Raum-Bewegungs-Reflexionen

Choreografische Auseinandersetzungen mit Orten und Räumen

Christina Thurner (Bern)

 

 

 

„Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen“, schreibt der französische Kulturphilosoph Michel de Certeau im Kapitel Gehen in der Stadt in seinem Buch Kunst des Handelns. [de Certeau 1988:188] Dabei geht es ihm nicht um die Tanzkunst, den Gegenstand des folgenden Beitrags, und dennoch lassen sich einige seiner Thesen für tänzerische Choreografien und ihre Auseinandersetzung mit Raum produktiv machen. So kann die Dynamisierung von Räumen insofern unter choreografischen Gesichtspunkten betrachtet werden, als mit de Certeau die bewegte „Gestaltung von Räumen“ qualitativ einer „kinesischen Aneignung“ gleichkommt, [de Certeau 1988:188] also einer Aneignung, die sich über Bewegung vollzieht. Um das Verhältnis von Raum und Bewegung, um die choreografische Reflexion von Bewegungen an bestimmten Orten und durch Räume soll es im Folgenden gehen.

Unter ‚Choreografie’ versteht man in der Tanzwissenschaft heute – unter anderem – die Komposition von Tanz, also von Schritten oder physisch bewegten Figuren in beziehungsweise mit Raum und Zeit. Diese Definition geht historisch auf das frühe 20. Jahrhundert zurück; vorher bedeutete der Begriff das Aufschreiben von Tanz, die Notation. [vgl. u.a. Dahms 2000: 67] Der Tanznotation steht die Tanzaufführung als jeweils performatives Ereignis im Hier und Jetzt gegenüber. Die Bedeutung von ‚Choreografie’ verschiebt sich somit vom „Auf-Schreiben“ von Tanz auf Papier hin zum flüchtigen „Ein-Schreiben“ von Bewegungen, d. h. von physischen Motionen, in den Raum. Dabei wird der Raum durch die Bewegungen belebt, organisiert oder auch – a posteriori – entworfen.

Versteht man Choreografie im künstlerischen Kontext als eine Aufführung von komponierten Bewegungen in theatralem Rahmen, dann stellt sich zudem die Frage nach der Beschaffenheit der Bühne und des Theaterraums. „Theater kann grundsätzlich überall stattfinden, da seine R[äum]e durch die Benutzung definiert werden. Aufführungen sind nicht auf institutionalisierte Theaterbauten angewiesen,“ schreibt Jens Roselt. [Roselt 2005: 260] Insbesondere den Guckkastenbühnen kehrten zunächst die Performancekunst und dann auch der zeitgenössische Tanz im 20. und 21. Jahrhundert vermehrt den Rücken, um sich andere Orte zu erobern und Räume zu bespielen, die neue künstlerische Möglichkeiten eröffneten.[1]

Bereits Isadora Duncan, Pionierin des modernen Tanzes, bekundet, dass sie „in andächtigem Schauer mehrere Stunden hindurch [im Athener Tempel] verharrte“, [Duncan 1928:123] um schließlich zur Erkenntnis zu gelangen, dass alle ihre bisherigen Erfahrungen nicht an den Tanz an dieser griechischen Stätte heranreichten, an der sie „glaubte zu erkennen, daß der Geist, den ich suchte […] noch immer die Ruinen des Parthenon bewohnte.“ [Duncan 1928:123] Ihr war der Ort demnach Raum für Inspiration, die sie bewegt und auf Tuchfühlung mit dessen ‚Geistern’ umsetzte: „Ihr Musen“, rief sie aus, „rüstet euch zu neuem Tanze!“ [Duncan 1928:120]

Von Räumen außerhalb der gängigen Theaterbauten ließen sich Performer_innen auch später immer wieder inspirieren, um ihre choreografische Arbeit gewissermaßen vor Ort zu entwerfen und zu reflektieren – von Trisha Brown, die 1973 ihr Roof Piece auf den Dächern von New York platziert, bis zum sogenannten ‚site-specific dance’, im Zuge dessen beispielsweise Anna Huber in ihrer Stückreihe umwege theaterfremde Räume wie U-Bahn-Stationen im Bau, Thermalbäder oder auch Museen bespielt oder etwa Willi Dorners urbane Nicht-Orte. Man könnte die Reihe schier endlos weiter fortsetzen. Allerdings soll es in diesem Beitrag weniger darum gehen, zu zeigen, dass, sondern vielmehr wie solche Raum-Bewegungs-Reflexionen als choreografische Auseinandersetzungen mit dynamisierten Orten und Räumen und damit auch als bewegliche Architekturen zu deuten sind. Mich leitet bei der genaueren Betrachtung die These, dass die bewegte Aneignung, das Aktivieren und Neu-Organisieren von Räumen dabei nicht nur vollzogen, sondern als Prozess auch wahrnehmbar gemacht und in seinen Möglichkeiten und Begrenzungen reflektiert wird.

 

Räume öffnen und komprimieren – Anna Huber

Es interessiere sie „der gedachte im realen Raum, die unterschiedliche Qualität auch von Räumen,“[2] sagt die Schweizer Choreografin Anna Huber in Bezug auf ihr erstes abendfüllendes Solostück in zwischen räumen von 1995. [Abb. 1] Ein Metallgestell steckt da im Theaterraum einen Luftkubus ab. Das Scheinwerferlicht und die raumgreifenden Bewegungen der Tänzerin unterteilen diesen in weitere Räume, die – nicht materiell begrenzt – sich sogleich wieder auflösen. Mit den Armen misst die Tänzerin einen Winkel ab, wo faktisch keiner da ist; sie balanciert auf einer Diagonalen, zu der kein Viereck existiert und sie tastet sich aus einem Lichtquader heraus, als lauere daneben ein Abgrund. Indem sie in ihrer eigenen Imagination solche Raumformeln aufstellt, verlangt sie auch von den Betrachtenden, dass diese sich die Räume, die nicht als Kulisse bestehen, selber schaffen.

 

Abb. 1: Anna Huber: in zwischen räumen, 1995 (Foto: Ute Schendel)

 

Die Schritte und Körperfiguren der Tänzerin können nicht lokalisiert werden; sie hinterlassen keine Spuren, weder auf dem Boden noch in der Luft, sondern ephemere kinetische Eindrücke bei den Zuschauenden. Damit reflektiert diese Choreografie gerade ‚Choreografie’ im älteren Wortsinn. Die Schritte und Figuren entziehen sich einer Fixierung, sonst würde – wie de Certeau dies in Bezug auf die Äußerungen von Fußgängern beschreibt – die Spur die Praxis ersetzen und das, worum es im Raum geht, eine jeweils bestimmte Art des In-der-Welt-seins, überdecken. [vgl. de Certeau 1988: 189] Im „Akt des Vorübergehens“ [de Certeau 1988: 195] liegt die Aussage solcher Tanzstücke.

In ihrer oben erwähnten umwege-Reihe verlässt Huber dann auch konkret den Theaterraum, eignet sich und dem Publikum anders funktionalisierte Orte an wie beispielsweise die Therme in Vals, den U-Bahnhof Potsdamer Platz, das KKL Luzern, das ehemalige Feuerwehrhaus der Vitra GmbH in Weil am Rhein oder die Parchi di Nervi in Genua usw. Dabei geht sie eher formalästhetisch auf die Strukturen dieser Räumlichkeiten als auf die Semantik der Orte ein.

 

Räume begehen und verbinden – Meg Stuart

Auch Highway 101 der amerikanischen Choreografin Meg Stuart und ihrer belgischen Kompanie Damaged Goods bezieht das Publikum abseits bequemer Theatersessel in die bewegte Raumaneignung mit ein, wenn auch anders. Ihre ‚residence’ am Schauspielhaus Zürich (in der Ära Marthaler) hatten Stuart/Damaged Goods 2001 mit einem Tanzperformance-Parcours begonnen. Die Tänzer_innen führten das Publikum von der Tiefgarage des sogenannten Schiffbaus, eines neu erschlossenen Theaterhauses, durch Treppenhäuser ins Theaterfoyer und von dort in die verschiedenen Bühnenräume. Gemeinsam durchschritten Performer_innen und Publikum die Räumlichkeiten, und eigneten sich diese durch den Akt des Begehens an. Die Choreografie geht von Alltagssituationen und -gesten aus, die die Ausführenden jedoch in jeweils kurzen Szenen steigern, zuspitzen, verfremden und die Räume auf diese Weise als theatrale kennzeichnen. So schreiten sie etwa vom Auto zum Lift, kommen dort aber nicht an, weil sie von unsichtbaren Kräften geschoben, gezogen, gehetzt und ausgebremst werden; oder sie fläzen sich in Sesseln in der Theater-Lounge, durchkreuzen aber die Atmosphäre der Gemütlichkeit mit anzüglichen bis heftigen Bewegungsausbrüchen – inmitten der Zuschauenden, die mit ihnen dieselben Räume teilen.

Highway 101 nun ist kein geschlossenes Stück, sondern eine Kette von Ereignissen entlang eines Weges – wie der Begriff Highway ja auch andeutet. Dabei beschränkten sich dieser Weg und diese Begehung nicht etwa auf das Theatergebäude in Zürich, sondern erstreckten sich auf verschiedene Stätten und Städte. Begonnen wurde das Projekt im Jahr 2000 in Brüssel, wo Stuart und ihre Kompanie Damaged Goods noch heute beheimatet sind, dann ging es nach Wien, Paris, Rotterdam und eben Zürich. Choreografin und Tanzende lassen sich von den jeweiligen Räumlichkeiten inspirieren und schreiben ihnen dann passende oder aber gerade störende Bewegungen und Szenen ein. [Abb. 2]

 

Abb. 2: Meg Stuart / Damaged Goods: Highway 101, 2000/2001
(Wien, Foto: Maria Ziegelböck)

 

Durch die Reihung der Ereignisse nicht nur zwischen den einzelnen Räumen an einem Ort, sondern zwischen den geografischen Stätten, legen die Performer_innen ein choreografisches Weg- und Ereignisnetz über die Landkarte. Damit weitet Highway 101 im Akt des Be-Gehens[3] das einzelne urbane System zu einem interurbanen System aus. Jene, die sich auf dem Highway 101 bewegen, verbinden die durch performative Begehung räumlich realisierten Orte zu einem Highway entlang mehrerer solcher Orte, die je und gleichzeitig zusammen als topographisches System in der Performance angeeignet werden.[4] Das Besondere dabei ist, dass dies in Stuarts Choreografie nicht nur die professionellen Performer_innen tun, sondern auch das mit-performende Publikum. Auch wenn die einzelnen Besucher_innen wohl in den meisten Fällen nicht an allen Plätzen mit dabei waren, werden sie durch ihre Partizipation und ihre eigene Aneignung von Spiel-Raum Teil dieses gesamten, offenen topografischen Systems. Sie gehen mit auf dem Highway und ordnen so ihre Räume den anderen bei.

 

Räume vervielfältigen und choreografieren – Sasha Waltz

Das letzte Beispiel dieses Beitrags geht in der Aneignung von Räumen noch in eine weitere Richtung. Die Berliner Choreografin Sasha Waltz hat sich und ihrem Tanz bisher verschiedenste Räume erschlossen: von den Sophiensaelen über die Allee der Kosmonauten zu etablierten Theater- und Opernhäusern, verschiedenen prestigeträchtigen Museen und Musiktempeln bis zu Abbruchpalästen. Ich persönlich finde Waltz’ Raumerschließungen nicht alle gleichermaßen geglückt. Das Projekt Insideout ist allerdings im Hinblick auf das Thema „Bewegliche Räume“ und auf die Beispielreihe, die dieser Beitrag entwirft, durchaus interessant, auch weil es wiederum exemplarisch für ähnliche Arbeiten angesehen werden kann. [Abb. 3]

 

Abb. 3: Sasha Waltz & Guests: insideout, 2003 (Foto: Jochen Sandig)

 

Insideout ist eine begehbare Tanzinstallation, entstanden als Koproduktion der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin mit Graz 2003 und dem Steirischen Herbst. Waltz’ Choreografie lässt das Publikum nicht allein mitgehen und so teilhaben, in der Installation werden deren Besucher_innen vielmehr Bestandteil der komplexen Choreografie. Jede/r Einzelne choreografiert sich da beim Betrachten von choreografierten Fragmenten gehend ihre/seine Version des Abends, und gleichzeitig werden ihre/seine Bewegungen durch das räumliche Arrangement choreografiert und so choreografiert sich das bewegte Gesamtereignis.

Dutzende Stunden vorgefertigte Choreografie mitsamt den spontanen Choreografien, d. h. Raumaneignungen durch das „Publikum“,vollziehen sich in dem eineinhalb Stunden dauernden Abend mit dem bereits auf Räumliches verweisenden Titel insideout. Dabei hat jede/r Besucher_in am Schluss der Vorstellung sehr viel gesehen, obwohl er eigentlich noch viel mehr verpasst hat. Man betritt einen Raum voller Kammern, Nischen, Auf-, Ab- und Durchgängen, in dem sich die Produktion von Sasha Waltz und ihrer Kompanie abspielt; Tanzende, Musiker und Publikum bewegen sich alle mit- und durcheinander. Als Besucher_in realisiert man bald, dass sich über den gesamten Raum verstreut choreografierte Szenen abspielen, zu denen man hingeht, wobei man aber jeweils nur an einem Ort sein kann. Niemand sagt einem, wo es langgeht, was man tun kann, wo man hinschauen muss.[5] Jede und jeder ist im Gewimmel auf sich allein gestellt, soll sich sein Stück selber ergehen. Ehe man es sich versieht, tritt man mitten ins Geschehen und wird Teil einer Szene, dann steht man wieder plötzlich außen vor, kommt zu spät oder erhascht gerade noch im Augenwinkel eine flüchtige Episode.[6]

Die Produktion von Waltz und ihrer Kompanie geht in dieser (fast) völligen Freiheit für den Besucher über das bloße Aufsprengen der herkömmlichen Bühnensituation hinaus. Vielmehr reflektiert sie ebenfalls die Schaffung und Organisation von Räumen durch die Choreografie,[7] wobei das Publikum diesmal nicht nur zuschaut oder mitgeht, sondern wesentlicher Bestandteil der Gesamtchoreografie ist. Jede/r einzelne Besucher_in legt flüchtige Wege in den Raum.[8]

Auch hier ergibt sich ein fortgesetzter „Akt des Vorübergehens“, der das Ereignis kreiert und strukturiert, dabei aber weder vorbestimmt noch fixierbar ist, sondern es als ein Spiel mit der Raumaufteilung, als das „Resultat einer Reihe von Begegnungen und Gelegenheiten, die es unaufhörlich veränder[t]“. [de Certeau 1988: 194] In Waltz’ choreografischer Installation muss der Besucher den Raum mit den Performern und mit anderen Besuchern teilen, er kreuzt deren Wege, muss ihnen also immer wieder ausweichen, auf sie zu-, von ihnen weg- oder um sie herumgehen. Da, wo plötzlich viele hingehen, zieht es ihn auch hin, weil die Menge ein Ereignis kolportiert; da wo es zu eng wird, weicht er zurück. Die mehr oder weniger aufeinander bezogenen Bewegungen aller verändern jeweils den Raum.[9]

Insofern gleichen sich die von de Certeau beschriebenen Wege der Passant_innen in der Stadt und jene der Besucher_innen in insideout. Das ist kein Zufall, lehnt sich die Produktion doch an urbane Praktiken an in der Art, wie die Räume im Raum, die Auf-, Ab- und Durchgänge gestaltet sind und dadurch das Geflecht der Wege der Besucher angelegt ist. Dennoch unterscheidet sich das Gewimmel aus Schritten und Wegfiguren in diesem künstlerischen Gefüge freilich von jenem etwa in einer Bahnhofshalle. In der choreografischen Installation von Waltz geht es gerade darum, den sich scheinbar aus einer Reihe von Zu-Fällen ergebenden Prozess erfahrbar werden zu lassen und den Teilnehmenden die räumliche Rhetorik – buchstäblich – zu vergegenwärtigen. Die Besucher_innen choreografieren nämlich nicht nur den Raum durch ihr Gehen und ihre jeweilige Wahl der Wege, sie werden vielmehr durch das Arrangement der Tanzinstallation auch choreografiert.

Just in jenen Momenten, in denen die Besucher_innen zu wissen meinen, wie es läuft, wird das Tempo erhöht, das Geschehen verdichtet und das Publikum in Aggressionen oder Verfolgungen miteinbezogen, werden panikartige Zustände heraufbeschworen und Räume so verengt, dass klaustrophobische Situationen entstehen. Die Besucher_innen werden in den gut eineinhalb Stunden nicht bloß in Bewegung gehalten, sie werden vielmehr fast unmerklich auch gelotst, verstreut, geballt, dynamisiert oder gebannt. Durch die Anlage der bewegten Installation wird erreicht, dass Choreografie als Einschreibung von Bewegung in den Raum nicht nur betrachtet, sondern von Performer_innen und Publikum gemeinsam räumlich vollzogen und im bewegten Vollzug erfahrbar gemacht wird.

 

In diesem Beitrag ging es darum, zu zeigen, wie in der zeitgenössischen Choreografie Raum nicht nur geschaffen und organisiert, sondern wie Raum durch physische Bewegungen von Akteur_innen im Raum, d. h. wie also Raum in Bewegung, wahrnehmbar gemacht und reflektiert wird. Dabei werden klassische Raummodelle und Zuschauerkonventionen gesprengt. Choreografie macht hier vielmehr Raum-Bewegungs-Reflexionen erfahrbar. Die Beispiele habe ich so angeordnet, dass eine schrittweise Verlagerung von der dargebotenen Reflexion der Beschaffenheit von und dem Umgang mit Raum im Tanz auf der Bühne hin zu einer offenen, dynamischen und aktiven Schaffung – Choreografie – von flüchtigen Räumen durch Performer_innen und Publikum deutlich werden kann.

Gemeinsam ist den Beispielen, dass jeweils in einem Akt des Vorübergehens, im flüchtigen Mitgehen, performativ laufend neue Räume geschaffen werden. So lässt sich zum Schluss der Satz von de Certeau, der am Anfang dieses Beitrags steht, auch umdrehen. „Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen“ [de Certeau 1988:188] könnte dann in den Satz münden: Die Gestaltungen der Schritte sind Spiele mit Räumen.

 

 


[1] Vgl. zur Unterscheidung von ‚Ort’ und ‚Raum’, auf die ich mich hier berufe, de Certeau 1988, 217ff. Demnach ist ein Ort statisch(er) zu verstehen als eine „momentane Konstellation“ mit „Hinweis auf eine mögliche Stabilität“; ein Raum dagegen dynamisch als „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ [de Certeau 1988:218].
[2] Die Zitate von Anna Huber stammen aus einem Interview, das die Autorin mit der Choreografin am 22. Juni 1998 geführt hat. Vgl. dazu auch Thurner 1999.
[3] Vgl. de Certeau, der das System Stadt mit jenem der Sprache vergleicht und schreibt: „Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist“. [de Certeau 1988: 189]
[4] Vgl. dazu auch de Certeau: „[Z]um einen gibt es den Prozeß der Aneignung des topographischen Systems durch den Fußgänger (ebenso wie der Sprechende die Sprache übernimmt oder sich aneignet); dann eine räumliche Realisierung des Ortes (ebenso wie der Sprechakt die lautliche Realisierung der Sprache ist); und schließlich beinhaltet er Beziehungen zwischen unterschiedlichen Positionen, das heißt pragmatische ‚Übereinkünfte’ in Form von Bewegungen (ebenso wie das verbale Aussagen eine ‚Anrede’ ist, die den Angesprochenen festlegt und die Übereinkünfte zwischen Mitredenden ins Spiel bringt) [...]. Das Gehen kann somit fürs erste wie folgt definiert werden: es ist der Raum der Äußerung.“ [de Certeau 1988: 189]
[5] Vgl. das Interview von Carolin Emcke mit Sasha Waltz, darin sagt die Choreografin: „Es gibt keine Limitationen, außer den üblichen Sicherheitsbeschränkungen. [...] Die Zuschauer können sich unterschiedliche Aufgaben selber stellen, sie können sich das Stück wie ein Puzzle spielerisch zusammensetzen. Jeder hat dann am Schluss ein anderes Bild von der Aufführung.“ [Waltz 2003:16]
[6] Vgl. auch de Certeau: „Einige Orte verurteilt er [d.i. der Gehende] dazu, brach zu liegen oder zu verschwinden, und mit anderen bildet er ‚seltene’, ‚zufällige’ oder gar unzulässige räumliche ‚Wendungen’ (wie Redewendungen). Und das führt bereits zu einer Rhetorik des Gehens.“ [de Certeau 1988: 191]
[7] Vgl.: „Das Aufgeben einer linearen Erzählstruktur bedeutet ja nicht automatisch bloßes Chaos“, so die Choreografin. „Im Gegenteil. Gerade die Parallelität in verschiedenen Räumen verlangt eine ungeheure Präzision.“ [Waltz 2003: 14]
[8] Sasha Waltz sagt dazu im Interview: „Der Zuschauer vollzieht die Bewegung, die das Stück erzählt, selber unbewusst nach. Er wird gezwungen, nah ran zu gehen, plötzlich draußen zu bleiben und nur durch Schlitze schauen zu können, er muss diesen Prozess des Wechsels von innen und außen, von privat und öffentlich durch die Architektur mitvollziehen. Distanz und Nähe muss der Zuschauer spüren, weil er zwischen den einzelnen Räumen mit ihrer Intimität und dem freien, offenen Raum, ‚dem Marktplatz’, wandern kann. Mit diesen Zuständen kann er spielen. Das Publikum selbst wird zum Akteur. Bei einem normalen Theaterbesuch siehst Du die anderen Zuschauer eigentlich nur beim Betreten des Theaters oder in der Pause. Bei ‚insideout’ nehmen sich die Zuschauer permanent gegenseitig wahr. Sie sind alle Teil des Stücks.“ [vgl. Waltz 2003: 16]
[9] Vgl. auch de Certeau: „Das Gehen, das sich Schritt für Schritt fortsetzt oder fortgesetzt wird, macht aus der Umgebung etwas Organisch-Bewegliches, eine Abfolge von phatischen topoi.“ [de Certeau 1988: 191] Die Aktivitäten der Performer und jene der Besucherinnen verknüpfen sich in insideout entsprechend zu einem komplexen, dynamischen Raumgefüge, das sich nicht aufzeichnen lässt und auch bei jeder Vorstellung wieder anders ist. Sasha Waltz erklärt zum Konzept von insideout im Interview, die Installation gebe „Angebote an die Zuschauer, denen sie folgen können – oder nicht.“ [vgl. Waltz 2003: 8] Sie wollte die „Dramaturgie von Zeit- und Raumblöcken, an der alle gemeinsam entlanglaufen“ aufheben, sagt Waltz, und weiter: „Ich habe mich selbst gezwungen, das alles loszulassen.“ [vgl. dazu auch Waltz 2003: 13]

 

 

Literatur
Certeau, Michel de. Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Vouillé. Berlin 1988.
Dahms, Sibylle. „Anmerkungen zu den ‚Tanzdramen’ Angiolinis und Noverres und zu deren Gattungsspezifik“. In: Gabriele Buschmeier und Klaus Hortschansky  (Hg.). Tanzdramen / Opéra-comique. Kolloquiumsbericht der Gluck-Gesamtausgabe. Kassel u. a. 2000:67-73.
Duncan, Isadora. Memoiren. Zürich u. a. 1928.
Roselt, Jens. „Raum“. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. v. Erika Fischer-Lichte u. a. Stuttgart 2005:260­-267.
Thurner, Christina. „Tr(ans)a(d)di(k)tionen. Experimenteller Bühnentanz von Schweizer Choreograph/innen“. In: Jahrbuch Tanzforschung. Bd. 9 / 1998. Hrsg. v. der Gesellschaft für Tanzforschung e.V. Köln. Wilhelmshaven 1999:195­-223.
Waltz, Sasha. Programmheft insideout. Schaubühne am Lehniner Platz. Berlin 2003.

 

 

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