Eröffnung des Ortes stieß der damalige syrische Aktivist und heutige Kampnagel-Kurator Anas Aboura zum Team. Der Impact dieses neuartigen Labors ist enorm: Das Migrantpolitan ist ein wichtiger Ort der Vernetzung und Begegnung geworden, hat aber auch auf Kampnagel und die Bespielung der Hallen ganz direkt Einfluss. Denn interessante Projekte können jederzeit vom kleinen Experimentierraum in die Hallen wandern. So werden sogenannte Refugees zu den neuen Pionieren der Szene. Syrian Diasporic Sounds, Oriental Karaoke, Refugee Radio Network, Soli-Casino oder die Online-Serie Hello Deutschland – die Einwanderer sind nur einige der Formate, die in diesem Kontext entwickelt und vielfach international beachtet wurden.

Tags: autonom, transkulturell, solidarisch, gastlich, verraucht, grenzüberschreitend

 

Fazit

Als ich auf Kampnagel 2007 anfing, fragte mich eine Journalistin von Die Welt, ob es stimme, dass ich nicht alle Programme alleine mache und die Kurator*innen am Kampnagel auch mitreden dürften beziehungsweise eigenständige Programme entwickelten. Meine Antwort lautet, dass mir die Kunst, ein kreatives Milieu für Viele zu schaffen, eine höhere zu sein scheint als allein ein gutes Programm zu konzipieren – ganz im Sinne von The Art of being many wie eine Tagung im September 2014 in Hamburg hieß. Nach dem Motto des Palo Alto Research Center versuche ich auf Kampnagel, die unterschiedlichen Interessen und Expertisen trotz institutioneller Rahmung möglichst frei agieren zu lassen. Vielleicht kann man sich Kampnagel vorstellen wie eine große Plattform, vor allem im analogen, aber immer mehr auch im digitalen Raum, an die sich interessante Akteur*innen unterschiedlichster Felder und auch andere Institutionen andocken und es zu inhaltlichen Synergien kommt. Eine so offen gestaltete Plattform, die sich aus unterschiedlichen flexiblen Räumen zusammensetzt und ganz plural gestaltet wird, kann aus meiner Sicht für Kulturinstitutionen ein zukunftsweisendes Modell sein.

Wenn Freiräume zu Zukunftsräumen werden sollen, muss das ihnen zugrundeliegende Konzept als im Prozess befindlich und damit beweglich begriffen werden. Räume können Ideen generieren, aber jede Nutzung transformiert auch den Raum. Neue Räume schaffen – wie wir am Beispiel Berlin gesehen haben – auch neue Akteur*innen, die am liebsten selbstbeauftragt handeln. Wenn Institutionen beweglich bleiben wollen, sollten sie Freiräume herstellen. Räume, in denen Zukunft ohne Einschränkungen gedacht und entworfen werden kann.

 

 

Literatur

Goehler, Adrienne. Goldgräberstück. Über Berlin als Laboratorium und die Sophiensaele als Prototyp für gesellschaftliche Veränderung. In: Deuflhard, Amelie (Hg.). Spielräume produzieren – Sophiensæle. Berlin 2006.
Initiative Zwischen Palast Nutzung (Hg.). „Chance der Republik: 1000 Tage. Konzept zur temporären kulturellen Nutzung des Palastes der Republik“. 2003, http://www.zwischenpalastnutzung.de/_zpn/pdf/1000tage.pdf, 15.03.2019.

 

 

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