Dokumente zwischen Aktion und Betrachter

Barbara Clausen (Wien)

 

 

 

Adrian Piper, "This is not the Documentation of a Performance", 1976, Newspaper Image, Photo by George Cohen, NYC squatters and supporters demonstrate Jan.30 outside St. John the Devine Church


Als ich Adrian Pipers Collage This is not the Documentation of a Performance aus dem Jahr 1976 zum ersten Mal sah, wurde mir klar, in welchem Ausmaß die Dokumentation und Medialisierung von Performances deren grundlegenden Authentizitätsanspruch bestimmt. Jede Fotografie, jedes Video und jeder Film, der sich über die Jahrzehnte erhalten hat, ist nicht nur historisches Dokument, sondern auch Darstellung, Inszenierung, Bildobjekt und Spur sowohl der Aktion als auch der Epoche. Pipers Reproduktion der grobkörnigen, schwarz-weißen Pressefotografie ist mit der Überschrift “Squatters fight eviction by church” versehen und zeigt eine Gruppe von Menschen unterschiedlichen Alters, die als ’Menschenkette’ vor den neogotischen Torbögen der St. John the Devine-Kathedrale in der Upper West Side in New York gegen die Evakuierung aus ihren Wohnungen demonstrieren. Die Komposition der Pressefotografie setzt auf Emotionen. Am linken und rechten Bildrand stehen eine ältere und eine jüngere Frau, dazwischen ein junger Mann und zwei Kinder, die direkt in die Kamera blicken. Der Text auf dem Plakat rechts außen wurde durch den Satz “This is not a Performance” ausgetauscht. Es ist ein scheinbar minimaler Eingriff, der nicht weiter in das ursprüngliche, von der Zeitung bestimmte Bild-Text-Verhältnis eingreift. Der Duktus des Schriftzuges ist den anderen gleich, doch der Satz ist für BetrachterInnen im Kulturkontext bestimmt und seine Adaption im Titel der Arbeit, "This is not the Documentation of a Performance", ist für den medialen Status des Bildes als Index der Aktion bezeichnend. Auf institutionskritischer Ebene klagt Piper hier nicht nur den Immobilienmarkt, die Stadtpolitik und die Kirche an, sondern auch die Erwartungen und Vorurteile der BetrachterInnen, die am nächsten Tag, ein paar Monate oder gar Jahrzehnte später, die vor ihnen liegende Collage ausschließlich als Kunstwerk betrachten und sich vom politischen Gehalt des Materials freisprechen.

Wie kaum ein anderes Genre steht die Performancekunst für ein auf den ersten Blick befreites Auflehnen gegen die Tradition der Macht- und Geschlechterverhältnisse sowohl in der Kunst als auch der Gesellschaft. Diese vermeintliche Balance zwischen Alltag und Kunst wird zum Ausdruck und zur Metapher eines politischen und emanzipatorischen Begehrens, das sich in einem ständig permutierenden Prozess von Produktion, Repräsentation und Rezeption befindet. Die Entwicklung der Performativität führt von der Wahrnehmung zur Kommunikation, von der Sozialität zur Körperlichkeit, von der Referentialität zur Indexikalität. Im Spannungsfeld zwischen Handlungsbedarf und Institutionalisierung, Hypermedialisierung und Unmittelbarkeitssucht ist die historisch bedingte Binarität in der Performancekunst anhand der Überlagerungen einer ontologisch determinierten Postmoderne und dem epistemologischen Diskurs der Moderne neu zu überdenken. Die historischen und aktuellen Werke von Adrian Piper, Babette Mangolte, Trisha Brown, Peter Weibel, Sharon Hayes, Santiago Sierra, Valie Export und Gianni Motti dienen als Beispiele für die Frage nach dem politischen Potential der Performancekunst [1] und ihrer Vermittlungsstrategien. Anhand dieser Arbeiten sollen die Frage des Authentizitätsanspruchs der Performancekunst ab den 1960er Jahren und die Gründe für ihr Revival in den letzten zehn Jahren untersucht werden. Es geht darum, die Grenzen zwischen Kunst und Alltag als dialogischen Kreislauf in Frage zu stellen und anhand der der Performancekunst innewohnenden Dynamik und ihrer Medialisierungsstrategien zu analysieren. Gefordert ist ein Verschwimmen der Grenzen, eine Auflösung der Opposition zwischen dem Aktiven und Passiven. Dabei soll aber das Betrachten als Aktivität nicht zu einer Art Erlebnistheater verkommen, in dem der Akt des Betrachtens die Repräsentation zur Gegenwart macht. Für Jaques Rancière liegt, seiner Theorie des 'Emanzipierten Betrachters' zu Folge, die Lösung der dem Genre der Performancekunst zu Grunde liegenden Dichotomie von Original und Kopie, Ereignis und Reproduktion sowie Akteur und Betrachter in der Aktivierung und Emanzipation des Passiv gedachten. [2]

Trisha Brown, "Accumulation", at McGraw Hill, New York City, 1973, Photograph: Babette Mangolte


Ausgangspunkt ist der Körper des/der PerformerIn, der von einer selbstbestimmten, in sich verharrenden Entität zu einer aktivistischen wird. Er fusioniert, ähnlich wie Pipers Bild-Textcollage, eine Reihe von Codes und Gesten, die unabhängig der sozialen Zugehörigkeit lesbar werden. Wie es aussieht, wenn sich Menschenmassen versammeln, um einem öffentlichen Spektakel beizuwohnen, ist aufgrund der Unmenge von Bildern in Massen- und Fachmedien ein ebenso gewohnter Anblick wie der einer anonymen künstlerischen Aktion während einer Demonstration. Wie gestaltet sich das Bildverständnis einer politischen Performance im öffentlichen Raum im Gegensatz zu einer im Rahmen einer politischen Demonstration stattfindenden Performance? Als Trisha Browns TänzerInnen sich 1972 mitten in New York City im Zentrum der Einkaufspiazza McGrawHill auf die Erde legten, um die minimalistisch repetitive Choreografie von Accumulation auszuführen, sammelte sich schnell eine Menge aufmerksamer PassantInnen. Die Präsenz der Körper stellt die Grenzen der Gegenwart und der Gesellschaft in Frage und lässt das Publikum und die ProtagonistInnen im Moment ihres Zusammentreffens - und dies ist letztlich der Sinn der so genannten ’Straßenperformance’ - zu einer Einheit werden.

Babette Mangolte, Demonstration on the street in Uptown New York City, 1972, contact sheet, photo credit: Babette Mangolte


Trotz der Unmittelbarkeit gewinnt sie vor allem durch die Rezeption ihrer Dokumentarismen und Bild-Inszenierungen an politischer Kraft, denn die Perspektive der Fotografin, in diesem Fall Babette Mangolte, zeigt die Körper der TänzerInnen immer in Relation zu ihren ZuschauerInnen. Vergleicht man die Bilder von Browns Accumulation mit denen einer Gruppe weiß verhüllter und geschminkter Frauen in einem Demonstrationszug gegen den Vietnamkrieg durch Uptown Manhattan, wird der Unterschied im Verhältnis der Bewegungsdynamik des Geschehens, der politischen Protestaktion, zu dem seiner Bildinszenierung, der Performancedokumentation, deutlich. Die Bildfolge in Mangolte’s Kontaktabzügen der Demonstration ist nicht nur Zeugnis ihrer Reaktionsfähigkeit, sondern spiegelt ebenso auch die von der Cinematographie beeinflussten Bewegungsrhythmen der Fotografin im Verhältnis zur Menschenansammlung. Ob still oder bewegt, die Präsenz und Position der Kamera thematisiert nicht nur das Ereignis, sondern immer auch die Funktion und Rolle der BetrachterInnen und deren gegenseitige Einschreibung ins Bild. Die Grenzen der subjektiven Erfahrung einer Performance lassen sich nicht im unmittelbar Erlebten und im direkten Austausch festlegen, sondern entwickeln sich als Prozess in ihrer Rezeption weiter. Die Präsenz und Intention des/der PerformerIn, einen direkten Umgang mit dem Publikum zu zelebrieren, der sich jeglicher Reproduktionsmechanismen widersetzt, wird widerlegbar, da die Wahrnehmung dessen, was wir als ’Live’ verstehen immer von Medialisierung geprägt ist. In den Worten von Philip Auslander: "to understand the relationship between live and mediatiezed forms..[.].. as historical and contingent, not as ontologically given or technologically determined..[.]..the live is actually an effect of mediatization" [3]

Trotzdem verharrt der Authentizitätsanspruch des ‚Dabeigewesenseins’ in der kollektiven Rezeption der Performancekunst. Oftmals sind es ChronistInnen und AugenzeugInnen, die Anspruch auf die immaterielle Authentizität des Genres erheben und mit dem Status der PerformerInnen in ein konkurrierendes Verhältnis treten. VALIE EXPORTs Körperaktion Tapp und Tastkino aus dem Jahr 1968 stellt die direkte Konfrontation mit dem Publikum auf den ersten Blick ins Zentrum des Geschehens. EXPORT führte den Bruch der unterschiedlichen Verlangen und Erwartungen zwischen dem Publikum und der Performerin vor Augen, indem sie gegen den „Filmapparatus als materialisierte bürgerliche Ideologie" [4] demonstrierte. Mit einem einfachen Kasten, den sie vor ihrer nackten Brust trug, ging EXPORT in München auf die Straße und lud Passanten ein, das ’Kino’ mit den Händen für eine fünftel Minute zu ’besuchen’. [5] Der Frauenkörper wurde zur Leinwand, zum Film, der dem Sehsinn entzogen und um eine andere Sinneswahrnehmung, das Tasten, erweitert wurde. Ihre Leistung bestand darin, die passive Rezeption des Mediums in Frage zu stellen und das Rezeptionsverhältnis zwischen Medium und Körper in Relation zu sich selbst und zum Publikum zu hinterfragen. Trotz vordergründiger Einbindung ihres Publikums ging es EXPORT nicht um Partizipation, sondern um die Rezeption der Macht des Blickes, die durch den Aufnahme- und Projektionsapparat auf den medialisierten Körper und seine Repräsentationsmechanismen übertragen wird. Demnach sind es von KünstlerInnen in Umlauf gebrachte Fotografien, Videos und Filme, die, unabhängig der aktionistischen und politischen Intentionen der PerformerInnen, das Inszenierte im Dokumentarischen, sowie das Dokumentarische im Inszenierten fortschreiben.

Valie Export, "TAPP und TASTKINO", 1968, Body Action, Social Action, Sexual Action, Real Film, Photo: Werner Scheugl, Stachus, Munich, November 14, 1968, s/w – Fotografie, Generali Foundation Wien.


Die historische und werkimmanente faktische Bezugnahme und ideologische Verweigerung der Performancekunst ihren Reproduktionsbedingungen gegenüber wird Teil der Bildinszenierung und zum Dispositiv, das mit der eigenen historischen Betrachtung im Laufe der Zeit zunehmend zu Einem wird. Digitale und analoge Aufzeichnungsmedien verwandelten die Performancedokumentation über die Jahre hinweg in eine Art Substitut und virtuelles Äquivalent des dargestellten Ereignisses. Es ist die Politik der Distribution von Dokumentarismen und Ephemera jeglicher Art, die sich als Garant der Performancekunst erweist und ermöglicht, dass die Performance als Sinnbild gesellschaftlicher Eruptionsmomente Teil der kulturellen Erinnerung wird. Wenn Peter Weibel sich scheinbar kurzentschlossen, ohne Publikum, vor die Polizeiwachstube beim Wiener Parlament stellt, ein kleines Schild mit der Aufschrift "lügt" aus seinem Trenchcoat zieht, in die Höhe hält und vom Fotografen so ablichten lässt, dass die offizielle Leuchttafel mit der Aufschrift “Polizei“ direkt über seinem handgeschriebenen "lügt" schwebt und zu einem Satz wird, so können wir von einer subversiven Intervention ausgehen, die erst als Bild zur Performance wird und ihr Publikum erreicht.


Weibels Status als Performer wird erst in der Rezeption der Dokumentation bewiesen. Im Vergleich zu der Idee einer ’reinen’, ontologischen Performancedokumentation weisen diese Konzepte von Performativität schon vor ihrer Zeit darauf hin, dass der Akt der Dokumentation eines Ereignisses als Performance diese erst als solche konstituiert. [6]

Suzanne Lacy and Leslie Labowitz "In Mourning and in Rage", 1977 Seven foot tall veiled women in front of Los Angeles City Hall, Photo by Susan Mogul From the Collection of Suzanne Lacey


Ein weiteres frühes Beispiel für das Bewusstsein der Performancekunst gegenüber ihrer eigenen Medialisierung und Politisierung ist Suzanne Laceys und Leslie Labowitzes Performance In Mourning and in Rage. Es ist die von der Medienpolitik gesteuerte Kultur des Spektakels, die sie mit ihrem Manifest Feminist Media Strategies for Political Performance in Frage stellen und aktiv bekämpfen. Während Los Angeles im Dezember 1977 auf neue Nachrichten rund um den Hillside Strangler-Fall wartete, die Leben der weiblichen Opfer durch die öffentlichen und privaten Medienanstalten sensationalisiert und kriminalisiert wurden  und ein Klima der Angst und Vorurteile geschürt wurde, entschieden sich die Künstlerinnen den Spieß umzudrehen. Sie bedienten sich der kommunikativen Kraft der Massenmedien um eine alternative Interpretation der Geschehnisse als Medienereignis zu inszenieren.

...[It was about] creating a public ritual of rage as well as grief. A motorcade of sixty women followed a hearse to City Hall, where news media reporters waited. Ten very tall women robed in black mourning climbed from the hearse. At the front steps of City Hall, the performers each spoke of a different form of violence against women, connecting these as part of a fabric of social consent for such crimes ... The performance reached its target with extensive coverage on local and statewide news. [7]

Es war in ihrem Kampf gegen die Gewalt an Frauen in den Medien und der Gesellschaft eine der erfolgreichsten öffentlichen Interventionen. Zusammenstellungen der Dokumentation aus Text, Bildern und Presseausschnitten repräsentieren das Projekt bis heute im Publikations- und Kunstkontext.

Die hier als Beispiele angeführten KünstlerInnen thematisierten medial reflexiv den Prozess der Entstehung ihrer performativen Arbeiten. Sie stellten dar, wie die Performancekunst in ihrer medialen Transkription ‘von der Straße’ zum 'Bild an der Wand’ eine Vielzahl von Verschiebungen und Perspektivwechsel durchläuft. Diese Verschiebung der Schwerpunkte in der Rezeption des Genres ist für die Debatte zwischen Performativität und Medialität in der Performance- und Medientheorie auch drei Jahrzehnte später noch grundlegend. Kathy O' Dell beschreibt unser historisches Verhältnis zu einer in der Vergangenheit liegenden Performance als eine Verlagerung des Haptischen vom Ereignis zum Abbild seiner selbst. Sie sieht darin einen paradigmatischen Wechsel zu einem epistemologischen Prozess, der seit den 1970er Jahren unser Wissen über den Körper und physische Erfahrung beeinflusst. [8] Die Erkundung des Haptischen mittels der Dokumentarismen der Performancekunst macht nicht nur Vergangenes und nicht Miterlebtes sichtbar, sondern ist maßgeblich an der Vermittlung sozialpolitischer Anliegen in der Kunst und an dem Revival der Performancekunst beteiligt. [9]

Die Performance erlebt seit Mitte der 1990er Jahre eine Hochkonjunktur: kaum eine Ausstellung der letzten Jahre, ob im Non-Profit-Raum, Museum, Kunstmesse oder Privatsammlung, kommt ohne sie aus. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Sie sind als direkte Reaktion auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse und Proteste gegen den Krieg im Irak, die Globalisierung und den Klimawandel im Sinne eines erhöhten Handlungsbedarfes zu verstehen. Zugleich begründen sie sich im wieder entdeckten Bedürfnis nach einem in der Vergangenheit liegenden, revolutionär geprägten kulturellen Klima. Die Frage nach der Bedeutung der ontologischen Ursprünge in der Performancekunst und nach ihrem Verhältnis zu den Medien löste in der Kunst das Revival der Performance und in den Kulturwissenschaften die Emanzipation des 'performative turn' aus. Was im Rahmen der kulturellen Erinnerungsdebatte nach drei Jahrzehnten fast vergessen schien, konnte durch das Aufkommen des 'performative turn', also der Präferenz des Handelns und der Geste vor dem Text und der Semiotik, als neuer Leitbegriff wiederbelebt werden. [10] Begleitet wurde dieser Paradigmenwechsel von der Musealisierung, Institutionalisierung und Kommerzialisierung der Konzept- und Performancekunst aus den 1960er und 1970er Jahren. Eine Unmenge von Ausstellungen und Symposien, zu denen auch diese Ausstellung und Publikation gehörten, untersuchen und treiben diese Entwicklung weiter. Die Inflation ihres symbolischen Wertes ist eng verbunden mit der ihres Marktwertes, der in den letzten Jahren durch institutionelle Ankäufe gestiegen ist. [11] Die Institutionskritik, die sich ursprünglich mit dem Thema der Produktion und Distribution von Kunst im Verhältnis zum White Cube auseinander setzte, wandelte sich in den 1990er Jahren zu einer Kritik des Politischen, indem sie ihren Blick auf die Gesellschaft an sich lenkte. Die Entwicklung des ’Performativen’ löst bis heute in Politik, Wirtschaft, Kunst und Theorie eine nicht endende Reihe von Revivals und Aneignungen aus. Diese nähren das Spannungsverhältnis zwischen der Politik des Sammelns von Substituten und der iterativen Aktivierung der Institution Kunst. Im Prozess der Re-aktivierung des Dispositivs der Partizipation finden wir uns als BetrachterInnen inmitten der uns umgebenden Ephemera und Re-enactments wieder, die die Grenzen zwischen Werk, Objekt und Spur verschwimmen lassen. Es ist eine Gratwanderung zwischen nostalgischer Historisierung, marktfreundlicher Aneignung und subversiver Appropriation, die die Performancekunst aufgrund ihrer De-kontextualisierung, mit der Gefahr sich jeglicher politischer Aussage zu entleeren, vorantreibt.

Performance ist heute nicht nur eine Kunstrichtung, sondern ein Werkzeug unter vielen geworden, um sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Die performativen Arbeiten von KünstlerInnen wie Sharon Hayes, Santiago Sierra, Tracey Rose, Sanja Ivekovićić, Patty Chang, Joan Jonas oder Gianni Motti setzen die translatorische Leistung, die der Performance innewohnt, als gesellschaftlichen Katalysator um. Trotz der unterschiedlichen Ansätze geht es um eine immer wieder zu durchbrechende Struktur, die sich, des eigenen und fremder Körper bewusst, sozialer Um- und Missstände sowie aktueller und historischer Fakten bedient. Die politische Affinität und Institutionalisierung der Performancekunst wird Teil ihrer Artikulation und Inszenierungsmechanismen, in denen das Begehren nach dem erneut Erfahrbaren seinen Platz findet. Der folgende Vergleich von Sharon Hayes, Santiago Sierra und Gianni Motti basiert auf deren unterschiedlichen Methodik, die performative Präsenz ihrer selbst oder anderer von ihnen inszenierten Körper als Mittel zum Zweck ihrer Aussagen über die Gesellschaft und Kunst zu verwenden.

Sharon Hayes, "In the near future - Vienna", 2005-2006


Bei Sharon Hayes steht der "Blick zurück" für den Versuch, das "Jetzt" in seiner politischen Dimension greifbar zu machen. Die Performance und Installation In the near future - Vienna [12], aus dem Jahr 2006 ist die Inszenierung einer Serie von anachronistischen und spekulativen Aktionen im öffentlichen Raum. Die Arbeit ist Teil von Hayes laufender künstlerischer Auseinandersetzung mit Formen des Protests. An einer Reihe von Tagen platzierte sich Hayes mit einem jeweils anderen von ihr gestalteten Protestschild an verschiedenen Orten im Stadtgebiet Wiens. Die Slogans auf ihren Transparenten spielten mit dem Wiedererkennungswert vergangener Proteste am Schauplatz ihres Geschehens. Das Publikum wurde eingeladen, die Aktionen mittels Fotografien zu dokumentieren, die in Folge als Dia-Installation präsentiert wurden. Der Akt des Fotografiertwerdens rechtfertigte während der Performance die Präsenz der Künstlerin im öffentlichen Raum. Für die Installation wurden die Fotografien zum Träger der politischen Einzelaktionen. Mit der historischen Aktualität geht oft eine zeitliche und räumliche Verlagerung einher, die sich in den unmittelbaren Reaktionen, der kollektiven Erinnerung und ihrem scheinbaren Vergessen ausdrückt. Hayes zeichnet die Labilität der Gratwanderung zwischen Protest und Kunst in der Überschneidung ihrer unterschiedlichen Inszenierungsformen nach. Ihre Dekontextualisierung und Deplatzierung vergangener Proteste im öffentlichen Raum wird als konzeptionelle Installation zum Archiv ihrer doppelten Rolle als Künstlerin und Aktivistin, die nicht zuletzt auf der tranlsatorischen Leistung ihres Publikums basiert.

Durch die Affinität der Performancekunst zum Konzeptualismus und Aktivismus der 1960er und 1970er Jahre ist ihre Aktualität auch als Weiterentwicklung und Effekt der in den 1990er Jahren dominierenden künstlerischen Bewegung der Relational Aesthetics zu verstehen. Beiden Bewegungen geht es um das unmittelbare Erleben und das Potential des Austausches kommunikativer Prozesse. Doch trotz ihres kritischen Potentials sind die Performancekunst und die Relational Aesthetics aufgrund ihrer Historisierung, Mythologisierung und schließlich Vermarktung, so zeigt die Kritik der letzten Jahre, nicht vom Kontext der Institution Kunst zu lösen. Es ist nicht die Partizipation des Publikums im ’hier und jetzt’ oder die Interaktion auf Mikroebene, [13] die ihre Funktion und ihr Potential als ideologischer Indikator ausmacht, sondern erst die Übersetzung der Performance in unterschiedliche Medialisierungsformen und kommunikative Distributionssysteme. Dementsprechend bekommt die Frage, welches Potential die Integration der Kunst in die Öffentlichkeit und in das Spektakel der Massenmedien hat, eine andere Dynamik als zur Zeit von In Mourning and in Rage oder Tapp und Tastkino. Was passiert heute, wenn Künstler wie Motti den Kampf gegen die Medienwirklichkeit aufnehmen und Sierra mit den realen Körpern gesellschaftlicher AußenseiterInnen und Unterdrückter arbeitet? Wie fordern sie den vom Kunstbetrieb postulierten Anspruch, die sozialen und politischen Strukturen der Gegenwart in sich kritisch reflektieren zu können, heraus?

Wenn Motti sich in der Publikumstribüne in Wimbeldon sitzend unmittelbar nach dem Skandal in Abu Ghraib einen schwarzen Plastiksack über den Kopf stülpt und den schweifenden Blick der Fernsehkameras auf sich zieht, verschwimmen die Grenzen zwischen künstlerischer Inszenierung, Voyeurismus und Subversivität. Dabei geht es ihm nicht so sehr um die Reaktion des direkt anwesenden Publikums, sondern um die Verbreitung der Ereignisse in ihren unterschiedlichen Formen als Nachrichtenbild, Dokumentation oder Anekdote. Im Unterschied zu Lacys Versuch, mit den Medien eine Zusammenarbeit zu entwickeln, die auf eine langfristige gesellschaftliche Veränderung und Aufklärung der BetrachterInnen abzielt, findet der Kontakt zwischen Motti und den Medien zunächst durch das inszenierte Hineindrücken seiner Person in den Bildrahmen der Kameras statt. Während der Künstler in seinen Installationen Text und Bild aufs Genaueste zusammensetzt und plant, entzieht sich in dieser Arbeit die erste Ebene der Bildinszenierung seiner Einflussnahme.
Santiago Sierra, der wie Motti mit dem Effekt des Aufeinandertreffens einer aggressiven Realität mit seinen Machtverhältnissen im Gegensatz zum scheinbar ’hehren’ Refugium der Kunst arbeitet, präsentiert in seinen Performances und Installationen Ursache, Anliegen und Empathie nicht als ideologische Gegensätze oder sequentielle Abfolge. Sie werden stattdessen als gleichwertige Bedeutungsebenen verstanden, die sich in ihren unterschiedlichen Rezeptionsformen bereits im Prozess der Produktion überschneiden.

Santiago Sierra, "133 Persons Paid to Have Their Hair Dyed Blond / 133 Leute, bezahlt, um die Haare blond zu färben", June/ Juni 2001, Arsenale, Venice Biennale, 2001, b & w photograph, Courtesy Galerie Peter Kilchmann, Zürich and Lisson Gallery, London.


In Aktionen wie 133 Leute, bezahlt, um die Haare blond zu färben (Abb.8) offenbart Sierra unsere innersten Gesellschaftsstrukturen und den Mechanismus von Wirtschaft und Gemeinschaft. Er holt die menschenverachtenden Seiten des ökonomischen Systems immer wieder gezielt ins Museum – ob live oder vermittelt in den Dokumentationen seiner Projekte. Die Gefahr dabei ist, dass es der institutionelle Rahmen noch immer geschafft hat, selbst subversivste künstlerische Strategien einzugemeinden und somit zu neutralisieren.

Wenn auch auf drastisch unterschiedliche Weise thematisieren die Arbeiten von Hayes, Motti und Sierra die Distanz zwischen der Unmöglichkeit der Unmittelbarkeit der Performance als kulturelles Dokument und ihrem Potential als gesellschaftlicher Indikator. Prämisse dafür ist die Integration von Diskontinuitäten in den Prozess dessen, was während dem Akt der Aufführung und seiner Repräsentation zum Vorschein tritt. Sie verdeutlichen, inwiefern Werte, Normen und Gesetze und deren Auslegung dem Wandel der Zeit unterworfen sind. Erst so kann es auf einer sich gegenseitig reflektierenden Ebene zu einem Treffen der zu vermittelnden Botschaft der PerformerInnen und der Forderungen der BetrachterInnen kommen. Indem unterschiedliche Arten von performativen Akten mit- und ineinander übersetzt werden, können Momente der Aufführung mit dem Lesen eines Gedichts oder dem Erzählen einer Geschichte auf gleiche Ebene gestellt werden. Rancière meint dazu: " ... in fact, it should be a matter of linking what one knows with what one does not know, of being at the same time performers who display their competences and spectators who are looking to find what those competences might produce in a new context, among unknown people." [14] Die Performance sollte vielmehr den privilegierten Status ihrer ’lebendigen’ Präsenz in Frage stellen. Denn im Endeffekt geht es in der Kunst darum, das, was man weiß mit dem, was man nicht weiß auf eine gleichwertige Erfahrungsebene zu stellen.

 

 

Dieser Essay wurde im Rahmen des Ausstellungskataloges "Live Art on Camera: performance and photography", (Hg.) Alice Maude Roxby, Southampton, UK, John Hansard Gallery, 2007 erstmals in englischer Sprache publiziert. Die deutsche Version auf www.performap.de wird hier leicht verändert mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Herausgeber abgedruckt.

 

PDF Download

 


[1] Gemeint sind auch jene Performances, die sich auf den ersten Blick jeglichen politischen Bewusstseins entziehen. Sie sind trotz ihres scheinbaren Antagonismus immer auch - ob expressives oder kommerziell geprägtes Spektakel - als Zeichen ihrer Zeit zu verstehen.

[2] Jaques Ranciere, The Emancipated Spectator, in: Artforum, März 2007, Seite 271, 280.

[3] Vgl. Philip Auslander, "Live Performance in A Mediatized Culture" Routledge, London and New York, 1999, p. 51.

[4] Occupying Space Collection Catalogue Generali Foundation, (ed.) Sabine Breitwieser, Generali Foundation, Vienna, 2003, Seite 82.

[5] Siehe ebd.

[6] Philip Auslander: Zur Performativität der Performancedokumentation/The Performativity of Performance Documentation, in; After the Act: Die (Re)Präsentation der Performancekunst /The (Re)Presentation of Performance Art, edited by Barbara Clausen, MUMOK Theory 03. Nürnberg: Verlag Moderner Kunst, 2006. pp. 21-34, p. 27.

[7] Susanne Lacy and Leslie Labowitz: Feminist Meida Strategies for Political Performance, in: Radical Street Peformance: An International Anthology, (ed. Jan Cohen-Cruz), Routledge London New York, 1998, pp. 38-41, p. 41.

[8] Kathy O'Dell: Displacing the Haptic: Performance Art, the Photographic Document and the 1970s, in: Performance Research 2 (1), p. 73-81, Routledge, London,1997, p. 75.

[9] O'Dell (1997): siehe ebd. p. 80.

[10] Siehe Doris Bachmann Medick. Cultural Turns, (ed.). Doris Bachmann Medick, Rowohlts Enzyklopädie, 2006, Seite 27.

[11] Weitere Beispiele der letzten Jahre ist der Ankauf des Privatarchivs Robert McElroys durch die Pace Wildenstein Galerie, der Kooperation des Peter Moore Archivs mit der Sonnabend Galerie, sowie der Verwaltung des Estates von Allan Kaprow und Gordon Matta Clark bei der Galerie Hauser und Wirth und David Zwirner, oder der Ankauf des Bild- und Pressearchivs des Wiener Aktionismus durch das Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.

[12] Die Aktion wurde erstmals 2005 in New York ausgeführt.

[13] See Claire Bishop: Antagonism and Relational Aesthetics, OCTOBER 110, Fall 2004, pp. 51–79 and see Anna Dezeuze: Everyday life, 'relational aesthetics' and the 'transfiguration of the commonplace' Journal of Visual Art Practice 5 no3, 2006, pp. 143-52.