Populärkultur und Archiv

Social Networking als Archivpraxis

Meike Wagner (München)

 

 

 

 

Zwei Szenarien der Web Science

Im letzten Sommersemester sprang ich kurzfristig bei einem Kollegen ein, um eine Vorlesung zum Thema ‚Mainstreaming Counterculture’ zu vertreten. Kein Problem, hatte ich doch ausreichend Textmaterial in der Schublade, um das Thema angemessen darzustellen. Es sollte um Joseph Beuys gehen und seine leichtfüßige Verquickung von Kunstanspruch, politischem Engagement und Massenkultur. Um Anschaulichkeit bemüht, versuchte ich schnellst möglich an Bildmaterialien zu kommen und scheiterte an Beuys’ berühmtem Protest-Song Sonne statt Reagan. Für eine Aufzeichnung des Fernsehauftritts vom 3. Juli 1982 in der ARD-Sendung Bananas hätte ich einiges an Telefonanrufen und vor allem an Zeit – die ich ja nicht hatte – einsetzen müssen. Mein letzter Rettungsanker war YouTube. Hier fand ich das Video in drei verschiedenen Qualitäten, eine Dokumentation der heutigen Rezeption, die mir die Aktualität von Beuys Werk noch mal eindrücklich vor Augen führte, und ich stieß, quasi nebenbei auf den kleinen Animationsfilm How to explain Pictures to a Dead Rabbit (2006), der sich witzig ironisch auf das Werk von Beuys bezog. Damit hatte ich nicht nur ein Bilddokument in einem unendlich umfassenden Archiv gefunden, sondern gleichzeitig Spuren einer Praxis mit diesem Dokument, die mir ein komplettes Argument für die Diskussion des Zusammenhangs von Mainstream und Counterculture lieferten.

Während ich mich nun euphorisieren ließ von den Archiv-Perspektiven des Web 2.0, wurde ich aufmerksam auf ein Online-Projekt des Münchner Instituts für Kunstgeschichte: ARTigo 2.0 (http://artigo.gwi.uni-muenchen.de). Es handelt sich dabei um ein Tagging-Spiel, bei dem man Bilder aus dem digitalen Archiv – Abbildungen kanonischer Gemälde – mit assoziativen Begriffen in Verbindung bringt. Im Spiel hat man einen unsichtbaren Gegner – wenn die ausgewählten Tags beider Personen übereinstimmen, dann werden sie als Annotation des Bildes gespeichert. Man hat dann sozusagen gemeinsam einen Treffer gelandet. Je mehr Begriffe man also in der gewährten Zeitspanne eingibt, desto höher liegt die Trefferwahrscheinlichkeit. In meinem Beispiel sind in roter Schrift einige Tabubegriffe aufgeführt, auf der rechten Seite erscheinen die von mir geschriebenen Tags. Die blauen Punkte symbolisieren die Begriffe des Gegners, bisher haben wir keine übereintreffenden Begriffe, also 0 Punkte.

 

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ARTigo 2.0, Screenshot M.W.


Höchst irritierend an diesem Spiel ist sein Kontext. Nicht nur, dass ein seriöses Institut für Kunstgeschichte ein solches Spiel, das eindeutig populäre Online-Spielpraxen kopiert, entwickelt und anbietet, nein, es gibt sogar Aussagen der Spiel-Erfinder[1], die Annotationen von Laien seien häufig kreativer und zielführender als die der mit der Erforschung des Bildmaterials befassten Wissenschaftler. Und: ein Bildarchiv ohne umfassende Annotationen sei eine Ansammlung gleichsam ‚toter’ Bilddaten, die nicht beachtet würden. Ziel des Projektes ist es, mithilfe des Online-Spiels ARTigo 2.0 ein umfassendes annotiertes Bildarchiv zu erstellen, und somit die gespeicherten Bilddaten wissenschaftlich sinnvoll verwerten zu können.

Beide Szenen böten reichlich Stoff für Andrew Keens kulturpessimistische Sicht auf die neuen Medien. Keen bezichtigt das Internet und vor allen Dingen die Medienpraxen des Web 2.0, die menschlichen Kulturleistungen und gesicherten Wissensbestände aufzulösen und durch populäres Halbwissen zu ersetzen. Die Schreibpraxis der Wikis etwa ersetze das Wissen professioneller Experten durch permanente amateurhafte Umschreibung. Die menschliche ‚Culture’ werde ersetzt durch den ‚Cult of the Amateur’[2], also die populäre und kulthaft zelebrierte Übernahme der Wissenskultur durch Amateure im Netz.

Man kann nun Keen recht leicht eine bildungsbürgerliche Semantik nachweisen und sein Argument aushebeln. Dennoch bleibt der Konnex von wissenschaftlicher Archivarbeit und populärer Medienpraxis suspekt, und führt zu Irritationen, wie die oben dargestellten Szenen veranschaulichen. Wann immer man auf die Verbindung dieser beiden Bereiche stößt, genügt es nicht, Bildarchive als Container für wissenschaftliche Materialien zu betrachten, man muss die Performance, die Praxis am und im Archiv reflektieren: Welchen Praxiszusammenhang bilden das Populäre und das Archiv? Gibt es überhaupt ein Gemeinsames der beiden, da sie doch auf sich gegenseitig ausschließenden Prämissen beruhen?

 

 

Das Populäre und das Archiv

Das Populäre und das Archiv sind zwei sich gegenseitig aufhebende Gegenstandsbereiche, wenn man ersteres mit den Kennzeichen Allgemeinverständlichkeit und Allgemeinzugänglichkeit bei gleichzeitiger affektiver Verankerung (Williams 1976) verbindet und letzteres in erster Linie als Selektionspraxis und normative Wissensformation versteht (Foucault 1969, Derrida 1995).

Raymond Williams’ Bestimmung des Populären bietet sich geradezu für eine kommunikationstheoretische Weiterentwicklung an. In diesem Sinne lässt sich Allgemeinzugänglichkeit als eine Art Hyperkonnektivität reformulieren: Populäre Kommunikationen verfügen über eine äußerst große Anschlussfähigkeit an ganz unterschiedliche bestehende Kontexte. Das Populäre verbindet sich mit einem Kommunikationsmodus der erhöhten Zitierbarkeit, da populäre Semantiken weniger stark kontextgebunden sind als ‘ernsthafte’ Semantiken. Die These der Allgemeinzugänglichkeit stellt die Idee eines Archivs des Populären vor eine Paradoxie: Kann das Allgemeine als Bewahrenswertes selegiert werden? [Stäheli 2002, 73-83, 73f.]

Stäheli konzediert hier den Cultural Studies ein grundsätzlich normatives Verständnis des Populären, das auf die Politik der Inklusion setzt. Das heißt, es geht hier um die Erweiterung der aufbewahrenswerten Materialien in den Bereich der Populärkultur. Die Konsequenz dieser Erweiterung der archivalen Politik der Inklusion führte jedoch zur entropischen Überlagerung des Populären selbst:

Würde man das allgemein Verständliche archivieren, dann verdoppelte sich nur das, was überall sowieso schon vorhanden ist. Das Archiv würde zum Double des Allgemeinen. Die Tiefe und das Dunkel des Archivs würden der offenen Oberfläche weichen. Wichtiger noch, ein Archiv-Effekt würde das unnötig Archivierte ‘entpopularisieren’: Das Populäre, das ehemals allgemein Zugängliche müsste sich einer spezifischen archivarischen Ordnung, einem Archiv-System, fügen. Die Archivtechnik würde der zuvor hyperkonnektiven Kommunikation ihre Ordnung auferlegen und damit eine große Zahl von Anschlussmöglichkeiten ausschließen. Das Populäre hätte zwar seinen Verwahrungsort gefunden – und damit auch gleichzeitig seine konstitutive Ortlosigkeit aufgegeben. [Stäheli 2002: 75]

Stäheli belässt es dabei und löst dieses Paradox nicht auf, er erweitert das Problem nur auf den Bereich der filmischen und populären Kulturtechnik des Spezialeffektes und lässt uns ratlos zurück in ausufernden Metaphernschleifen.

In der jüngsten Vergangenheit nun werden wir mit fluktuierenden Archivstrukturen konfrontiert, die sich via Internet und Netzwerk-Konfigurationen als dynamisch veränderbares Bilderkonvolut und als selbstreflexive Medienpraxis präsentieren. Inwiefern nun können diese Internet-Archive klassische Aufgaben des Archivs erfüllen und welche Möglichkeiten und Probleme halten sie bereit?

Die Archivwissenschaft ist herausgefordert durch digitale Technologien. So macht Winfried Schulze im Jahre 2000 eine Neubestimmung der archivarischen ‚Ordnung des Bewahrens’ angesichts einer pluralistischen und zunehmend medial operierenden Wissensgesellschaft zu einem Desiderat:

Diese Ordnung muss so angelegt sein, dass sie

1)  den archivarischen Grunderfordernissen von Evidenz,
Verantwortlichkeit und Erinnerung gerecht wird,

2)  die Totalität gesellschaftlicher Realität widerspiegelt und

3)  bemüht ist, die Möglichkeiten digitaler Speicherung und Zugriffe auf
solche Bestände bewusst und zukunftsorientiert einzuplanen.
Hier liegt wohl die entscheidende Herausforderung der nächsten Dekade.
[Schulze 2000: 15-35, 34]

Zurecht formuliert Schulze dies zu einem Zeitpunkt, da die digitalen Speichermedien hinlänglich geeignet scheinen, Papier- und Zettelordnungen des Archivs zu ersetzen. Doch wie sehen diese Kriterien einer ‚Ordnung des Bewahrens’ im Denkhorizont des Web 2.0 aus?

Evidenz, Verantwortlichkeit und Erinnerung sind deutlich subjektbezogene Kriterien, die mit ethischen Werten und einer individuellen Vorstellung von Wissenskultur einhergehen. Hier geht es um die oben benannte Politik der Inklusion, die vertreten wird von Archivaren und deren Bezugssystemen. Das politische Problem der inkludierenden Macht verlagert sich im Web-Archiv auf die Politik der Aufmerksamkeit. Wenn wir wiederum YouTube als paradigmatisches Beispiel betrachten, dann kann dort grundsätzlich Jeder neue Dokumente einfügen. Problematisch in dieser Hinsicht ist das technische Paradigma: es lassen sich grundsätzlich nur digital darstellbare Dokumente integrieren, die den jeweiligen Standards der Web-Plattformen entsprechen müssen. Aber die formale Selektion der Quellen ist auch den klassischen Archiven nicht fremd, so finden sich etwa nur schriftliche Quellen zu Duft und Temperatur von historischen Ereignissen...

Brisant sind allerdings die Strategien der Aufmerksamkeits-Ökonomie, die sich verschiedener Instrumente bedienen – von der Rangfolge der ‚Views’, den Bewertungen, den editorischen Instrumenten der ‚Teaser’-Leisten („Videos watched right now“, „Video of the Month“ etc., bis zu ‚Tagging’ und ‚Viral Marketing’.[3] Letzteres erweist sich als mindestens so machtvolles Instrument wie die Selektionspraxis des Archivs.[4] Es handelt sich hier um die planvolle Streuung von Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Video der Plattform durch Email-Listen und eine gezielte Beeinflussung der Kommentare zu einem Video, damit es in die Kategorie der „Most Viewed Videos“ kommt, dem Olymp der maximalen Aufmerksamkeit. Diese Praxis ist natürlich bereits von großen Konzernen als Werbestrategie entdeckt worden und wird gewinnbringend genutzt. Dan Ackerman Greenberg legte mit seinem Text „The Secret Strategies Behind Many ‚Viral’ Videos“ im November 2007 seine umfassende Kenntnis der Kommunikationsstrukturen von YouTube offen und die totale Instrumentalisierung dieser Strukturen für die Promotion eines Produktes. [Greenberg 2007] Hier wird schonungslos aufgedeckt, was man schon immer zu wissen glaubte: populäre Medienphänomene sind verbunden mit Manipulation und Volksverdummung. Doch wesentlich interessanter ist die Frage, ob ein Web-Archiv in der Lage wäre, solche kapitalistischen Machtinteressen zu unterlaufen und auf welche Weise sich die ‚Performanz’ des sozialen Netzwerkes davon regenerieren könnte.

Dies führt zum zweiten Punkt der ‚Ordnung des Bewahrens’, dem Gebot „die Totalität gesellschaftlicher Realität widerzuspiegeln“. Die Medienpraxis von YouTube und Social Networking Sites im Web 2.0 ist sicherlich derzeit ein wichtiger Teil unserer gesellschaftlichen Realität. Aber wie ließe sich dies in einem klassischen Archiv abbilden? Es ist möglich, mit bestimmten Programmen, Videos von YouTube herunter zu laden und als Movie-Dateien zu speichern.[5] So kann man diese Daten in die Speicher-Logik des Archivs überführen. Aber damit hat man nur einen kleinen Ausschnitt der YouTube-Realität greifbar gemacht. Wie könnte man von singulären mov-Dateien eine Rekonstruktion des YouTube-Zeitalters wagen? Heißt das, ein Archiv, das die medialen Praxen der Gegenwart archivieren möchte, müsste im Prinzip deren Strukturen annehmen. Archivarische Praxis würde dann nicht nur zu einem Spiegel gesellschaftlicher Realität, sondern zur Performanz einer Selbstbeobachtung dieser Realität. Wenn wir nochmals zurück gehen zum Problem des ‚Viral Marketings’, dann können wir konstatieren, dass es sich hier um einen Teil gesellschaftlicher Interessen handelt, die nicht nur über die Web-Struktur vorangetrieben werden, sondern auch dadurch im Web-Archiv beobachtbar werden.

Der dritte Punkt, die Kontrolle über die Speicherung von digitalen Quellen und den Zugriff darauf favorisiert geradezu die Form des Web-Archivs. Martin Warnke hält uns jedoch eindringlich vor Augen, inwieweit gerade das digitale Archiv dem Verschwinden und Vergessen unterworfen ist. Das unkontrollierte Entstehen und Löschen von Websites machen das Internet zu einem Fass ohne Boden – eine denkbar ungünstige Voraussetzung für die Archivierung. Darüber hinaus ist das Problem des data rot nicht zu greifen: Die Entwicklung von Speichermedien und Formaten überschlägt sich und macht gespeicherte Files schnell zu unzugänglichem Datenmüll. Warnke kommt zu dem deprimierenden Fazit:

Nur Macht und Geld können [die digitalen Archive-M.W.] vor dem Verfall retten, die so viel anfälliger sind als ihre analogen Vorläufer. Und wer die überkommenen Dokumente so unter seiner Ägide hat, kann sie nach Belieben einsetzen, interpretieren, vorenthalten. Sehr real vernichtet der technische Fortschritt, der unabdingbar ist, um immer mehr Dokumente in digitale Archive einstellen zu können, das Archiv selbst: Digitale Archive sind Schauplätze eines Mal d’Archive, eines digitalen Archiv-Übels. [Warnke 2002: 269-281, 277]

Dem Verfall der Daten, der negativen Information, kann nur durch eine lebendige Archiv-Praxis entgegen gewirkt werden.

Archive, digitale zumal, überdauern nur, wenn sie ständig benutzt werden, wenn eine erhaltende Instanz sie stets neu kodifiziert, interpretiert und bewertet, sich ihre Dokumente handelnd aneignet, sie herausgibt oder verheimlicht, damit Wissen ermöglicht und strukturiert, Handlungen provoziert oder zu unterdrücken trachtet. [Warnke 2002: 280]

Diese Archiv-Praxis muss in unserem Zusammenhang weitergedacht werden, nicht nur als Pflege der Zugänglichkeit von Dokumenten, sondern als eine Praxis, die hineinreicht in die Praxen der gesellschaftlichen Realität, also der Medienrealität des Web 2.0.

Zusammenfassend kann man sagen, dass uns mit Social Networking Sites ein Modell möglicher Web-Archive zur Verfügung steht, das über die von Schulze benannte Neubestimmung einer ‚Ordnung des Bewahrens’ hinausreicht und einer besonderen Reflexion der Praxis im und am Archiv bedarf.

 

 

Praxis und Archiv

Der Zusammenhang von Archiv und Praxis ist bereits vielfach im Sinne von Machtdispositiven (im Bezug auf Foucault) und Wissensformationen (im Bezug auf de Certeau) beschrieben worden. Von Diana Taylor und Hartmut Winkler werden Aspekte eingeführt, die für unseren Themenzusammenhang interessant sind: Während man mit Diana Taylor eine Gegenüberstellung von materiellem Archiv und performativer Körper-Praxis ausdifferenziert sieht, versucht Hartmut Winkler die Zusammenführung beider auf der Ebene des Diskurses und der kulturellen Praxis der Medien. Winkler geht es um die Kontinuierung von Diskursen, die er in einem zyklischen Modell von Monumentalität und Wiederholung darzustellen sucht. Das Monument entspringt einem subjektiven Akt der Niederlegung, die wiederum auf die kulturellen Praxen zurück wirkt. Während nun das Monument eine Stabilisierung oder Hemmung bewirkt, so bewirkt die Praxis der Wiederholung – verstanden als Identität und Differenz – eine Verschiebung und neuerliche Niederlegung. Daraus ergibt sich die paradoxe Verschränkung von Monument und Diskurs:

Monumente können Wiederholung ersetzen, weil sie selbst gesellschaftliche Maschinen zur Initiierung von Wiederholung sind. Diskurse erreichen ihre Kontinuierung, indem sie Instanzen der Beharrung schaffen, die neben den Diskursen (und in Spannung zu ihnen) persistieren. [Winkler 2002: 297-315, 309]

Winkler setzt damit das Monument, das er in einem erweiterten Sinne auch als archivarisches Schriftdokument oder als historischen Bau betrachtet, in eine Wechselwirkung zur diskursiven Praxis. Diana Taylor versteht Praxis in erster Linie als Körper-Praxis und operiert in ihrer Gegenüberstellung von materiellem Archiv und performativer Körper-Praxis mit den Begriffen ‚archive’ und ‚repertoire’:

The rift, I submit, does not lie between the written and spoken word, but between the archive of supposedly enduring materials (i.e., texts, documents, buildings, bones) and the so-called ephemeral repertoire of embodied practice/knowledge (i.e., spoken language, dance, sports, ritual). [Taylor 2003: 19]

Während das ‚archive’ mit landläufigen Vorstellungen des Archivs übereinstimmt, spezifiziert sie das ‚repertoire’ als „ephemeral, nonreproducible knowledge“, das auf einer Präsenz-Situation beruhe:

The repertoire requires presence: people participate in the production and reproduction of knowledge by ‚being there,’ being a part of the transmission. As opposed to the supposedly stable objects in the archive, the actions that are the repertoire do not remain the same. The repertoire both keeps and transforms choreographies of meaning. [Taylor 2003: 20]

Damit hat sie performative Formen der Transmission benannt, die ebenso wie das Archiv Prozessen von Selektion, Memorisierung, Internalisierung und Repräsentation unterworfen sind.

The archive and the repertoire have always been important sources of information, both exceeding the limitations of the other, in literate and semi-literate societies. They usually work in tandem and they work alongside other systems of transmission – the digital and the visual, to name only two. [Taylor 2003: 21]

Was Taylor hier fast beiläufig in Verbindung setzt, nämlich das Archiv, das Repertoire und das Digitale sowie das Visuelle, lässt sich als zentraler Fokus in eine neue Bedeutung führen. Wenn man das Archiv und das Repertoire im Sinne Taylors nicht nur auf konkrete kulturelle Formen bezieht, so wie Taylor das in ihren Beispielen tut, sondern im Sinne von produktiven Aspekten einer Wissens-Transmission liest, dann lassen sich diese Bereiche eng verschränken. Ich möchte in diesem Beitrag so weit gehen zu behaupten, dass in digitalen Strukturen des Wissens-Transfers sowohl das Archiv als auch das Repertoire als Funktionen von ‚Wissens-Handeln’ zusammengeführt werden. Und genau in diesem Zusammenführen liegt die Spezifik digitaler Archiv-Formen. Für ihre Analyse der Opposition von Schriftkultur und Performance-Kultur als Transmissionen europäischer und mittelamerikanischer Identitäten führt Taylor den Begriff des Szenarios ein, um beide Transmissions-Praktiken – das Archiv und das Repertoire – integrieren zu können: „[S]cenario as a paradigm for understanding social structures and behaviors might allow us to draw from the repertoire as well as the archive.“[Taylor 2003: 29] Und an anderer Stelle: „[T]he notion of the scenario allows us to more fully recognize the many ways in which the archive and the repertoire work to constitute and transmit social knowledge.“[Taylor 2003: 33] Ein Szenario in diesem Sinne könnte für unseren Zusammenhang als Medienpraxis übersetzt werden. Eine Medienpraxis analysieren hieße dann, die Prozesse der Wissensvermittlung zwischen der Archivierung von Objekten und der Performanz der Tradierung als Körper-Praxis zu beobachten und zu beschreiben.

Von Winkler und Taylor ausgehend – die sich beide mit der kulturellen Kontinuierung und Tradition befassen und deren Prozesse als Praxis beschreiben – stellt sich nun jedoch die Frage, ob diese Archiv-Praxis in einer Archivstruktur darstellbar ist und inwieweit sie sich in den medialen Prozessen des Web 2.0 finden lässt.

 

 

Zurück zum Populären: Web-Archive

Warum kann man YouTube als Archiv des Populären betrachten, wenn doch, wie Stäheli konstatiert, das Archiv und das Populäre in einem paradoxen Verhältnis zueinander stehen – das Archiv das Populäre still stellt und in der Dokumentarisierung aufhebt, oder aber das Populäre das Archiv sprengt. Es funktioniert genau dann, wenn man die Perspektive der Archiv-Praxis einnimmt: Die Populärkultur wird in Social Networking Sites nicht in statuarischen Ordnungssystemen tot gestellt, sondern die Selektions- und Ordnungsprozesse werden dort performativ offen gehalten und eben genau als populäre Archiv-Praxis dargestellt. Hier verschränkt sich das Bild eines ‚Archiv-Dunkels’ und einer offenen Oberfläche des Populären zu einem hybriden Konzept. Paradigmatisch hierfür steht YouTube, mediales Phänomen, hyperkonnektives Spielfeld, das als Bildarchiv bestimmte populäre Medienpraxen anbietet. Hier, so scheint es, fallen monumentale und performative Archiv-Praxis in eins und schaffen so das Modell eines populären Archivs.

Das populäre Archiv verbindet die Eigenschaften des Populären – Allgemeinverständlichkeit und Allgemeinzugänglichkeit – mit den Ordnungssystemen des Archivs sowie seiner Aufgabe einer kulturellen Kontinuation. Sowohl ARTigo 2.0 als auch YouTube ersetzen zum Teil individuelle Handlungsmacht durch kollektive Handlungsmacht im Archiv. Während bei beiden die redaktionelle Struktur und Eingriffsmöglichkeit immer noch im Hintergrund wirkt, gibt es doch einen großen und wichtigen Bereich, in dem das kollektive Handeln in Erscheinung tritt.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel der Beuys-Hommage How to Explain Pictures to a Dead Rabbit (2006). Das Filmchen zeigt eine Barbie-Puppe und verschiedene kleine Objekte in einem Karton. Im Hintergrund sehen wir eines der ikonischen Fotos von Yves Klein’s Anthropometrien. Zunächst kopiert die Barbie-Puppe die Pose des Klein-Modells, dann nimmt sie ‚Bugs Bunny’ auf den Arm, transformiert in eine weißhaarige Figur mit einer braunen Weste. Verschiedene kleine Objekte, eine kleine Tasche, Knetklumpen, Schnüre fliegen durch den Karton. Schließlich geht die Weißkopf-Barbie mit dem Häschen im Arm ab. Man könnte nun verschiedene Details des Animationsfilms als Verweise auf das Werk Joseph Beuys’ deuten, an dieser Stelle soll es allerdings um den Aspekt des Archivs gehen. Deutlich wird hier die Zusammenführung der kunstgeschichtlichen Dimension und des historischen Bild-Archivs. Man erkennt die Übernahme bekannter Kunst-Ikonen und deren Ironisierung, Brechung im populären Genre des Animationsfilms und seinen Akteuren aus der Spielzeugindustrie und der Massenware Cartoon.

 

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How to explain Pictures to a Dead Rabbit (2006), Screenshot M.W.

 

Der Bild(ungs)kanon der Kunstgeschichte wird zur Disposition gestellt und reflektiert. So antwortet der Filmautor msaz58 auf die Frage nach dem ‚Goldkopf’ der ursprünglichen Beuys-Aktion – Beuys hatte in seiner Kunstaktion Dem toten Hasen die Bilder erklären (1965) seinen Kopf mit Blattgold überzogen – mit einem Bekenntnis zu seiner eigenen persönlichen Bild(ungs)geschichte:

(one head is white instead of gold, and) most ot the times I remember the black and white photo of my artbook, so is actually my Beuys, in my memory[6]

Von diesem Film ausgehend kann man auch zu den anderen 7 Videos von msaz58 gelangen, darunter auch eine Hommage an Samuel Beckett, an Georges Bataille, an Richard Serra. Das kunsthistorische Panoptikum wird noch erweitert durch eine „Video Response“ zu How to Explain…: von maxbeckmann höchst persönlich. Hier nun kommt das Kollektiv ins Spiel. Neben Kommentaren und Video Responses sind es natürlich die Ratings und Views, die einen Spiegel der kollektiven Handlungsmacht darstellen. Mit 1210 Views bis Anfang September 2008 ist How to Explain… nicht wirklich als ‚viral’ zu bezeichnen, doch die 4 von 5 vergebenen Sterne bei der Bewertung signalisieren ein kleines aber hochzufriedenes Publikum. All diese Werte und Parameter, die ich hier verschriftlicht habe, sind zum Zeitpunkt der Rezeption meines Textes schon wieder obsolet geworden. Das Video-Dokument How to Explain… verhält sich schon wieder anders zu den Usern, neue Kommentare, haben neue Seiten hervorgehoben, die Ratings gingen rauf oder runter und der Filmautor hat eventuell die Tags (gerade noch „performance“, „Beuys“, „rabbit“, „stopmotion“) verändert und eine völlig neue User-Gruppe erreicht. Vielleicht ist ihm sogar der virale Durchbruch gelungen und das Video schießt in den Erfolgskanon der YouTube-Geschichte.

Bei soviel performativer Offenheit stellt sich dem Archivar natürlich die wichtige Frage des gesicherten Bestandes, wenn sich die Inhalte ständig verändern, weiterentwickeln und auch die Praxis Änderungen unterworfen ist. Müsste man nicht eine zweite Ordnung schaffen, die bestimmte Momente in der Struktur des Web 2.0 einfriert, dokumentiert und als Status quo einer zeitlichen Stillstellung festhält? Quasi als ‚Funksignal’ aus dem populären Archiv? Damit würde man aber das Web-Archiv wiederum in die Ordnung des klassischen Archivs zu überführen suchen. Es gibt keine Antworten auf diese Fragen, aber vielleicht kann man an dieser Stelle mit Hartmut Winkler auf der Kultur stiftenden Rolle des Vergessens beharren, als ‚Vergessen hinein in die Struktur’, als Verdichtung im subjektiven Horizont vergleichbar Freuds Traumkonzept. [Vgl. Winkler 2002: 308]

 

 

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1 So Hubertus Kohle bei einem Forschungstreffen zur Integration von Social Software in den wissenschaftlichen Methodenkanon an der LMU.

2 So auch der Buchtitel: Andrew Keen: The Cult of the Amateur. New York u.a.: Doubleday, 2007.

3 Ich verdanke den Hinweis auf ‚Viral Marketing’ Teresa Hörl. Vgl. hierzu auch den Artikel Christian Kortmann: „Die gekaufte Weisheit der Vielen. Virales Marketing auf YouTube.“ In: SZonline, 19.06.2008.

4 Man muss sich vor Augen halten, dass nur 5% aller angebotenen Materialien von Archiven in den Bestand aufgenommen werden. Siehe Schulze 2000: 22.

5 So etwa mit Videobox oder Save2pc, welche YouTube-Files in mov-Dateien konvertieren können.

6 Siehe www.youtube.com/watch?v=tnj_1AwTh1w (letzter Zugang, 10.09.2008).

 

Literatur

Derrida, Jacques: Mal d’archive. Une impression Freudienne. Paris 1995.
Foucault, Michel: L’archéologie du savoir. Paris 1969.
Greenberg, Dan Ackerman: „The Secret Strategies Behind Many ‚Viral’ Videos.“ In: http://www.techcrunch.com/2007/11/22/the-secret-strategies-behind-many-viral-videos, 22.11.2007. (Letzter Zugang: 23.7.2008)
Keen, Andrew: The Cult of the Amateur. New York u.a.: Doubleday, 2007.
Pompe, Hedwig u. Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002.
Schulze, Winfried: „Wieviel Überlieferung braucht die Geschichte? Überlegungen zur Ordnung des Bewahrens.“ In: Digitale Archive – Ein neues Paradigma? (= Beiträge des 4. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums). Hg. von Andreas Metzing. Marburg 2000.
Stäheli, Urs: „Die Wiederholbarkeit des Populären. Archivierung und das Populäre.“ In: Pompe, Scholz 2002.
Taylor, Diana: The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas. Durham and London 2003.
Warnke, Martin: „Digitale Archive.“ In: Pompe, Scholz 2002: 269-281.
Winkler, Hartmut: „Das Modell. Diskurse, Aufschreibsysteme, Technik, Monumente – Entwurf für eine Theorie kultureller Kontinuierung.“ In: Pompe, Scholz 2002, 297-315.