Die Enzyklopädie der Performancekunst

Florian Feigl & Otmar Wagner (Berlin/Wien)

 

wfhorizon Foto: Christopher Hewitt

Foto: Christopher Hewitt


Die Enzyklopädie der Performancekunst ist keine weitere Geschichte der Performancekunst. Der empirische und strikt materialistische Zugang zielt darauf ab, einen kompletten und systematischen Überblick zu geben über Materialien und ihren Gebrauch in der Performancekunst sowie Handlungen und ihre spezifischen Qualitäten in der Performancekunst.
Der analytische Zugang auf 'molekularer' Ebene – die genaue Untersuchung jedes einzelnen Materials/jeder einzelnen Handlung in ihren aller kleinsten Bestandteilen – wird überführt in die systematisch organisierten Kataloge. Diese legen die Beziehungen jedes einzelnen Elements zu allen anderen aufgeführten Elementen in den Katalogen offen.
Neben dieser kompletten Auflistung und dem dadurch erschlossenen Überblick zu Materialien und Handlungen verfolgt die Enzyklopädie der Performancekunst die Erstellung einer (drei-dimensionalen) 'Karte', die tieferes Verständnis ermöglicht gegenüber der (immer schon gegebenen!) komplexen Beschaffenheit jedes einzelnen Materials und jeder einzelnen Handlung aus dem Bereich der Performancekunst.

Zu Beginn unserer Überlegungen, wie ein systematischer Überblick der in der Performancekunst verwendeten Materialien organisiert sein könnte, boten sich eine Vielzahl von Möglichkeiten an. Die verschiedenen Materialien könnten in alphabetischer Reihenfolge genannt werden, entsprechend ihrer Aggregatzustände oder beispielsweise nach Farben geordnet, u. v. a. m. Als Performancekünstler haben wir uns in Anlehnung an unsere künstlerische Auseinandersetzung für ein möglichst praktisches Vorgehen entschieden. Wir führen Fallstudien durch, in Monographien zu einzelnen Materialien fassen wir Ergebnisse zusammen, schreiben Essays über weiterführende Zusammenhänge zwischen verschiedenen Materialien. Das Vorgehen bei unseren Recherchen – wie beschrieben aus der Praxis als Performancekünstler – führt dazu, dass wir für den geplanten systematischen Überblick Teile sehr unterschiedlicher Ordnungssysteme verwenden und miteinander kreuzen. Weiter zeichnet sich ab, dass in der Beschäftigung mit einer hybriden und grenzüberschreitenden Kunstform wie der Performancekunst die Erfassung der verwendeten Materialien unter Umständen die Vereinigung unterschiedlicher Ordnungssysteme erfordern wird. Die Erkenntnis, dass die Tomate aus der Perspektive der Botanik der Aubergine oder Kartoffel wesentlich näher steht als dem Pfirsich, ist sicher nicht zu vernachlässigen. Trotzdem ist für die Enzyklopädie der Performancekunst die Analogie zwischen Tomate und Pfirsich hinsichtlich ihrer Physis, Quetschbarkeit und vor allem ihrer möglichen Verwendung in einer Performance mindestens ebenso wichtig. Die Querverweise zwischen vorhandenen und denkbaren Möglichkeiten systematischer Organisation nehmen parallel dem fortschreitenden Prozess der Untersuchungen zu. Als viel versprechenden und nachvollziehbarsten Weg, um die bislang erzielten Ergebnisse unserer Recherchen zu beschreiben, entschieden wir uns für eine möglichst allgemeine Beschreibung, die die Regeln unterschiedlicher Gebiete wissenschaftlicher Forschung aufnimmt - ergänzt durch Regeln eines so genannten allgemeinen Verständnisses. (Wobei "allgemeines Verständnis" ein problematischer Begriff ist, weil es beispielsweise regional durchaus Unterschiede aufweist. Wenn wir z.B. Grashüpfer als Material der Performancekunst erfassen möchten, stehen wir vor der Frage, ob wir sie als Insekt oder Nahrungsmittel behandeln sollen.)
Für die folgende Erläuterung der systematischen Organisation der Materialien der Performancekunst, wie sie von der Wagner-Feigl-Forschung entwickelt wurde, wählen wir als Beispiel die Tomate.

 

Foto: Martin Rindlisbacher

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Systematik

 

Systematische Organisation

Diese Art der Darstellung eines bestimmten Materials wie es in der Performancekunst Verwendung findet, hat mehrere Vorteile. Auf den ersten Blick wird deutlich wie jedes einzelne denkbare Material immer schon Teil weit reichender Zusammenhänge innerhalb der Welt der Materialien ist und dabei ebenso weit reichenden Prozessen der Differenzierung verhaftet ist. Anhand dieser speziellen Darstellung lassen sich direkt die spezifischen Qualitäten (es ist eine Tomate und keine Orange) ebenso wie die je speziellen Dynamiken eines bestimmten Materials identifizieren (im Gegensatz zum Stein oder Schallplattenspieler kann die Tomate zerquetscht und so z.B. Tomatensaft hergestellt werden). Gleichzeitig schließt diese Art der Darstellung und Organisation keineswegs den anderen wesentlichen Teil einer wirklichen Enzyklopädie aus: den alphabetischen Index. Im Gegenteil. Wie durch die Darstellung verdeutlicht, ist jede Ebene der vorgeschlagenen Differenzierung durch einen anderen Buchstaben, ein Zeichen oder ein Zahl gekennzeichnet. Die Tomate kann also als das Material beschrieben werden mit der Chiffre: א α IX. §2 Abs.1 F. k. Nr.5. (1.-4.) (Die abschließenden Zahlen in Klammern zeigen dabei an, wie viele unterschiedliche Arten von Tomaten aufgeführt sind. Um z.B. die Fleischtomate zu beschreiben, die in einer bestimmten Performance Verwendung findet, würde man am Ende der Chiffre direkt eine arabische drei aufführen.) Da wie beschrieben jeder Buchstabe, jedes Zeichen und jede Zahl für einen weiteren Schritt der Differenzierung steht, wird also auch beim Blick in den alphabetischen Index deutlich, was mit der systematischen Darstellung angestrebt ist: Die Aufmerksamkeit wird unmittelbar auf die komplexen Prozesse und Dynamiken gelenkt, die jedem Material der Performancekunst inne wohnen und eignen. Über den offensichtlich Zweck hinaus, ein bestimmtes Material im Index nachzuschlagen, um die Position innerhalb der systematischen Darstellung zu bestimmen, eröffnet die von der Wagner-Feigl-Forschung entwickelte Chiffrierung dem geübten Nutzer der Enzyklopädie der Performancekunst sofort einen schnellen Überblick zu verwandten, bezüglich der jeweiligen Charakteristik nahe stehenden, Materialien, die in Performances verwendet werden.

 

 

Alphabetischer Index Material (Schema)

 

Alphabetischer Index

In den Bänden, die die alphabetischen Indizes enthalten, weisen verschiedene graphische Darstellungen wie Fettdruck (Verweis auf die Position des nachgeschlagenen Materials in der systematischen Darstellung) oder Normaldruck (Verweis auf andere Materialien, die wesentliche Charakteristika des nachgeschlagenen aufweisen) durch die beschriebene Chiffrierung auf Materialien hin, die mit dem Nachgeschlagenen spezifische Merkmale teilen - in der systematischen Darstellung aber nicht unbedingt nahe stehen. Nehmen wir z. B. die Chiffre: ב λ XI. §4 Abs.17 C. e. Nr.5.1.9) - den tomatenförmigen Kurzzeitmesser (oder Eieruhr). Bereits durch den ersten Buchstaben ב - die grundlegendste Ebene der Unterscheidung - erfährt man, dass es sich um ein wesentlich von der ursprünglich nachgeschlagenen Tomate unterschiedenes Material handeln muss - nicht einmal natürlichen Ursprungs, aber mit tomatenhaften Aspekten! Wenn anders herum der tomatenförmige Kurzzeitmesser nachgeschlagen wird, führt der alphabetische Index den Interessierten zur allgemeineren Gruppe der Kurzzeitmesser, die in Performances verwendet werden. An dieser Stelle würde die gleiche Chiffre im Fettdruck erscheinen (und nicht im Normaldruck wie unter "Tomate"!), da hier bezüglich des wesentlich beschriebenen Charakteristikums - Kurzzeitmesser - der tomatenförmige Kurzzeitmesser Träger eben dieses Merkmals ist.

Schließlich eröffnet der alphabetische Index noch eine weitere Verweis-Ebene, die die Kontextualisierung, wie sie durch das Verhältnis von Tomate und tomatenförmigen Kurzzeitmesser angedeutete wurde, einen wesentlichen Schritt weiter treibt. Die im Kursivdruck gesetzten Chiffren verweisen auf die Positionierung eines Bildes, das mit dem nachgeschlagenen Material in Verbindung steht. (Mit den Bänden "Expansion" ist der Dokumentation in Bild (Foto und Video), Ton und Text im Rahmen der Enzyklopädie der Performancekunst an anderer Stelle ein wesentlicher Bereich gewidmet.) Die alphabetischen Indizes, die die systematische Darstellung vervollständigen, enthalten also Bildverweise - hier um das Dokumentationsphoto der Performance Nekropolis II (New York, 1962) von Claes Oldenburg. Die in unserem Fallbeispiel verwendete Chiffre (ב λ XVIII. §3 Abs. 5 B. Nr. 4.1) steht für die Aluminiumfolie. Warum finden wir, wenn wir "Tomate" nachschlagen, einen Hinweis auf Aluminiumfolie und mit welcher Absicht? Die Grundsituation der Performance von Oldenburg war ein gemeinsames Essen von drei so genannten "Verwandten" in einem Restaurant. Die Performer, deren Gesichter weiß geschminkt waren, redeten während des Menüs mit mehreren Gängen in unterschiedlichen Sprachen durcheinander. Ein Violonist spielte ab und zu eine nostalgische Melodie; ein "Monster" stolperte herein, legte sich schlafen und wurde von dem "Restaurantbesitzer" hinausgeworfen; eine nackte "Braut" wurde hereingetragen, aufgebahrt und wieder weggetragen. Die nachfolgenden Aktionen fanden in extremer Verlangsamung statt: Die Performer setzten sich Masken aus Aluminiumfolie auf und links im Bild sieht man den Pop-Maler, Poeten und Performer Öyvind Fahlström - der eine riesige Karte des Universums entfaltete. Im Moment des totalen Bewegungsstillstands traten zwei boxende "Bären" auf, die das gesamte Interieur zerschlugen und die anderen Performer verprügelten. Das Ganze endete in Chaos und Zerstörung. Durch den Bildverweis im alphabetischen Index wird die Dimension der Kontextualisierung deutlich, die mit der Enzyklopädie geschaffen wird. Aus dem Skript der Oldenburg-Performance wissen wir, dass der Hauptgang des Menüs Rinderzunge mit Tomaten-Kapern-Sauce war. Über die genaue Beschreibung der einzelnen Materialien hinaus stellt die Enzyklopädie der Performancekunst die Verbindung zu allen anderen Materialien her, mit denen ein spezifisches Material in einer Performance steht. Durch die Verwendung von Tomaten in der Oldenburg-Performance also steht die Tomate schon immer im Kontext mit Gläsern, Tischtuch, Weinflasche, Kerze, Bärenmaske... und der Aluminiumfolie.

 

Bände1

Bände2

 

Bandaufteilung

Durch die Enzyklopädie der Performancekunst wird deutlich, dass jedes Material der Performancekunst selbst schon immer in hohem Maß vermittelt ist (siehe systematische Organisation) und zusätzlich meist in einer explodierenden Zahl von Beziehungen zu anderen Materialien steht. Es wird deutlich, dass die naive Verwendung eines Materials den spezifischen Qualitäten und Charakteristika nicht gerecht werden kann.
Die Wagner-Feigl-Forschung fordert mit der Enzyklopädie ein Denken in Zusammenhängen, das die einfache Koordinierung und Hierarchisierung von Differenzen unterläuft. Vorgänge, die letztlich der ökonomischen, politischen, ideologischen Kontrolle der Performancekunst dienen. Vorgänge, die jede Performance letztlich zu einem leblosen Event verkrüppeln und jedes mögliche Konfliktpotential, wie es jedem einzelnen Material und jeder einzelnen Handlung der Performancekunst innewohnt, ausschließen. Die Enzyklopädie ist somit neben ihren Beiträgen für den Gebrauch von Praktikern und Analytikern auch zu verstehen als der Versuch, der Performancekunst ihre Sprache zurückzugeben.

 

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Fotos: Martin Rindlisbacher

Aufgenommen bei einer Präsentation im Rahmen des Festivals BONE 11 in Bern.

 

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