Instante Architekturen

Andreas Wolf (Leipzig)

 

 

Die Thematiken „Architektur und Bewegung“ und „Bewegliche Architekturen“ stellen sich für den Architekten als durchaus janusköpfig dar. Während Ersteres ein positiv besetztes, breites Assoziationsfeld eröffnet, stellen sich „Bewegliche Architekturen“ deutlich sperriger dar und lösen zunächst reflexhafte Ablehnung aus. In der Tat werden zum Kanon klassisch-abendländischer Baugeschichte ausschließlich Immobilien gezählt und bewegliche Sonderbauten wie Schwenkbrücken oder Mühlen gemeinhin als technische Infrastrukturen kategorisiert. Auch der fragende Blick ins deutsche Baurecht hilft kaum weiter, obwohl es sich mit dem Terminus „Fliegende Bauten“ eine erstaunlich poetische Umschreibung für transportable Zelte, Schaustellerwagen und ähnliches erlaubt. All diese Objekte zeichnet jedoch aus, dass sie nur im aufgebauten, dann also statischen Zustand funktional und rechtlich gefasst sind.

Kurzum, der Architektur scheint ein latent immobiles Moment eingeschrieben zu sein, das sich – trotz industrieller Durchdringung und Vorfertigung – immer noch im archaisch zu charakterisierenden Fügungsprozess des Mauerns, Betonierens und Zimmerns manifestiert. Und in der Tat schätzen viele Architekten diese vermeintliche Rückständigkeit nicht nur als eine Spezifik des Metiers, sondern geradezu als Schutzschild gegen die übergriffige „Just-in-Time“-Logik einer zunehmend neoliberalen Bauwirtschaft.

 

American Diner

Dennoch haben sich in der Moderne einige Gebäudetypologien entwickelt, die gezielt Beweglichkeit als architektonisches Thema aufgreifen und explizit machen. Da sie wesentlich Teil der neu entstehenden automobilen Kultur- und Gesellschaftsformen des frühen 20. Jahrhunderts sind, fallen sie zuerst in den USA ins Auge. Beispielhaft soll hier der American Diner betrachtet werden, der als mobiles Schnellrestaurant in der Zwischenkriegszeit aufkommt und in den 1950er Jahren zunehmend Verbreitung findet (Abb. 1).

 

Abb. 1: Diner, Foto: Elizabeth Thomsen, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23630491

 

Zunächst geht es nur um einen „Fliegenden Bau“ mit einem großen, busähnlichen Chassis respektive fahrtauglicher Karosserie, welcher mit einigem Transportaufwand von einem Zugwagen an den Aufstellort verbracht wird und dort meist für Monate oder gar Jahre verbleibt. Latent mobil, werden situativ meist Eingangstreppen, Vordächer und Ähnliches angefügt. Ein besonderes, geradezu obligatorisches Detail ist eine spezielle Blende, welche Fahrwerk samt Reifen umlaufend abdeckt und mittels Ziegel- oder Steinornament einen massiven Sockel suggeriert. Während also Außen- und Innengestaltung des Diners in Form und Material die raumprägende Automobilität bis hin zu reisetauglichen Sitzecken und skailedernen Oberflächen geradezu plakativ darstellen, wird diese durch die Art der Situierung, Aufständerung und insbesondere Sockelausbildung gestalterisch konterkariert, ja durch eine gezielte Überhöhung der Statik geradezu monumentalisiert.

Diese paradoxe Setzung konfiguriert ein räumlich wie sozial überaus interessantes Milieu, das bei niedrigschwelligem Preisangebot und ohne Kleiderordnung eine besondere Form anonymer, Rassen- und Gendergrenzen überschreitender Emanzipation bei quasi räumlich-familiärer Inklusion ermöglicht. Diese seltenen Qualitäten hat der amerikanische Film – insbesondere das Roadmovie – früh erkannt und eine Vielzahl von cineastischen Schlüsselszenen hier verortet, in denen die Protagonisten beim zyklischen Refill dünnen Kaffees den sie bedrängenden gesellschaftlichen Realitäten auf Zeit entkommen und dennoch das – vertrauensvoll freundschaftliche – Verhältnis zur Bedienung, auch bei jahrelangen Stammkunden, nicht über das Kennen des Vornamens hinaus vertieft wird.

 

Himmel über Berlin

Wim Wenders ist wohl der Regisseur, der diese Form von latent automobiler Ortssetzung am kongenialsten auf deutsche Verhältnisse übertragen hat. Spätestens im Himmel über Berlin verdichten sich die in seinen frühen Filmen noch als Einzelmotive auftretenden Architektur-Vehikel (wie der Kino-LKW im Lauf der Zeit) zu einem ganzen Reigen instanter Stadtmöbel, die vom märchenhaften Zirkuszelt vor den Brandwänden an der Friedrichstraße bis zur schnöden Imbissbude am Anhalter Bahnhof reichen (Abb. 2).

 

Abb. 2: Der Himmel über Berlin (BR Deutschland/Frankreich 1986/87)
von Wim Wenders © Wim Wenders Stiftung – Argos Films

 

Die fragilen Grenzlinien und Schwellen zwischen Innen und Außen, privat und öffentlich, Individuum und Gesellschaft werden analog zum American Diner mittels Vordächern, Seitenblenden, Entrees etc. präzise gezogen, und die dramaturgische Choreografie zwischen Mensch und Engel folgt exakt diesen ephemeren Grenzsetzungen.

Betrachtet man diese von Wim Wenders eingesetzten architektonischen Mittel im Spiel zwischen Bruno Ganz und Peter Falk oder in den minimalistischen Posen eines Curt Bois in und mit dem frei platzierten Polstersessel auf dem noch brachliegenden Potsdamer Platz, so erkennen wir hier schon das nahezu vollständige Repertoire an Interventionen, mit denen eine Dekade später junge Planer*innen den Schrumpfungsphänomenen vor allem ostdeutscher Städte inszenatorisch zu entsprechen suchen und die heute als instante Architekturen gängige Gestaltungspraxis im Rahmen unterschiedlichster künstlerisch-partizipativer Prozesse sind.

 

Grill out Lounge

Geradezu paradigmatisch zeigt die von der Leipziger Architektengruppe Urbikon im Rahmen der Stadtumbaugärten 2005 publizierte Bauanleitung zu selbstgefertigten Grillmöbeln den Transformationsprozess eines mobilen Vehikels in ein architektonisches Objekt (Abb. 3).

 

 

Abb. 3/4: Grillout-Lounge, Konzept & Produktion urbikon.com © 2005,
Kai Dolata, Michael Grzesiak, Sebastian Stiess, Fotos: urbikon.com

 

Hierzu wird ein Einkaufswagen zunächst seiner Räder beraubt, um dann einen schweren Betonverguss als Sitzfläche beziehungsweise Feuerstellenaufsatz zu erhalten. Rollenlos und zentnerschwer eignet sich der Caddy nun für die situative Inbesitznahme und (Re-)Vitalisierung städtischer Brachen und Freiräume. Solcherart robuste Stadtbausteine könnten in dem Sinne als „bewegliche Architekturen“ bezeichnet werden, als dass sie ihre Zeitlich- und Beweglichkeit eben nicht nur latent in sich tragen, sondern gestalterisch explizit machen und als besondere architektonische Qualität im Sinne einer intensiven und emanzipierten Präsenz im urbanen Raum thematisieren.

 

 

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