Bewegte Architekturglieder: Spolien

Hans-Rudolf Meier (Weimar)

 

 

Als man im Jahre 1207 nach einem Großbrand in Magdeburg den Dom neu baute und dafür damals im Reich neuartig moderne gotische Formen mit entsprechender Wandgliederung wählte, fügte man im Chorpolygon in die Dienstgliederung vier große Säulen ein, die in demonstrativer Weise präsentiert werden: Auf Säulenbündeln sind sie vor die Wandpfeiler gestellt und heben sich durch ihre Farbe und Materialität vom übrigen Gestein des Chors deutlich ab (Abb. 1). Es sind Spolien – sichtbar und intentional wiederverwendete Bauglieder –, die aus dem von Kaiser Otto I. gegründeten und eben abgebrannten Vorgängerbau übernommen wurden. Während sie dort wohl die Langhausarkaden getragen haben, sollten sie nun an prominenter Stelle im neuen, modernen Chor, in dem der kaiserliche Gründer und dessen Gemahlin begraben lagen, an die altehrwürdige Tradition des Domes erinnern.

 

Abb. 1: Magdeburg, Domchor, nach 1207. Die Spoliensäulen sind aufgrund ihrer Farbe sogleich erkennbar. Sie sind Teil der Pfeilerstruktur und heben sich zugleich davon ab. Flankiert werden sie von Figuren- und Reliquiennischen. Foto: Carola Jäggi

 

Eine weitere Bedeutungsschicht kommt hinzu: Bereits Kaiser Otto hatte im 10. Jh. in seinem Gründungsbau des Magdeburger Bistums diese Säulen sekundär als Spolien verbaut. Er ließ die aus wertvollen Marmoren gefertigten Schäfte aus Italien importieren und bevorzugte dabei Porphyr, das Material, das in römischer Zeit kaiserlichen Bauten und Objekten vorbehalten war [Bosman 2011]. Wie schon die Zeitgenossen bemerkten, folgte Otto damit Karl dem Großen, der gut eineinhalb Jahrhunderte davor für seine Aachener Pfalzkapelle Spolien – darunter Porphyrsäulen – aus Rom und Ravenna – der spätantiken Kaiserstadt und Residenz des Ostgotenkönigs Theoderich – importiert hatte. Der überaus aufwändige Transport des kostbaren und imperial konnotierten Materials sollte die Translatio des kaiserlichen Anspruchs von Italien ins Römisch-Deutsche Reich veranschaulichen. Entsprechend wird auch die Materialität der Spolien zeichenhaft präsentiert. Zugleich sind diese ins Bauwerk inkorporiert und laden es quasi kontaktmagisch mit Bedeutung auf, ein Prozess, der in Magdeburg über die Säulen und deren politisch-historische Sinnstiftung hinaus zusätzlich sakral überhöht wird: Zwischen die Spolien sind in die Arkadenwand Nischen eingelassen, die Heiligenreliquien bergen. Diese sind selber nicht sichtbar, sie müssen geglaubt werden und wirken Kraft des Glaubens an sie. Dagegen werden die Spolien gezeigt, und zwar in ihrer sichtbaren Andersheit, welche auf ihre Translokation zurück verweist.

Die am Magdeburger Beispiel kurz skizzierte Praxis der Bedeutungsübertragung durch bewegte Architekturglieder endet nicht mit dem Mittelalter, sondern ist auch eine Option architektonischen Schaffens des 20. und 21. Jh. Es geht zwar nicht mehr um das Kaisertum, doch soll der Transfer von Baugliedern zumindest die Dignität von Alter und Erhabenheit übertragen. So ist in New York die Mittelalter-Abteilung des Metropolitan Museums of Arts in The Cloisters untergebracht, einer Art Museumskloster im Ford Tryon Park am Nordrand von Manhattan, das den zahlreichen wertvollen Preziosen aus dem europäischen Mittelalter ein angemessenes Ambiente bieten soll. Nicht nur in den Bauformen hat man sich dafür an mittelalterlichen Anlagen orientiert, vielmehr wurden komplette Säulensätze gleich mehrerer Kreuzgänge romanischer Klöster verbaut, die der amerikanische Bildhauer und Kunstsammler George Grey Barnard zwischen 1906 und 1914 in Südfrankreich erworben und – gegen wachsenden Widerstand vor Ort – nach Amerika verschifft hatte (Abb. 2) [Kletke 1994; Jäggi 2013: 59-61].

 

Abb. 2: Teile des Kreuzgangs von St-Guilhelm-le-Désert auf dem Weg von
Südfrankreich über Paris nach New York, ca. 1906. Foto: Repro aus Kletke 1994

 

John D. Rockefeller Jr. erwarb 1925 diese Sammlung für das Metropolitan Museum of Art und ließ von Charles Collens das historisierende Museum errichten, dessen Räume sich um den zentral angeordneten Kreuzgang mit den Spolien aus St-Michel-de-Cuxa gruppieren und der hochwertigen aber heterogenen Mittelalter-Sammlung eine ‚echt mittelalterliche‘ Hülle bieten. Die Spolienarchitektur kompensiert die Absenz von baulichen Zeugnissen einer von weißen bildungsbürgerlichen US-Amerikanern als eigen verstandenen Vergangenheit. Die Spolien infizieren die im Übrigen einer hochwertigen zeitgenössischen Sachlichkeit verpflichteten Architektur und schaffen eine raum-zeitliche Beziehung zwischen dem heutigen New York und dem mittelalterlichen Europa.

 

Die Bewegung der Materie und der Geist des Ortes

Einen kompensatorischen Aspekt kann man auch in der Spolienarchitektur jüngster Zeit, etwa des Berliner Architekturbüros Jordi & Keller, erkennen: Sowohl in den sogenannten Stadthäusern am Friedrichswerder in Berlin sind Spolien in die Fassaden eingefügt (Abb. 3) [Bongiorno 2013: 127f.] als auch am Haus Markt 40 in der jüngst eingeweihten Neuen Altstadt in Frankfurt, wo die Bauglieder von anderen Häusern stammen, die vor dem 2. Weltkrieg dort im Quartier standen [Sturm und Cachola Schmal 2018: 186f.].

 

Abb. 3: Berlin, Caroline-von-Humboldt-Weg 18, Jordi & Keller, 2007.
„Townhouse“ mit Gesimsespolien. Foto: Hans-Rudolf Meier

 

Eine sich demonstrativ traditioneller Bauformen bedienende neue Bürgerlichkeit sucht, die Traditionslinien mittels Spolien materiell zu verfestigen. Entsprechend aufwändig hat man für das Frankfurter Dom-Römer-Projekt Spolien gesucht, sie inventarisiert und zahlreiche Bauglieder, die inzwischen andernorts verbaut waren, sorgfältig ausgebaut, sie gewissermaßen ‚zurückgeführt‘ (Meier 2013: 341f.). Zentral war, wie bei allen größeren Rekonstruktionsprojekten der jüngsten Zeit, die mediale Begleitung und Inszenierung des ganzen Prozesses. Die Inszenierung der Fragmente soll der Neuen Altstadt Authentizität verschaffen. Zugleich – wenn auch wohl eher nicht intendiert – scheinen die Spolien aber auch auf die Brüchigkeit solcher Traditionskonstruktionen zu verweisen.

Denn dass es mit der intendierten Übertragung des mit der Materie verbundenen Geistes durch die Translozierung der Architektur nicht immer klappt, hat René Clair in der Filmkomödie The Ghost Goes West schon 1935 thematisiert. Der Geist des Ortes ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen: In einem heruntergekommenen schottischen Schloss geistert in der Folge einer im 18. Jh. in einer Familienfehde erlittenen Schmach Murdoch Glourie als Gespenst durch die Gemäuer. Der klamme Nachfahre Donald muss das Schloss dem reichen amerikanischen Unternehmer Mr. Martin verkaufen, der den Bau komplett zerlegen und verschiffen lässt, um ihn in Florida wieder aufzubauen. Aufgrund der schrillen Inszenierung am neuen Ort weigert sich dann aber das Gespenst, weiter zu spuken. Die Bewegung des Baus hat in diesem Falle also die wesensbestimmende Performance in seinem Inneren zum Erliegen gebracht.

 

Verbinden von Orten

Nicht um den Geist des Ortes, sondern um die Erinnerung an ihn geht es beim bewegten Bauteil, das tragendes Konzept von Francesco Venezias Museo Civico in Gibellina Nuova ist. Die sizilische Kleinstadt Gibellina war 1968 durch ein Erdbeben nahezu vollständig zerstört und danach 16 Straßenkilometer von ihrem ursprünglichen Standort entfernt neu aufgebaut worden. Vergleichsweise gut überstanden hatte das Beben die Fassade des neoklassizistischen Palazzo Lorenzo, die dann am alten Ort abgebaut und in Venezias Neubau eines Museums eingefügt wurde, das der Geschichte des Ortes gewidmet ist und durch die Spolien auch materiell an die alte zerstörte Stadt zu erinnern hat [Venezia 1985]. Deren Ruinen wurden vor Ort unter einer von Alberto Burri gestalteten dicken Zementschicht – dem sogenannten Cretto – begraben, so dass die Spolien in der Neustadt die wenigen überhaupt noch sichtbaren Reste der untergegangenen Stadt sind. Anders als etwa in der Neuen Altstadt Frankfurt ging es aber Venezia nicht darum, die Spolien als Authentizitätsgenerator zur Stabilisierung eines scheinbar vertrauten Stadtbildes einzusetzen: Dafür ist der Bruch für die Bewohner zu traumatisch und Gibellina Nuova, die zur Stadt der modernen Kunst werden sollte, zu offensichtlich neu. Die Spolienfassade ist daher auch nicht in ihrer angestammten Funktion nach außen zur Straße orientiert, sondern von Venezia im Innenhof des Museums eingebaut worden. Auch in Gibellina Nuova soll die Spolie den Bogen in eine vergangene Zeit schlagen, wichtiger aber: zu einem vergangenen Ort. Ihre Übertragung beinhaltet die Aspekte des Bergens und des Entwickelns: Die durch den Verlust wertvoll gewordenen Überbleibsel werden im Museum schützend aufbewahrt, bilden dort aber auch den Nukleus, aus dem heraus das Neue gebildet wird.

Entwickeln aus Überresten ist ein Entwurfsthema auch des Europagebäudes in Brüssel, des 2016 fertiggestellten neuen Sitzes des Europäischen Rates von Philippe Samyn & Partners. Die zur Hauptstraße orientierten Nord- und Ostfassaden sind aus rund dreitausend wiederverwendeten Holzrahmenfenstern zusammengesetzt, die aus verschiedenen europäischen Ländern gesammelt wurden [Choppin und Delon 2014: 172f.]. Sie sollen ein Zeichen des nachhaltigen Bauens und der Einheit in der kulturellen Vielfalt der europäischen Union setzen. Einige der alltäglich in ganz Europa noch immer zugunsten von mehr oder minder fürchterlichen Kunststoffprodukten weggeworfenen Holzfenster wurden gesammelt, aufbereitet, transformiert und damit kulturell validiert. Patchwork, Reparatur und Recycling sollten für das neue Versammlungs- und Repräsentationsgebäude des EU-Rates programmatisch sein und die damit erzielte neue ästhetische Einheit aus der Diversität müsste als starkes Statement verstanden werden.

Dass die Versammlung von Material unterschiedlicher Herkunft auf diese zurückverweist und durch die Zusammenführung am neuen Ort zugleich die Verfügungskraft des neuen Besitzers über die diversen Herkunftsorte repräsentieren soll, ist ein alter Topos, der die Vielfalt und Herkunft der verbauten Materialien mit dem Herrschafts- bzw. Einflussgebiet des Auftraggebers verknüpft und damit – so seit Vitruv die Architekturtheorie – auf dessen Magnificentia verweist [Gampp 1994: 243ff.]. So brachte etwa im 6. Jahrhundert der Dichter Paulus Silentiarius bei der Beschreibung der Hagia Sophia in Konstantinopel die detaillierte Herkunftslokalisierung und Qualitätsbeschreibung der verwendeten Gesteine mit der weltumspannenden Herrschaft des (ost-)römischen Kaisers zusammen [Silentiarios 1977: 340f.].

Teilweise ähnlich ist das Verweiskonzept der Spolienverwendung am Chicago Tribune Tower, dem 1923 von Raymond Hood und John Mead Howells im Stil des Gothic Revival errichteten Sitzes der großen überregionalen Tageszeitung. In der Sockelzone sind dem Gebäude Spolien aus der ganzen Welt einverleibt [Wharton 2013; Jäggi 2013: 59f.; Lippert 2016: 65ff.]: Steine aus sämtlichen Bundesstaaten der USA werden ergänzt durch mehr als siebzig Fragmente von berühmten Gebäuden der Welt: vom Kölner Dom, von der Westminster Abbey, dem Arc de Triomphe, vom Petersdom in Rom, dem Taj Mahal etc., dazu aus jüngerer Zeit durch Reste der 2001 zum Einsturz gebrachten Twin Towers des World Trade Centers in Manhattan. Alle diese durchwegs kleinteiligen Fragmente sind durch Beschriftungen eindeutig identifizierbar (Abb. 4). Die Teile sind hier nicht als Bauglieder versetzt, vielmehr bilden sie so etwas wie eine Sammlung steingewordener Zitate zum Weltgeschehen. Sie repräsentieren auf diese Weise den globalen Anspruch der sich einst als „World's Greatest Newspaper“ rühmenden Zeitung.

 

Abb. 4: Chicago, Chicago Tribune-Tower, Raymond Hood und
John Mead Howells, 1923. Foto: Hans-Georg Lippert

 

Schluss: Bedeutung durch Bewegung

Fragen wir nun abschließend und bezogen auf das Thema dieser Publikation nach der Funktion und der Bedeutung der Bewegung von Architekturgliedern in den erwähnten Beispielen und Verfahren. Generell generiert die Bewegung des eigentlich Unbeweglichen eine Bedeutung sowohl für das Objekt als auch für die Aktion des Transfers. Die Präsenz des bewegten Dings als sichtbar Anderes lässt nach den Ursachen fragen: „Etwas muss an der Sache sein, sonst wäre das alte Holz nicht da“, heißt es abschließend in Jeremias Gotthelfs Novelle Die schwarze Spinne (1842) zur Holzspolie, in der nach der Legende die einst Unheil bringende schwarze Spinne eingesperrt sein soll. Die Präsenz verweist aber auch zurück auf die stattgefundene Bewegung. Wenn Architekturteile mobil werden, aus ihrem eigentlichen Kontext entfernt und anderswo inkorporiert werden, sind Stabilität(en) in Frage gestellt oder aufgebrochen [Meier 2017]. Mit Spolien werden Teile von Immobilien mobil – um dann aber durch den erneuten Einbau wieder stabil zu werden. Ihre in den hier gezeigten Beispielen durchwegs sichtbare Andersheit weist im neuen Kontext auf die Transformation zurück. Sieht man von Beispielen akzidenteller Verwendung wie dem Chicago Tribune Tower ab, ergibt sich aus der demonstrativen Präsenz der offensichtlich bewegten Glieder und ihrer erneuten Verfestigung in der neuen Architektur eine Bedeutung – oder zumindest eine Aufmerksamkeit konstituierende Spannung. Die Bewegung der Architekturglieder schafft sichtbare Beziehungen zwischen Orten und Zeiten, die durch die Spolien repräsentiert werden.

 

 

Literatur:
Bongiorno, Biagia. Spolien in Berlin nach 1945. Motive und Rezeption der Wiederverwendung von Fragmenten. Petersberg 2013.
Bosman, Lex. „Bedeutung der Tradition. Spolien im Chorbereich des Magdeburger Domes“. In: Wolfgang Schenkluhn und Andreas Waschbüsch (Hg.). Der Magdeburger Dom im europäischen Kontext. Regensburg 2011: 187–195.
Choppin, Julien und Nicola Delon (Hg.). Matière grise. Matériaux / réemploi / architecture. Paris 2014.
Gampp, Axel Christoph. „Santa Rosalia in Palestrina. Die Grablege der Barberini und das ästhetische Konzept der ‚Magnificentia‘“. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 29 / 1994: 343–368.
Jäggi, Carola. „Materielle Wanderbewegungen: Spolien aus transkultureller Perspektive“. In: Michael Falser und Monica Juneja (Hg.). Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell. Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis. Bielefeld 2013: 53–67.
Kletke, Daniel. Der Kreuzgang aus St-Guilhem-le-Désert in The Cloisters in New York. Berlin 1994.
Lippert, Hans-Georg. „Die Aura der Geschichte – Zur Konstruktion von Gedächtnis im Stadtraum“. In: Henner von Hesberg, Jürgen Kunow und Thomas Otten (Hg.). Die Konstruktion von Gedächtnis – Zu einer Standortbestimmung von Archäologie in der Stadt. Schriftenreihe des Arbeitskreises Bodendenkmäler der Fritz Thyssen Stiftung Bd. 1, Worms 2016: 65–78.
Meier, Hans-Rudolf. „Rückführungen. Spolien in der zeitgenössischen Architektur“. In: Stefan Altekamp, Carmen Marcks-Jacobs und Peter Seiler (Hg.). Perspektiven der Spolienforschung 1. Spoliierung und Transposition. Berlin und Boston 2013: 333–349.
Meier, Hans-Rudolf. „Verkörpern, Verwandeln und Autorisieren mittels Spolien“. In: Inkarnieren. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 8, Heft 1 / 2017: 177–192.
Silentiarios, Paulus. „Beschreibung der Kirche der Heiligen Weisheit“. In: Procopius Caesariensis. Bauten. Werke Bd. 5, griechisch-deutsch, hg. von Otto Veh. München 1977.
Sturm, Philipp und Peter Cachola Schmal (Hg.): Die immer neue Altstadt. Bauen zwischen Dom und Römer. Berlin 2018.
Venezia, Francesco. „Transfer und Transformation. Die Architektur der Spolien: Eine Kompositionstechnik“. In: Daidalos 16 / 1985: 92–104.
Wharton, Annabel J. „The Tribune Tower: Spolia as Despoliation”. In: Richard Brilliant und Dale Kinney (Hg.). Reuse Value. Spolia and Appropriation in Art and Architecture, from Constantine to Sherrie Levine. Farnham 2011: 179–197.

 

 

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