Verlorenes Wissen – Tanz und Archiv

Franz Anton Cramer (Berlin)

 

 

Man kann es auch poetisch sagen:

... nichts ist vergänglich; der Abdruck eines Fußes im Sand reicht aus, um im Halbschatten das Bild jenes Körpers gegenwärtig werden zu lassen, dessen Gewicht die Spur hinterlassen hat. [Lannes 1938: 192]

So beschreibt es ein Autor im Jahre 1938. Die Poesie des Tanzes liege in seiner vergänglichen Unvergänglichkeit, in dem Zustand als Tanzen, bei dem der Tänzer „von Sekunde zu Sekunde aus seinem Körper einen neuen, einen anderen formt. Er macht dabei zunichte, was er war, um zu erreichen, was er erst noch sein wird.“ [Ebenda: 193]

Damit benennt Lannes alle Schwierigkeiten im Umgang mit einem Phänomen, welches zwar unbestreitbar ist, welches aber zugleich unbegreif-lich, ungreifbar ist: die als Tanzen gestaltete Bewegung. Tanz ist ein immer unstabiler Zustand; er ist ein Grenzfall des Rationalen, insofern er den Methoden und Instrumenten der Erkenntnis immer schon entschlüpft ist, mit welchen er dingfest, verständlich und habhaft gemacht werden soll.

Tanz findet auf jenem schmalen Grat statt, der sichtbar von unsichtbar, Sein von Nicht-Sein, materiell von immateriell unterscheidet oder, wie Heinrich von Kleist es in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater darlegt:

Die Linie, die der Schwerpunkt [der Bewegung] zu beschreiben hat, ... wäre ... etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anders, als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, daß sie anders gefunden werden könne, als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit andern Worten, tanzt. [Kleist 1984: 85 f., Hervorhebung und Auslassungen i. O.]

Der Tanz bietet eben kein OBJEKT; er ist ein Vorgang, der „dem Versuch seiner Feststellung derart sich entzieht, dass dabei nur noch die demonstrierbaren Randeigenschaften einer Gestalt übrig bleiben“ [Plessner 1974: 128] – also Bilder, Skulpturen, Fotos … Was aber nicht dauern kann, ist das immerwährende „Werden“ des Tanzes, jene „Akzentuierung im Jetzt“ der schieren Möglichkeit, wie Plessner das genannt hat.

Wir bestimmen den Tanz also über eine Eigenschaft, die recht eigentlich gar keine ist, nämlich das Nicht-Sein des Tanzes, seine Spurlosigkeit, seine ewige Gegenwart.

Aber warum sollte sich diese Gegenwart nicht bannen lassen? Was soll das heißen: Der Tanz ist nur dadurch, dass er nicht ist? Und sobald er ist, was er sein möchte – ein Objekt, eine Aussage, eine Realität –, hört er auf, Tanz zu sein?

Sind das nicht bloß rhetorische Spielereien? Wir SEHEN doch den Tanz sich ereignen, vor unseren Augen, unzweifelhaft, berührend, schön, persönlich, humanistisch, gewaltig, bedeutsam oder zart … Jedenfalls sehen wir ihn als eine Realität, die ein ihm eigenes Wissen, ihm eigene Regeln, eine ihm eigene Wahrheit vermittelt.

Oder nicht?

Doch, natürlich!, ruft die Praxis.

Aber welche Wahrheit soll das sein?, fragt die Theorie zurück.

 

 

thumlaban

 

Weiß Tanz mehr?

Welches Wissen manifestiert sich also in den tänzerischen Äußerungen, welche Wahrheit liegt darin beschlossen, und nach welchen Regeln teilt sie sich mit? Diese Fragen sind essentiell, wenn es darum geht zu überlegen, welche Anteile dieses Wissens, dieser Wahrheit, dieser Ent-Äußerungen später einmal, nach dem Ende des Phänomens, geborgen, bewahrt, transportiert werden können. Wenn es also darum geht, den Weg der Seele des Tänzers zu kartographieren, um dadurch selbst dem Tanz näher zu treten ...

Gerne wird dann beteuert: TANZ SAGT SOWIESO MEHR ALS TAUSEND WORTE. MAN MUSS SICH EBEN DAMIT ABFINDEN, DASS DER EINZIGARTIGE MOMENT DER FÜLLE NIEMALS IN DER DAUER DES DOKUMENTS ÜBERLEBEN KANN.

Natürlich wäre zu fragen, welche Art von Dokument hier gemeint sein könnte oder gemeint sein müsste. Andererseits ist die Frage viel grundlegender: nämlich ob die Kunst sich überhaupt jemals in etwas anderes, in ein anderes Medium übertragen lässt, ja ob sie überhaupt trotz ihres behaupteten reinen Erlebnischarakters jemals außerhalb der gegebenen kommunikativen und dokumentarischen Strukturen existiert.

Peter Stamer hat diesen eigentümlichen Zusammenhang so zusammengefasst:

Jenes Mehr von Kunst […] ist der obskure Rest, der bleibt, wenn der Betrachter versucht, das Wahrgenommene sprachlich zu fassen. […] Kunst, so sagt (diese Form der) Ästhetik, sei eben nur dann Kunst, wenn sie ihr Enigma vor der Sprache verschließe. Es ist jenes Rätsel, das seinen Auftritt auf der Szene der Sichtbarkeit verweigern muss, weil es nur ‚off-stage‘ […] für den Diskurs unsichtbar, seinen Rätselcharakter bewahrt und im Erfahrungsmoment des Körpers verbirgt. [Stamer 2004: 15] (Auslassungen FAC)

Demnach braucht also das Künstlerische geradezu jene Figur der Unsagbarkeit, um sich überhaupt selbst zu legitimieren und um sich als das Andere der Sprache, das Mehr an Sinn, als der Überschuss an Bedeutung definieren zu können. Das wäre aber auch zugleich eine Umkehrung: „Der Diskurs bildet den epistemischen Horizont, vor dem Kunst als Mehr in Erscheinung treten kann: Kunst ist kein Rätsel, sondern Effekt einer diskursiven Verrätselung.“ [Ebenda]

So gesehen wäre aber die Differenz zwischen dem Phänomen und seiner Spur oder dem Dokument, in welches es eingeschlossen wird, nur ein Unglücksfall der Theorie, ein Mißverständnis der Betrachtung. Der Tanz als Praxis hätte sozusagen die letzte Schlacht gewonnen: Er behält sein „spezifisches Wissen“, sein „Wissen in Bewegung“ in sich, als seinen Kern und sein Wesen. Ihm ist es dann egal‚ was die anderen damit anfangen.

Auf der anderen Seite obliegt es dem Betrachter, dem Interessierten, in seinen eigenen Reaktionen, seiner eigenen Wahrnehmung, seinem eigenen Erleben, sein je eigenes, subjektives Dokument, sein ganz persönliches Erinnerungs-Stück anzufertigen: Ein jeder tanzt für sich allein, ein jeder sieht für sich allein. Ist also gar kein Austausch möglich?

Dann hätte man ganz schön aufzuräumen. Denn gehört zur emphatischen Definitionskultur des Tanzes nicht gerade das Gemeinschaftliche? Die gemeinsame Teilhabe? Die lebendige Kommunikation? Das Miteinander im Hier und Jetzt der Aufführung? Ganz so beliebig und zurückgeworfen auf das Einzelne, das Unsagbare, das Unteilbare, das Individuelle geht es im Tanz denn offenbar doch nicht zu.

Die Frage der Übersetzbarkeit oder der Übertragung des tänzerischen Werkes, des choreografischen Gegenstandes also, in ein anderes Medium, die Konstruktion tänzerischer Erinnerung und tänzerischen Gedächtnisses lässt sich mit dem Hinweis auf reines Erleben versus bloßes Bewahren nicht beantworten. Tanz ist mehr als nur der Tänzer oder das Tanzen. Aber die Spur des Tanzes ist auch mehr als nur das Dokument. Auf dieser Grundlage der Betrachtung wurde 1931 eine der bedeutendsten tanzwissenschaftlichen Institutionen der Moderne gegründet: das Internationale Tanzarchiv in Paris.

Die Archives Internationales de la Danse (A.I.D.) wurden 1931 durch den Mäzen Rolf de Maré und ein Team engagierter Fachleute gegründet. Zum Tätigkeitsgebiet der A.I.D. zählten Ausstellungen, Datenbanken, Photosammlungen und historische Abbildungsarchive (insbesondere historische Graphik), ferner die Publikation einer Fachzeitschrift, die Veranstaltung, Betreuung und Förderung von Choreographie-Wettbewerben, schließlich Forschungsreisen durch Indonesien, aber auch die wissenschaftliche Sammlung, Erforschung und Präsentation französischer und europäischer Volkstänze.
Doch fiel dieses tanzwissenschaftliche Modellprojekt der Weltgeschichte zum Opfer: Kurz vor dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris 1940 flohen viele Mitarbeiter, andere gingen in den Untergrund. Die Arbeit des Tanzarchivs ruhte und konnte nach dem Krieg nie wieder an die Dynamik der dreißiger Jahre anknüpfen. 1952 wurde der Betrieb endgültig eingestellt, die Sammlungsbestände der Bibliothek der Pariser Oper und dem gegründeten Tanzmuseum in Stockholm übereignet. [Baxmann 2008]

Die Frage, inwieweit sich der Tanz objektivieren lässt und welche die dazu notwendigen methodischen Instrumentarien sein könnten, hat sich jede Generation von Tanzwissenschaftlern in ihrer Zeit neu zu stellen; das Pariser Archiv hatte hierbei eine zweigleisige Politik im Auge:

1. Die Technik im eigentlichen Sinne, d. h. die Arten und Weisen, in denen der Tanz sich als Sichtbares und als lebendige Vorführung darstellt – ist sie mitteilbar, erträgt sie es, festgelegt und irgendwo aufbewahrt zu werden, z. B. in den Archiven? Kann sie außerhalb ihrer praktischen Umsetzung oder auch ihrer künstlerischen Darbietung etwas mitteilen? Dient sie also einer wie auch immer gearteten Objektivierung des Tanzes, zur Herstellung eines objektiven, weil technisch kodierten Tanzes? Gibt es demnach eine Art idealen Tanz, d. h. einen Tanz, der von der reinen Idee seiner formalen Gestaltung sich herleitet, also eine Art apriorisches Tanzen?

2. Oder ist es nicht vielmehr der Kontext, der dem Tanz erst seine Bedeutung und seine Verständlichkeit verleiht? Ist es nicht viel eher das gesamte Dispositiv der Kommunikation, der Aufführung und der Bühne, die dazu führen, dass der Tanz sich mit Sinn auflädt, mit Wert, mit Anschaulichkeit? Ist es vielleicht gerade der Kontext, verstanden als individuelle Aneignung allgemeiner technischer Grundlagen im Vorgang, im jeweils einzigartigen Akt des Tanzens, ist es also gerade der Kontext, der das Tanzen überhaupt zur gemeinschaftlichen Form macht? Öffnet nicht erst der Kontext dem Tanz eine Dimension, die weit über das rein ästhetische und wahrnehmungstechnische Erleben hinausweist?

Die A.I.D. haben mit dieser Problematisierung des Wissens zugleich neue Formeln der Wissensgewinnung über Tanz propagiert und damit die Rolle der künstlerischen Aneignung gegenüber dem allgemeinen Aspekt stark gemacht. Alle bis dahin getrennten Parameter wie etwa das choreografische Wissen, die technischen Fertigkeiten, der mehr oder weniger entfesselte Ausdruck von Subjektivität, die gestische Narrativität … – alle diese Parameter sind einer genauen Untersuchung unterworfen worden. Im Projekt der A.I.D. handelte es sich darum, den Begriff selbst des Tanzes und der Methoden neu zu denken, mit denen er objektiviert werden soll, ohne dabei das jeweils Individuelle opfern zu müssen. Man suchte nach einer Methode, den Tanz fassbar zu machen und gleichzeitig seine Kontextgebundenheit zu berücksichtigen, seine beschreibbaren Anteile von den unfasslichen zu unterscheiden und in dieser doppelten Erscheinung zu sehen. Darin liegt im Kern der Versuch einer „klaren und definitiven Methode“ zur Untersuchung von Tanz, wie sie der wissenschaftliche Leiter der A.I.D., Pierre Tugal, postuliert hat.

 

 

Archiv als Performance

Die Rekonstruierbarkeit dessen, was ich hier fortwährend das tänzerische Phänomen nenne, die Wiederherstellung des ewig Vergangenen ist zentral bei der Arbeit an der Geschichte des Tanzes, aber auch bereits bei der Herstellung, bei der Konzeptionierung des dokumentarischen Gegenstands.

Die übliche Unterscheidung zwischen choreografischer Praxis und archivarischer Erschließung basiert auf einer Trennung, auf einer Hierarchisierung: Der Tanz hat den ersten Auftritt, das Archiv den zweiten; der Tanz erhält den Schlussapplaus, das Archiv und seine Dokumente fegen anschließend die Bühne und bereiten eine Tabula rasa vor für den nächsten Auftritt des Tanzes. Diese Rollenverteilung ist vielleicht heute nicht mehr gültig, nicht mehr adäquat.

Zeitgenössische Aufführungskunst ist vielmehr von beidem geradezu besessen: von der so genannten Flüchtigkeit des Tanzes (der Performance) wie von der so genannten 'Versteinerung des Archivs'. Das gesteigerte Interesse an der lebendigen Vorführung UND ihrer Abhängigkeit von den Überresten dieser lebendigen Äußerung scheint mir viel eher dem nahe zu kommen, was man die Frage nach Zeitgenossenschaft nennen könnte. Denn es gibt keinen Tanz ohne Gedächtnis, ebenso wenig wie es ein Gedächtnis ohne spezifische Mittel und Medien zu seiner Bewahrung gibt. Weil Performance ihre spezifischen Kontexte braucht, sind beide aufeinander angewiesen: die ewige Vergangenheit des Archivs und die ewige Gegenwart des Tanzes, in der das zukünftige Gedächtnis überhaupt erst produziert wird. Wobei das produzierte Gedächtnis sich wiederum erst materialisieren und also zum Kontext werden kann, wenn es sich in einen gegenwärtigen Zusammenhang zu dem stellt, was gewesen ist (die Aufführung, der Live-Act). Nur so kann die Aufführung „etwas“ werden: Gegenstand des Diskurses, des Interesses, der Untersuchung … Statt der bloßen Umkehrung, von der Peter Stamer spricht, ist es vielleicht eher ein komplementäres Verhältnis: Die Gegenwart kann nur sein, weil sie ihre Vergangenheit in sich birgt und ihre Dauer als Dokument mitdenkt.

Aufgrund dieses innigen Verhältnisses und des sehr klar artikulierten Bewusstseins davon ist zeitgenössische Performance in sehr grundlegender Weise an die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit gebunden.

 

Mary Wigman

 

Archiv und Bezeugung

Die großen Archivinstitutionen des Westens jedenfalls, wie etwa die New York Public Library, die Derra de Moroda Dance Archives in Salzburg, die Mediathek des französischen CND, das Laban Centre in London oder auch das Tanzarchiv Leipzig haben demgegenüber alle ihre spezifischen professionellen Profile und Standards. Sie produzieren Gedächtnis und Erinnerungen mit dem Material, welches von der Aufführung und den Aufführenden zurückbleibt. Ihrem Wesen als Institution gemäß sind sie – und müssen es auch sein – weniger am Aktuellen und seiner Verknüpfung mit dem Vergangenen interessiert als an der systematischen Bewahrung und Erschließung. Das ist natürlich eine gewagte Bemerkung, die ich hier nur deswegen einfüge, um darauf hinzuweisen, dass noch die Aufzeichnung einer zeitgenössischen Aufführung – auf Video, im Programmzettel, als Künstlerprofil etc. – ein Akt der Bewahrung bleibt, die eine bestimmte Form der Materialität herstellt und somit das Aufführungsphänomen in ein anderes Medium, in einen anderen Aggregatzustand überträgt, in dem das Phänomen dann verbleiben muss, bis es durch eine neue Aufführung, eine neue Forschungstätigkeit, eine neue Verkörperung „reaktiviert“ werden kann. Diese Fragen betreffen sicherlich auch den Bereich der kulturellen Überlieferung insgesamt, sie gehören aber im Besonderen auch zur Definition des Tanzes und der Arten und Weisen der Wissensbewahrung und -vermittlung. In einem Memorandum der Mediathek des CND steht dazu:

Dokumentarische Bestände eröffnen neue Forschungsräume und bilden, parallel zum Körper und seinem Gedächtnis, ein wertvolles Corpus für wissenschaftliche Untersuchungen und theoretische Fortentwicklungen im Bereich der Geschichte wie der Ästhetik. Doch dominieren in all diesen Dokumentbeständen ikonographische Quellen, stehende oder bewegte Bilder (Photographie oder Film/Video). Nicht nur sind diese Bilder oft bis zum Überdruß bekannt und wiederholt, wodurch ein Redundanzeffekt entsteht, welcher das Bild der Vergangenheit stark beschränkt; man ist im Tanz-Bild mit einer besonderen Schwierigkeit konfrontiert: Was genau zeigt das Standbild von der Bewegung, und inwieweit kann ein Film in seiner Zweidimensionalität überhaupt von der „Körperlichkeit“ zeugen ...? [Sebillotte 2003, o. P.]

Die Frage ist allerdings nicht neu. So erschien 1935 in Paris die kleine Schrift über das „Museum des Sprechens und der Gebärde“, das Musée de la Parole et du Geste. Dort entwickelte man das Modell eines Ton-Archivs, um die vielfältigen Erscheinungsweisen der französischen Umgangssprache und deren dialektaler Varianten zu dokumentieren. Man sprach von einer akustischen National-Enzyklopädie der Redensarten, Dialekte und alten Lieder Frankreichs.[1] Bezugnehmend auf die vielfältigen und (vergleichbar dem Tanz) stets flüchtigen „mouvements sonores“ wünscht sich der stellvertretende Direktor der Einrichtung, Roger Dévigne, eine Laut-Druckerei, die nachhaltiger als das leblose Blei die subtilen Nuancen der menschlichen Empfindung festhält[2] ...

Die Flüchtigkeit des Schalls und seine Immaterialität werden – ähnlich wie beim Denken der Bewegung in ihrer tänzerischen Dimension – als Medien körperlicher Produktion von Kultur, von Sinn und Tradition entdeckt und problematisiert. Das Moment des Flüchtigen kontrastiert dabei mit dem Postulat des Bleibenden: dem Dokument (als Tonaufnahme, oder eben als Photo, Film, Bewegungsschrift). Der ursprüngliche materielle Träger der Botschaft – der menschliche Körper in seinem gesellschaftlichen und/oder ästhetischen Dasein – kann dieses Dokument allenfalls beglaubigen [Baxmann 2005]. Erst im Verfertigen eines dokumentierbaren Wissensbestandes (von Quellen, von Beschreibung, von Übertragung in andere Medien) entsteht das volle Bild.

Diese Form der Bewahrung und der Dokumentation steht heute vor den gleichen Fragen. Welche Quellen sollen gelten? Welche Wissenstatbestände lassen sich wie aufbewahren? Gerade mit dem Internet sind heute fast alle großen Dokumentsammlungen zum Tanzbereich für jedermann zugänglich. Man ruft das vorhandene Wissen nach Stichwörtern ab – nach Urhebern, nach Werken, nach Orten, nach Themen, d. h. nach all den Elementen, welche dem Tanz einen spezifischen Kontext geben. Man betritt ein Reich der Ordnungen, der Taxonomien und der Verschlagwortung. Dieser Bereich des Quellenwissens ist für den Tanz genauso gegeben wie für andere Disziplinen. Es gibt Datenträger und Suchmasken, Nutzeroberflächen und Encoded Archival Description, es gibt Online-Kataloge und Netzwerkverbünde, es gibt Informationsarchitektur und Mediensammlungen, es gibt Kompatibilitätssoftware und Einzelkonfigurierungen, es gibt, mit einem Wort, die Technologien des Wissens. Man definiert, welche Quelle relevant ist, wohin sie gehört, wer auf sie zugreifen soll und in welcher Form.

Das alles sind Wissensbestände auf Abruf: wie früher im Zettelkatalog standardisiert, systematisiert, konfiguriert, je nach Fragestellung und Autorisierungsgrad zugänglich und logisch.

 

 

Original und Einzelfall

Von den Wissensoberflächen und den Strukturprinzipien der Beschreibung, der Indexierung und der Ordnung gelangt man irgendwann zum einzelnen Dokument und seinem schweigenden Wissen, welches man ihm auf die eine oder andere Weise entlocken will. Die Organisierung einer beliebigen Dokumentengruppe nach internationalen Standards[3] bleibt dabei – und das sei hier nur am Rande vermerkt, als Hinweis auf das 'Alltagsgeschäft' des Archivwesens – doch so individuell und flexibel, dass der jeweilige Einzelfall, die Wirklichkeit eines Dokumentes und seiner Herkunft, doch immer wieder getreu abgebildet werden kann.

Um also tänzerische Tatbestände von der bloßen Situation ihres Auftretens abzuziehen, zu abstrahieren, unabhängig zu machen, übernimmt das Archiv mit seinem Vorgang der Objektivierung eine Art interpretierende Mittlerfunktion zwischen der Herstellung der Quelle und ihrer späteren Verwendung. Denn wie auch immer das Dokument aussehen mag, es enthält niemals den Tanz, sondern immer nur irgendwelche Spuren, die stets subjektiv sein müssen. Und ebenso wie die Subjektivität jedes Tanzes muss sich auch die Subjektivität im Umgang mit seinen Spuren im Dokument, ja eigentlich noch viel eher ALS Dokument widerspiegeln.

Man könnte hier vielleicht eine erste Unterscheidung zwischen Mediathek, Archiv und Museum andenken, je nachdem, wie sehr sie sich über den auratischen Charakter des Kunstobjekts, den systematischen der Wissensgliederung oder den ikonischen, metonymischen Charakter ihrer Objekte definieren (Tanzschuhe, Programmzettel, Regiebuch ...).

Diese drei Hebelpunkte jedenfalls – der analytische, der deskriptive und der sinnliche – müssen sich auf die eine oder andere Weise zusammentun, um das nachzubilden, was einmal (in Anlehnung an die Soziologie) die „umfassende tänzerische Tatsache, das umfassende tänzerische Geschehen“ gewesen ist. Denn es ist genau dieses umfassende tänzerische Geschehen in all seiner Komplexität, welches allein den Tanz enthält.

Die Frage, auf welcher Grundlage welche Wesensanteile und welche phänomenologischen Qualitäten des Tanzes überhaupt in seine Bewahrung, in seine Dokumentierung und in seine Überlieferung investiert werden, hat ebenso sehr wie mit der reinen Erscheinung, mit der Vorstellung zu tun, welche wir vom Tanz haben, d. h. mit der Definition, die wir oder eine spezifische Zeit dem Tanz zuweisen.

Wenn es stimmt, dass die Archivierung des Tanzes in besonders engem Austausch und in einer Art Ergänzungsverhältnis zum künstlerischen Tun des Tanzes steht, dann wäre die spezifische Seinsform, welche eine bestimmte Rede, ein bestimmtes Wahrnehmen, ein bestimmtes Bewahren erfordert, vielleicht gerade über den Umgang mit den Spuren des Tanzes und mit der Form von Wissen zu umschreiben, welches sich selbst immer wieder ins Offene entlässt. Ebenso wie Roger Lannes in dem eingangs angeführten Aufsatz formulierte: „Der Tänzer entreißt seinem Körper von Sekunde zu Sekunde einen neuen.“

 

 

Schlussbemerkung

Diese vielschichtige Komplexität, welche Tanz und den Umgang mit ihm kennzeichnet - zwischen dem Tanzen und dem Sprechen über Tanz, zwischen dem Wahrnehmen und dem Interpretieren von Bewegung - möchte ich abschließend in Form eines leicht abgewandelten Zitats zusammenfassen. Es stammt eigentlich von Gustave Flaubert und wird von Louis Séchan in einem Aufsatz zum Gedenken an Isadora Duncans Tod 1927 verwendet. Séchan war ein großer Bewunderer von Duncans Kunst und er sagt: „Wie Staub ward mein Fühlen und Denken von Euren Schritten emporgewirbelt.“[4] [Flaubert nach Séchan 1930: 317]

Es ist vielleicht eine der schönsten Umschreibungen für das spezifische Erleben, welches im Tanz möglich ist. Ob es dabei um den modrigen Staub des Archivs geht oder vielmehr um den Goldstaub der Erkenntnis, muss jeder für sich entscheiden ...

 

 

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http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-25420

 


Dieser Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages im Rahmen der Reihe „Archiv – Bewahrung – Wissen. Das Phänomen und die Spur“. Essen: PACT Zollverein, 6. Mai 2006.

[1] „véritable encyclopédie nationale sonore des parler, patois et vieux chants de France.“ [Dévigne 1935: 13]
[2] „imprimerie des sons, qui fixe plus profondément que le plomb inerte les nuances subtiles de la sensibilité humaine.“ [Dévigne 1935: 14]
[3] So etwa in den Richtlinien International Standard Archival Description (ISAD-g) des International Council on Archives.
[4] „Mon coeur, comme de la poussière, se soulevait derrière vos pas!“

 

Literatur

Baxmann, Inge. "Der Körper als Gedächtnisort". In: Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne. Inge Baxmann und Franz Anton Cramer (Hg.). München 2005: 15 – 35 (= Wissenskulturen im Umbruch Bd. 1).
Baxmann, Inge (Hg.) Körperwissen als Kulturgeschichte. Die Archives Internationales de la Danse 1931 bis 1952. München 2008 (= Wissenskulturen im Umbruch Bd. 2).
Dévigne, Roger. "Le musée de la parole et du geste". In: Le musée de la parole et du geste. Université de Paris, Institut de Phonétique (Hg.). Paris (1935): 1 – 14.
Kleist, Heinrich von. "Über das Marionettentheater". In: Der Zweikampf. Die heilige Cäcilie. Sämtliche Anekdoten. Über das Marionettentheater und andere Prosa. Heinrich von Kleist. Stuttgart 1984: 84 – 92.
Lannes, Roger. "Poésie de la Danse“ [Poesie des Tanzes]. In: Revue Musicale. Nr. 182/ März 1938: 191 – 200.
Plessner, Helmuth. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin 1974.
Sebillotte, Laurent. "Développer la culture chorégraphique: un enjeu majeur du Centre national de la danse". In: CND, Datenbank „Archives / Textes et Articles“. o. P. 2003 (eingesehen im März 2006; aus urheberrechtlichen Gründen aus dem Netz genommen im April 2006).
Séchan, Louis. La danse grecque antique. Paris 1930.
Stamer, Peter. "Umkehrungen. Anmerkungen zur Differenz von Tanz und Diskurs". In: Tanzjournal Nr. 2 (März) / 2004: 13 – 16.